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Juli 2006
Christina Mohr
für satt.org


The Divine Comedy:
Victory for the Comic Muse

Parlophone, EMI 2006

Cover
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Scritti Politti:
White Bread, Black Beer

Rough Trade 2006

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The Divine Comedy:
Victory for the Comic Muse

Scritti Politti:
White Bread, Black Beer

Rebellische Dandys

Was haben diese beiden Alben gemeinsam? Ist es das Unzeitgemäße, die Bekenntnisse zu Literatur, Politik und schönen Künsten oder daß die jeweilige Band – mal abgesehen von Studio- und Livemitstreitern - aus exakt einer Person besteht: Hinter The Divine Comedy steckt Neil Hannon, Green Gartside ist Scritti Politti. Zwei Merkmale treffen jedenfalls auf beide Platten zu: Eleganz und Schönheit. Dinge, die im Pop oft nebensächlich sind …

Als das musikalische Wunderkind Neil Hannon im nordirischen Enniskill mit knapp 18 Jahren eine Band gründet, wählen er und seine Mitstreiter wie selbstverständlich Dantes Göttliche Komödie als namengebendes Werk. Damit wird der Referenzhorizont schon frühzeitig und weitläufig definiert, kein ordinärer Teeniekram strebt Neil Hannon vor, sondern das Ideal intellektuellen Pops, belesen, exklusiv und sophisticated, aber eben auch P-O-P. Hannons Baritonstimme, die Liebe zu kammermusikalischer Instrumentierung und Texte, die eher Literatur als schnöde „Lyrics“ sind, heben The Divine Comedy aus dem gewöhnlichen Poprahmen heraus, Eleganz paßt schlecht zu MTV und Co. Doch dort wollen The Divine Comedy auch gar nicht hin, Hannon liebt die große Geste, den pompösen Auftritt, er ist beeinflußt von Scott Walker, Jacques Brèl und Burt Bacharach und gehört eher auf die Bühne eines in die Jahre gekommenen Varietés. Trotz hörbarer Einflüsse können The Divine Comedy immer nur an sich selbst gemessen werden. Es gibt verwandte Dandys und Bohemians im Pop, allen voran Jarvis Cocker, aber niemand klingt wie Hannon.
Seit den Anfangstagen von The Divine Comedy sind mittlerweile 16 Jahre ins Land gegangen und Neil Hannon ist noch immer auf der Suche nach dem ganz großen, ewiggültigen Popentwurf – dieses Suchen und Streben hat ihn sehr weit geführt, zehn Alben hat er bereits unter dem Namen The Divine Comedy veröffentlicht, dazu kommen jede Menge Kompositionen für andere Künstler wie zum Beispiel Charlotte Birkin.
Nach dem letzten gefeierten Divine-Comedy-Werk von 2004, „Absent Friends„, wurde vermutet, Neil Hannon würde sich zurückziehen. Er experimentierte mit verschiedenen Optionen und Projekten, von denen er keins wirklich weiterverfolgte – und beinahe heimlich entstand ein neues Album, das Mr. Hannon selbstredend eigenhändig produzierte, um nicht von der Arbeit anderer enttäuscht zu werden.
Bei allem Anspruch an Produktion und Komposition, bei allem Pomp und Drama ist „Victory“ nicht etwa in einer Linie mit Scott Walkers düsterem Monolithen „The Drift“ zu sehen – Hannon klingt ungewöhnlich locker, übermütig zuweilen, detailverliebt und zu Landpartien aufgelegt. Das Album nimmt mit „To Die A Virgin“ einen beschwingten Anfang, mit seinem schmissigem Rhythmus und fröhlich-überzogenem Sha-la-la-Backgroundgesang kann man sich diesen Song ohne Weiteres als Radiohit vorstellen. „Mother Dear“ beginnt mit leichtfüßigem Banjopicking, „Diva Lady“ nimmt, untermalt von flockigen Percussions die High Society aufs Korn: „She's a diva lady / she's a hopeless case / she needs extra make-up / for her extra face„. Auch Song Nummer vier hat eine weibliche Hauptfigur: „A Lady of a Certain Age“ ist ein in Spinettklänge gebettetes, Jacques-Brèl-inspiriertes Chanson, das nach einem melancholisch verregneten Tag im Paris der siebziger Jahre klingt. Besagtes Spinett hört man im folgenden Stück wieder, „The Light of the Day„, einer süß-traurigen Ballade, die den Hörer seufzen läßt. Das sechste Stück „Threesome“ – sozusagen die Zentralachse des Albums – präsentiert anderthalb Minuten lang hüpfende Pianoklänge, danach geht's weiter mit der streicherunterlegten Coverversion „Party Fears Two„, im Original vom Glampopduo The Associates. In „Arthur C. Clarke's Mysterious World“ erzählt Mr. Hannon von seiner Lieblings-TV-Show aus Kindertagen. „The Plough“ klingt wie ein vertonter Dickens-Roman, heiterer wird es bei „Count Grassi's Passage Over Piedmont“ und mit „Snowball in Negative“ findet diese großartige Platte ihren würdigen, wenn auch kühlen und nachdenklichen Schluß.
Bleibt nur zu hoffen, daß Hannon mit „Victory for the Comic Muse“ nicht beabsichtigt, einen Zyklus abzuschließen, der 1990 mit „Fanfare for the Comic Muse“ seinen Anfang nahm.


