Die im Folgenden vorgestellten Platten sind für ihre jeweiligen Urheber eher ungewöhnliche Veröffentlichungen. Techno-Ikone Jeff Mills musiziert mit einem Klassikorchester, Elektronik-Tausendsassa Matthew Herbert macht ein vordergründig liebliches Popalbum. Doch beide Künstler sind für ihre Experimentierfreudigkeit und die Liebe zur Grenzüberschreitung bekannt und dürfen deshalb so ziemlich alles ….
Herbert: Scale
Matthew Herbert ist ein musikalisches Wunderkind – in ihm wohnen so viele kreative Kobolde, daß er in hundert verschiedenen Erscheinungsformen auftritt. Er veröffentlichte Platten als Doctor Rockit, Wishmountain, Radio Boy, Transformer, und das sind nur einige seiner ungezählten Pseudonyme.
Er produzierte Roisin Murphys Soloalbum Ruby Blue, außerdem remixte er REM, Björk, John Cale und Serge Gainsbourg. Für sein letztjähriges Album Plat du Jour sammelte er Geräusche aus dem Themenbereich „Essen“: wie hört es sich an, wenn 300 Menschen gleichzeitig in einen Apfel beißen und wie klingt ein Brathähnchen? Klingt es überhaupt irgendwie? Er sampelte das Rascheln von Corn Flakes und brachte Alufolie zum Tanzen, aber im Vordergrund stand weniger die verspielte Anhäufung von Klängen, sondern die Bewußtmachung der Herkunft von Nahrung. Deshalb werden auch unbequeme Aspekte wie Massentierhaltung thematisiert - diese skurrile und gleichzeitig hochpolitische Platte gehörte zu den interessantesten Veröffentlichungen des Jahres 2005 und lohnt die Entdeckung noch immer. Für das neue Album Scale nennt sich Matthew nur noch Herbert – die Reduktion beziehungsweise Konzentration auf den einen, eigenen Namen ist nur folgerichtig. Auf Scale spielt Herberts Songwriting wieder die bedeutendste Rolle, herausgekommen sind 11 Pop-Kleinode, die im besten Sinne zeitlos sind. Der Sound ist leicht und dennoch opulent ausgestattet – ein Kammerorchester erklingt, Holzbläser, Waldhörner und Big-Band-Musiker werden mit viel Liebe zum Detail eingesetzt. House und Jazz, Disco und Musicalmelodien gehen Hand in Hand, an den Vocals wird Herbert von Dani Siciliano, Neil Thomas und Dave Okumu unterstützt.
Scale ist Party und Soundtrack zugleich. Song Nummer drei, Moving Like A Train verbindet Herberts Liebe zu Prince und Fünfzigerjahre-Orchestrierung, Down und Movie Star sind absolut loungekompatibel. Doch der Opener Something Isn't Right verweist darauf, daß man nicht alles, was man hier zu hören bekommt, auf die allzu leichte Schulter nehmen sollte …
Trotz der Burt-Bacharach- oder Gershwin-haften Leichtigkeit und der Ohrwurmqualitäten aller Songs ist Scale ein typisches Herbert-Produkt und deshalb versteht es sich beinahe von selbst, daß für die Aufnahmen ungewöhnliche Gegenstände und Sounds verwendet wurden (Särge, Benzinpumpen, ein Tornadobomber der Royal Airforce), die in Zwölfer-Gruppen aufgeteilt wurden – als Anspielung auf das westliche Skalensystem mit jeweils 12 Tönen. Die Skala, scale impliziert weitere Bedeutungen: den Maßstab, ein Medium zum Abmessen von Abständen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, den Kontrast zwischen persönlicher Befindlichkeit und dem Zustand der Welt und viele Deutungen mehr. Herbert wollte ein leichtes, poppiges Album machen, vordergründig ist ihm das gelungen – doch unterschwellig ist sie ebenso kritisch, nachdenklich und politisch geworden wie alles, was (Matthew) Herbert veröffentlicht.
