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Mai 2006
Robert Mießner
für satt.org


TV Smith:
Misinformation Overload

Goldene Zeiten 2006

Cover
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Gitarre im
Waffenverzeichnis

TV Smith
auf Deutschlandtour


TV Smith

TV Smith

TV (Tim) Smith spielt Punk Rock. Dies vorab. Allerdings nicht den zum modischen Zitat verkümmerten, der MTV den Anschein von Subversivität verleiht und in den Feuilletonspalten ein Dasein als bewunderter Exot fristet. Sondern Punk Rock im Sinne von Aufklärung und Rebellion, im Wissen, dass Politik und Privatsphäre voneinander nicht zu trennen, nur zwei Begriffe für den Sachverhalt sind, den Bob Dylan (verspäteter Glückwunsch zum 65. Geburtstag!) mit World Gone Wrong umschrieben hat. Neben Johnny Rotten und Joe Strummer sei TV Smith der belesenste der Generation 1977 gewesen, hat Nikki Sudden einmal festgestellt. Und ihn zum Poet Laureate einer ganzen Schule gekürt. Es darf vermutet werden, dass TV Smith gerührt gewesen ist. Wir freuen uns, ihn aus Anlass seiner heute beginnenden kurzen Deutschlandtour mit neuer Band, unter ihnen Tote Hosen-Drummer Vom Ritchie, porträtieren zu können. Anfang des Jahres, er ist oft in Deutschland, konnte sich satt.org mit dem Vegetarier und ökonomischen Überlebenskünstler in Berlin treffen. Zu einem Gespräch, das zu großen Teilen auf Deutsch stattfand – er hat es sich in den letzten Jahren selber beigebracht.

Verklärte Rückblicke in die Vergangenheit stehen normalerweise nicht sonderlich weit oben auf seiner Prioritätenliste. Aber wann sitzt uns schon mal jemand gegenüber, der 1976 in London The Damned, The Buzzcocks und die Sex Pistols erlebt hat? Im Sommer des Jahres war TV Smith, Jahrgang 1956 und in Devon, im Südwesten Englands großgeworden, kurzerhand in die Hauptstadt gezogen. Der heißeste Sommer seit langem soll es gewesen sein, erinnert sich Jon Savage, Autor von England’s Dreaming: „In England verändert Hitze alles.“ TV Smith stimmt zu: „Es kam einer Befreiung gleich. Jahrelang hatte es im Radio nur die ewig gleichen Bands mit ihren ewig langen Schlagzeug- und Gitarrensoli gegeben. Abgehoben und ohne irgendeinen Bezug zu meiner, unserer Realität. Die Sex Pistols dagegen – sie waren in unserem Alter, sangen über unsere Probleme. In den oft völlig unterschätzten Texten Johnny Rottens. Punk hat den Rock zurück auf den Boden der Tatsachen gestellt.“ Sieht er Punk als eine Art elektrische Folk Music? Charlie Harper von den UK Subs hatte diese Hoffnung. „Wenn ich unbedingt in eine Schublade gesteckt werden soll, dann meinetwegen in diese. An sich ist es mir nicht wichtig, es ist, was es ist. Charlie Harpers Anspruch war allerdings so abwegig nicht. Vor den UK Subs hat er selber Folk und Blues in den Pubs gespielt.


Diskografie
The Adverts
Crossing The Red Sea With The Adverts (1978)
Cast Of Thousands (1979)
The Peel Sessions EP (1987)
Live at the Roxy Club (1990)

TV Smith’s Explorers
Last Words Of The Great Explorer (1981)

T.V. Smith's Cheap
RIP … Everything Must Go (1996)

TV Smith
Channel 5 (1983)
March of the Giants (1992)
Immortal Rich (1994)
Generation Y (1998)
Useless - The Very Best Of TV Smith (2001)
Not a Bad Day (2003)
Misinformation Overload (2006)
On Tour
31.05.06 Erfurt - Engelsburg
01.06.06 Neukirch - Jugendhaus Neukirch
02.06.06 Berlin - Wild At Heart
03.06.06 Cottbus - Glad House
04.06.06 Leipzig - Conne Island
05.06.06 Lichtenfels - Paunchy Cat
07.06.06 Stuttgart - 1210
08.06.06 Wiesbaden - Schlachthof
10.06.06 München - Feierwerk
16.06.06 Bamberg / Reckendorf - Stolbinger Keller Solokonzert
17.06.06 Dresden - Brn Festival Solokonzert
18.06.06 Chemnitz - Subway To Peter Solokonzert
21.06.06 Aschaffenburg - Tsukuhara Festival + Garden Gang
22.06.06 Dachau - Puch Open Air + Garden Gang
16.09.06 Essen - Sound Of The Suburbs Festival Solokonzert
17.09.06 Essen - Anyway - Earthbound Germany 2006

