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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




Juli 2006
Christina Mohr
für satt.org

Bücherschau


Cover
Tom Reynolds, I Hate Myself and Want to Die. Die 52 deprimierendsten Songs aller Zeiten
Übersetzt von Ilja Braun
Schwarzkopf & Schwarzkopf
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Was haben Songs wie „Tell Laura I Love Her“, „In the Year 2525“ und „Prayers for Rain“ gemeinsam? Genau, sie sind unglaublich deprimierend – wobei Autor Tom Reynolds nicht unbedingt „schlecht“ oder „traurig“ meint, sondern deprimierend, runterziehend, suizidale Tendenzen verbreitend. Reynolds kennt sich aus, er ist selbst Musiker, und kann deshalb mit Fakten aufwarten, und nicht nur subjektiv-gefühlsmäßige Tiraden verbreiten. Er schlüsselt auf, wer sich genüßlich in Moll-Akkorden wälzt, bis die geneigten Hörer kollektiv aus dem Fenster springen wollen, er seziert weinerliche Texte im Kapitel „Ich versuche, tiefsinnig und rührend zu sein, aber da bin ich schlecht drin“ oder führt Musiker vor, die sich zuallererst darin gefallen, ein möglichst großes Publikum bei ihrem öffentlich zur Schau gestellten Leiden zu deprimieren.
Für Heulbojen wie Mariah Carey, Whitney Houston und Celine Dion hat Reynolds den Begriff „HTW“ erfunden: HTW bedeutet „Hirnerweichender Tonart-Wechsel“. Ihr habt alle im Ohr, wie Mariah Carey über 48 Oktaven „Can't liiiiiiiiiiiive, if living is without you“ schmettert? Dann wißt Ihr, was gemeint ist. Falls nicht, hier eine Textprobe aus dem Absatz, der sich Celine Dion und ihrer Interpretation von Eric Carmens „All by Myself“ widmet: „Celines HTW hingegen rufen beim Zuhörer Schleudertraumata hervor, während sie zugleich der Künstlerin Gelegenheit verschaffen zu demonstrieren, daß sie gepanzerte Fahrzeuge aus fünf Kilometern Abstand in Stücke zerschellen lassen kann.“ Und damit das Lesen nicht allzu viele Lacher hervorruft, ist das Buch mit vielen schönen – sorry, deprimierenden – Zeichnungen von Stacey Earley illustriert.


Cover
Jim DeRogatis, Hall of Shame. Die größten Irrtümer in der Geschichte des Rock'n'Roll
Rogner & Bernhard
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Jim DeRogatis und seine Frau Carmel Carillo schrieben für den Rolling Stone und fanden die Tendenz der Zeitschrift, immer allgemeingültigere, immer ewigere, immer dinosaurierhaftere Listen der „100 besten“ oder gar „500 besten LPs aller Zeiten“ zu veröffentlichen, irgendwann so hassenswert, daß sie unter dem Motto „Kill Your Idols“ junge Rockkritiker baten, ein paar Helden vom Thron zu stürzen. In dem bei Rogner & Bernhard erschienenen Buch Hall of Shame sind nun die Demontagen von vermeintlichen Klassikeralben der Beach Boys, Beatles, Who und vielen anderen nachzulesen – das macht großen Spaß, so lange es um Platten geht, die man selber haßt, und tut weh, wenn die eigenen Lieblinge zerschmettert werden. So hatte die Rezensentin großen Spaß an der Verunglimpfung beziehungsweise aufklärerischen Neubetrachtung schmieriger Machwerke wie dem religiös verbrämten „Joshua Tree“ von U2, mit dem sich ein gewisser Bono zum Nachfolger Jesu Christi auf Erden stilisieren wollte; ebenso unverdient zu Ruhm und Ehren kamen 1995 die Smashing Pumpkins mit ihrem überambitionierten Doppelalbum „Mellon Collie and Infinite Sadness“, das von Rick Reger nach Strich und Faden auseinandergenommen und demaskiert wird. Schmerzhaft hingegen sind die Essays zu Nirvanas Nevermind und Never mind the Sex Pistols von ebendiesen, empfand man doch gerade diese Platten für die eigene Sozialisation ungeheuer bedeutend und wegweisend.
Aber das ist ja das Schöne an diesem Buch: die Autoren machen fröhlich lästernd deutlich, daß ein wie auch immer definierter „Kanon“ im Pop nichts zu suchen hat. Schon gar nicht irgendwelche Listen von graubärtigen, versteinerten Schlaumeiern der Rolling-Stone-Redaktion. Egal, ob in der Popmusik oder der Literatur: der Begriff des Klassikers wird viel zu inflationär verwendet und wird dadurch schlicht überflüssig. Daß die Autoren sich selbst und ihr Buch nicht allzu ernst nehmen, zeigt sich im Anhang: so haben alle Schreiber und Schreiberinnen ihre – ja genau – zehn Lieblingsalben aufgelistet.