Jeff Mills: Blue Potential
Jeff Mills gilt als einer der Pioniere des Techno: er stammt nicht nur aus Detroit, der Wiege des nordamerikanischen Techno, er gründete auch Ende der achtziger Jahre mit seinen Weggefährten Mike Banks und Robert Hood das Label Underground Resistance, um der neuen Musik eine Homebase zu geben. Mills war einer der ersten wirklich virtuosen Turntablists, der mit drei Plattenspielern, Effektgeräten, Drumcomputern und vielerlei Gerätschaften mehr die Crowd bei seinen Sets in seinen Bann zog – viele schauten ihm einfach nur zu, wie er die Platten nach Gebrauch hinter sich warf, keine Zeit zum ordentlichen Einpacken hatte. Dabei konnte (und kann!) man zu Mills' dunklem industrialgeprägten harten Techno, den er stets mit filigranen Spielereien ausschmückt, ohne weiteres ganze Wochenenden durchtanzen.
Mills ist nicht nur DJ, Performer und Produzent, seit den frühen Neunzigern arbeitet er eng mit dem Berliner Label Tresor zusammen. Blue Potential ist auch so etwas wie eine Jubiläumsgeschenk, schließlich können Mills und Tresor auf 15 gemeinsame Jahre zurückblicken: die erste Tresor-Records-Veröffentlichung war Mills' Projekt X-101. Als sich Mills dem Fritz-Lang-Klassiker Metropolis widmete und mit einer neu komponierten Filmmusik bedachte, entstand bei Tresor die Idee zur Zusammenarbeit mit einem klassischen Orchester. Bis zur Verwirklichung dieses ambitionierten Vorhabens ging einige Zeit ins Land, doch im Juli 1005 war es dann soweit: Jeff Mills und das Nationalorchester Montpellier (unter der Leitung des Dirigenten Alain Altinoglu) führen am beleuchteten Pont du Gard in Südfrankreich das „Blue Potential“-Konzert auf. Der französische Komponist Thomas Roussel hat 15 Mills-Tracks für das Orchester in Noten transkribiert, Mills unterstützt die 80 Musiker live mit Drummachine und Percussion und improvisiert dazu. Mills hatte Glück mit der Auswahl des Orchesters: die Musiker aus Montpellier hatten schon einmal bei einem Technoprojekt mitgewirkt und waren deshalb Blue Potential gegenüber sehr offen – keine Spur von hochnäsiger Ablehnung seitens der klassisch ausgebildeten jungen Musiker, die sich zum Teil selbst als Technofans bezeichnen.
Die Auswahl der Stücke ist ein Querschnitt durch Mills' Schaffen der letzten 15 Jahre, zu hören sind seine Hits The Bells und Sonic Destroyer, avangardistische Tracks wie Medium C und Auszüge aus seinem filmkompositorischen Werk. Die Zusammenführung von Techno und Klassik – also „E“- und „U“-Musik, sofern diese Unterscheidung überhaupt einen Sinn ergibt – funktioniert großartig. Skepsis ist durchaus angebracht, haben sich in den letzten Jahren häufig Hardrockbands wie Metallica durch die Unterstützung eines klassischen Orchesters eine „Aufwertung“ ihrer Musik erhofft. Die Ergebnisse solcher Kollaborationen waren häufig von Pomp, Bombast und Gigantomanie geprägt, von Donnerhall und Walhalla-Assoziationen. Mills' Technotracks hingegen funktionieren ganz wunderbar und elegant mit Violinen und Kesselpauken, den Groove fügt er elektronisch hinzu. Die klassische Instrumentierung verleiht den für den Dancefloor konzipierten Tracks zusätzliche Tiefe und Gewicht. Auf der DVD kann man Mills und dem Komponisten Roussel im Studio dabei über die Schulter schauen, wie in faszinierender Kleinarbeit elektronische Loops in „echte“ Töne überführt werden. Daß elektronische Musik und Klassik keine unvereinbaren Gegensätze sind, sondern im Gegenteil erstaunlich viele Gemeinsamkeiten aufweisen, zeigt Blue Potential auf beeindruckende Weise.