Discografie The Divine Comedy
1990 Fanfare for the Comic Muse
1993 Liberation
1994 Promenade
1996 Casanova
1997 A Short Album About Love
1998 Fin de Siècle
1999 A Secret History … The Best Of
2001 Regeneration
2004 Absent Friends
2006 Victory for the Comic Muse

The Divine Comedy live
5.8.06, Haldern Festival

Discografie Scritti Politti
1982 Songs to Remember
1985 Cupid & Psyche '85
1988 Provision
1999 Anhomie & Bonhomie
(2005 Early)
2006 White Bread, Black Beer

Scritti Polittis Geschichte beginnt viel früher, während der Punkrockhochphase: 1977 gründete der Waliser Paul Julian Strohmeyer a.k.a. Green Gartside in London sein Projekt Scritti Politti. Der Bandname geht auf Schriften des marxistischen Theoretikers Antonio Gramsci zurück, Gartsides Mission ist die Verbindung von Pop und Politik. Die erste Single von 1977, „Skank Bloc Bologna“ verweist auf dreierlei: der „skank“ ist der damals bei jungen Punkrockern so beliebte Reggaerhythmus, „bloc“ bezieht sich auf Gramscis Konzept des „historischen Blocks“ und „Bologna“ schließlich steht für den 77'er Aufstand „il Movimento“ in der italienischen Stadt, als der kommunistische Bürgermeister die Macht an eine Koalition aus Autonomen, Studenten und Radikalen aller Art verlor. Also kein leicht konsumierbarer und schon gar kein poptypischer Stoff, aber John Peel wird auf Scritti Politti aufmerksam, spielt die Single und die Band gewinnt rasch eine treue Gefolgschaft. Green Gartside liest Wittgenstein, Derrida und Deleuze, was sich in seinen eigenen Texten wiederspiegelt: so heißt es in einem Scritti-Politti-Song „I'm in Love With Jacques Derrida„. Aber Scritti Politti sollte kein verkopftes Intellektuellenprojekt für Poststrukturalisten sein, Green Gartside liebte schon immer Disco und Soul und vereinte all dies mit politisch motivierter Punkhaltung. Als 1982 das Album „Songs to Remember“ veröffentlicht wird, ist die Kritikerschar begeistert: endlich werden unvereinbar geglaubte Pole vereint, Intellekt und Begehren, Punk und Disco. Mit sanfter Stimme haucht Gartside Songs wie „The Sweetest Girl„, das zu den zauberhaftesten Singles der achtziger Jahre zählt. Nicht nur die schreibende Zunft war angetan von Scritti Polittis fragilem Soulentwurf: kein Geringerer als Miles Davis coverte seinen US-Hit „Perfect Way„.

Doch Green Gartside taugt nicht für die große Popkarriere: seine Laufbahn ist bestimmt durch Brüche und Zusammenbrüche, beispielsweise ist seine notorische Bühnenangst verantwortlich für eine 26-jährige Liveabstinenz. Und Gartside läßt die Dinge reifen: zwischen der zweiten und der dritten LP liegen 11 Jahre, zwischen „Anhomie & Bonhomie“ und dem aktuellen Werk immerhin nur sieben.

Doch „White Bread & Black Beer„, das erst fünfte Studioalbum des mittlerweile Fünfzigjährigen ist die lange Wartezeit wert. Gartsides noch immer junge, sanfte Stimme schwebt über den unaufdringlichen, eindrucksvollen Songs, die luzide scheinen, aber gehaltvoll sind wie das titelgebende dunkle Bier. Scritti Politti bringt die Beatles und die Beach Boys, Aztec Camera und Prefab Sprout, Soul, Funk und sogar ein paar Tupfer HipHop zusammen. Der ewige Zweifler Gartside scheute sich jahrelang, den von ihm so geliebten HipHop in seine Musik einzubauen, weil er die Kritik fürchtete, als Weißbrot (schon wieder der Titel …) des Räuberns in genuin schwarzer Musik angeklagt zu werden. Doch „E Eleventh Nuts„, der Song, in dem er am heftigsten mit HipHop und House flirtet, gerät keinesfalls anbiedernd, sondern lässig und souverän. Mit dem stilistisch völlig anders klingenden „Snow in Sun“ kommt er dem idealen Popsong ganz nah, wenn er ihn nicht gar gefunden hat. Balladen wie „Cooling“ und „Throw“ sind so zart und elegant wie englische Teerosen; in „After Six“ zieht nicht nur das Tempo ein wenig an, es erklingt sogar unerwartet eine bratzige Fuzzbox. Der Song „Petrococadollar“ ist alte Scritti-Politti-Schule: Gartside kritisiert die Profitgier sogenannter Industrienationen. Und im zart-bluesigen „Road to No Regrets“ bringt er gar Robbie Williams' „Road to Mandalay“ und „No Regrets“ zusammen (falls mit der Rezensentin an dieser Stelle die Interpretationspferde durchgegangen sein sollten, bitten wir dies zu entschuldigen). Der letzte Song, „Robin Hood“ klingt ausgelassen und fröhlich, als sei Gartside irgendwie befreit und erleichtert, daß ihm diese Platte so gut gelungen ist.

Und warum nun werden diese beiden Platten zusammen vorgestellt? Weil The Divine Comedy und Scritti Politti Musik für Menschen mit Herz und Hirn machen, weil ihre Platten kein Chartfutter sind, sondern zeitlose Perlen, die auch nach vielen Jahren noch etwas zu erzählen haben: eben wie Romane von Charles Dickens oder Gramscis Theorien.