Von dem, was er 1976 in London gesehen hat, ist TV Smith so infiziert, dass er selber Gleichgesinnte um sich schart und, gemeinsam mit seiner zukünftigen Ehefrau Gaye Advert am Bass, die Adverts gründet. Für einen kurzen Moment sind die Arbeitsbedingungen geradezu ideal: „Zwischen unserem ersten Auftritt und unserem ersten Plattenvertrag lagen gerade einmal acht Wochen. Jede Plattenfirma wollte eine ’eigene’ Punkband haben, und wir sind bei Stiff Records gelandet.“ Das Londoner Label, selber eher von Enthusiasten denn von Geschäftsleuten geleitet, bringt 1977 die erste Single der Band heraus. One Chord Wonders verweist ironisch auf die Drei-Akkorde-Ästhetik der Zeit: „The Damned can play three chords, the Adverts can play one – hear all four at …“, so bringt es eine gemeinsame Konzertannonce auf den Punkt. Ein Jahr später darauf können die Adverts glücklicherweise mehr. Crossing The Red Sea With The Adverts erscheint auf UK Bright, und mit dem Debüt die Single Gary Gilmore’s Eyes. Die groteske Geschichte über einen Blinden, dem die Augen des 1977 in Utah hingerichteten Raubmörders transplantiert werden, schafft es in die britischen Top 20. Weniger gut meint es das Schicksal mit dem Nachfolgealbum Cast Of Thousands. Eine Platte, deren Cover den ersten Brief des Johannes zitiert: „Liebt nicht die Welt noch was in der Welt ist.“ Zuviel für das Publikum. TV Smith hingegen: „Uns war nicht klar, dass Punk Rock bedeutete, die selbe Platte wieder und wieder aufzunehmen.

Nach nur zwei Alben lösen sich die Adverts auf – die achtziger Jahre beginnen. Und für TV Smith das, was er rückblickend als den Tiefpunkt seiner Laufbahn bezeichnen wird. Er veröffentlicht noch zwei Soloalben. Trotz guter Kritiken wird das Verhältnis zu den Plattenfirmen schwieriger und schwieriger: „Ich habe zu Hause gesessen, an die 100 Songs geschrieben und sie auf Demokassetten aufgenommen. War Sozialhilfeempfänger. 1984 habe ich dann Cheap gegründet. Der Name war eine Antwort auf meine damalige Situation. Wir sind mit zwei Autos kreuz und quer durch England gefahren und manchmal vor nicht mehr als 20 bis 30 Leuten aufgetreten. Aber so habe ich langsam wieder die Freude an der Musik wiedergefunden. Ich würde immer noch sowohl für 5 wie für 500 Zuhörer spielen. Selbstverständlich.

TV Smith spielt sich zurück in die Öffentlichkeit. Dabei hilft ein eher zufälliger Kunstgriff: „Es war Attila the Stockbrocker, der mich ermutigt hat, akustische Solokonzerte zu geben. Das war aus zwei Gründen sehr wichtig. Alleine, nur mit der Gitarre auf der Bühne zu stehen, heißt zum Kern der Musik zurückzukehren. Und, ganz praktisch, es verringert die Kosten der Konzerte erheblich.“ 1992 erscheint March Of The Giants. Er bezeichnet die leider vergriffene Platte als sein erstes richtiges Soloalbum. Sechs weitere sind bis jetzt erschienen, darunter die Werkschau Useless mit den Toten Hosen als Backingband. Auf dem Soundtrack zu Wim Wenders Land Of Plenty ist er mit Expensive Being Poor vertreten. Neben David Bowie und Leonard Cohen und von Wenders persönlich ausgewählt. In diesem Jahr dann Misinformation Overload auf dem befreundeten Label Goldene Zeiten Records: „Der Titel ist bewusst gewählt. Fernsehen, Radio, Internet – was der Information dienen soll, ist letzten Endes Propaganda. Was wahr ist in diesem Leben, findest du nicht in den Medien. Ich lese nur noch gelegentlich Tageszeitungen, den Guardian oder Independent, stehe aber dem, was uns täglich vermittelt werden soll, sehr skeptisch gegenüber. Ich reagiere lieber mit meiner Gitarre, meiner Waffe.“ Das Instrument als Waffe? „Ja, Woody Guthrie. Ganz richtig.“ Er nickt und lacht.