Cover
Henry Keazor, Thorsten Wübbena, Video Thrills the Radio Star. Musikvideos: Geschichte, Themen, Analysen
Transcript
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Daß das Musikvideo eine eigenständige Kunstform ist, braucht man heutzutage nicht mehr ausdrücklich zu erwähnen – oder doch? Der Videoclip beziehungsweise die Plattformen, auf denen einstmals Musikvideos gezeigt wurden, verschwinden zunehmend und gäbe es keine Webseiten wie youtube.com, myspace.com oder clipland.com, blieben viele Videos der Öffentlichkeit vorenthalten. Die einstmaligen Musik-TV-Sender zeigen überwiegend billige Shows, Videoclips zu aktuellen Hits werden nur noch in den Showpausen oder zu unpopulären Zeiten ausgestrahlt. Viele Künstler lassen sich dennoch nicht abschrecken und stellen Videos auf ihren Homepages zur Verfügung oder bringen sie auf ihren CDs unter, aber die große Zeit des Musikvideos scheint vorüber. Es mutet seltsam an, daß ein relativ junges Medium, beziehungsweise eine junge Kunstform so rasch vom Aussterben bedroht wird. Aber wie sich die Dinge auch entwickeln mögen, mittlerweile existiert ein riesiger Fundus von Clips aus den letzten 25 Jahren, der die wissenschaftliche Betrachtung rechtfertigt. Bereits im Herbst 2005 erschien Video Thrills the Video Star im Transcript-Verlag. Dieses fast 500 Seiten starke Werk ist nicht nur für diejenigen gedacht, die mit dem Gedanken spielen, im Fach „Musikvideo“ zu promovieren. Der Kunsthistoriker Henry Keazor und der Kulturwissenschaftler Thorsten Wübbena haben ein Standardwerk verfaßt, das wissenschaftliche Arbeit und popkulturelles Lexikon in einem ist. Die Autoren liefern einen historischen Abriß über die Anfänge des Musikvideos und analysieren in den darauffolgenden elf Kapiteln ausgewählte Videos. Dabei sind die Autoren sehr aktuell (sie besprechen Destiny's Child, Franz Ferdinand und The Rasmus), sie behandeln aber auch mittlerweile zu Klassikern avancierte Clips wie Madonnas „Material Girl“ und Michael Jacksons „Thriller“. Keazor und Wübbena arbeiten sehr detailgenau, die Fußnoten zu jedem Kapitel sind umfassend und lassen keine Fragen offen. Zu fast allen Songs finden sich die kompletten Lyrics, damit man die Regieführung in Korrespondenz zum Text verfolgen kann. Die Kapitel „Strike a Pose: Wechselwirkungen zwischen Spielfilm und Videoclips“ und „Can't Stop: Beziehungen zwischen Videoclips und Kunst“ sind wahre Lesegenüsse und nicht nur für ausgewiesene Experten lesbar. So werden alle kunstgeschichtlichen Bezüge erklärt, die sich im Video zu Franz Ferdinands „Take me Out“ von Jonas Odell herausfiltern lassen. Die umfassende Analyse zu „Scream“ (Michael und Janet Jackson), gedreht von Mark Romanek, liefert nicht nur technische Fakten, sondern gleichzeitig eine bewegende psychoanalytische Auslegung der Jackson'schen Familiengeschichte in Bezug auf das musikalische Werk. Daß Keazor und Wübbena über den rein filmischen Aspekt hinausgehen und jeden Clip, jeden Song in ein popkulturelles Umfeld einbetten, ist der Vorzug dieser Arbeit und macht Video Thrills … zu einem „schlauen Buch“, nicht nur zum Thema Musikvideo.
Porträts von Videoregisseuren wie Michel Gondry, Jonas Akerlund und viele Videostills runden dieses beeindruckende Werk ab.


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Klaus Theweleit, absolute Sigmund Freud Songbook
Orange Press
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Rechtzeitig zum Freud-Jahr erscheint in der absolute-Reihe von Orange Press das Sigmund Freud Songbook von Klaus Theweleit. Der Männerphantasien-Autor beweist Freud'schen Einfluß in Songtexten von Madonna, den Beatles und Green Day und erläutert seine Thesen in drei längeren Essays.
Freud selbst fand kaum Zugang zu Musik, er diagnostizierte einen zu rationalistischen oder analytischen Ansatz bei sich, der ihm verbot, sich der Musik hinzugeben. Doch laut Theweleit agieren Freud und Pop auf demselben Feld, dem Feld der Gefühle, das kaum rational zu fassen sei. Die Auswahl der behandelten Songs überrascht, Theweleit spannt den Bogen von Abba über Rosenstolz bis zu Eins Zwo, den Stray Cats und den Ramones.


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Testcard 15, The Medium is the Mess. Musik und Medien
(Hg. Martin Büsser, Roger Behrens, Johannes Ullmeier)
Ventil Verlag
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Die neue Testcard-Ausgabe widmet sich dem Themenkomplex „Kulturvermittlung in den Medien“, im Besonderen der Berichterstattung über Popmusik. Die Textinhalte sind heterogen wie nie, was allerdings nahe liegt, wenn „die Medien“ im Mittelpunkt stehen.
So schreibt Martin Büsser über unabhängige Plattenläden und Mailorder, Peter Kaemmerer sucht nach neuen Independent-Strategien nach den neunziger Jahren, dem „Jahrzehnt der Apathie„. Er entdeckt neue unabhängige Strömungen unter anderem bei Four Tet und Animal Collective und dem Avantgarde-Noise-Label Psych-o-Path, das von Brooklyn, New York City aus agiert. Auch das Chicagoer Trio Pit er Pat repräsentiert für Kaemmerer den Geist des DIY, auch wenn sich diese Szene zuweilen nach den „guten alten Zeiten“ zu sehnen scheint (übersichtlichere Szene, Vinyl statt MP3, etc.). Doch unabhängige und widerständige Strukturen entstehen überall, und so gibt es erfreulicherweise doch so einige gallische Dörfer inmitten des Mainstreams und Klingeltonterrors. Unter der Überschrift „Wir sind Papst und wollen keinen“ untersuchen Christoph Jacke und Sebastian Jünger die Kritikindustrie: welchen Sinn erfüllen Rezensionen und Kritiken heute? Sind Musikzeitschriften nur verlängerte Promoarme der Musikindustrie? Jens Thomas untersucht im Kapitel „Die Smarten zwischen den Harten“ das Geschlechterverhältnis in den Redaktionen der relevanten Blätter, die Ergebnisse sind erstaunlich – oder gerade nicht, je nach dem, wie idealistisch man ist. Testcard 15 ist wie gewohnt randvoll mit wichtigen Debattenbeiträgen, lesbar und klug.
Abgeschlossen wird der Band wie üblich durch eine riesige Menge Plattenrezensionen: da Testcard halbjährlich erscheint, bekommen die Kritiken ein ganz anderes Gewicht, den Platten wird eine längere Rezeption und „Haltbarkeit“ verliehen, was dem Thema dieser Testcard-Ausgabe eine weitere Dimension verleiht.