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Anwalt sollte er werden, eventuell Journalist. Feuerwehrmann oder Opernsänger lauteten die Wünsche des Kindes Ralph Christian Möbius. Zwanzig Jahre später, aus Ralph war nach Karl Phillip Moritz Rio Reiser geworden, stellte er sich in einem ironischen Steckbrief vor als “Komponist, Gitarrist, Pianist, Sänger, Schauspieler, Drogen- und Bibelforscher“. Rio Reiser war alles dies und hat dabei doch stets Wert auf die schlichte Berufsbezeichnung “Volkssänger“ gelegt. Er konnte, wie man nicht mehr sagt, dem Volk buchstäblich aufs Maul schauen, die Sprache derer verstehen und sprechen, die keine Stimme hatten und haben. Bei einem frühen Treffen mit Tangerine Dreams Edgar Froese bestand er darauf, Musik für Millionen machen zu wollen, während Froese den Massengeschmack in Bausch und Bogen abtat. Gesellschaft im Wortsinn bedeutete Reiser viel, wenn nicht alles. Staat erheblich weniger, wenn nicht nichts. Er wurde PDS-Mitglied, als dies einem öffentlichen Selbstmord gleichkam, und war schwul, als dies noch keine Symphatiepunkte brachte. Seine Biographie kondensiert deutsche Nachkriegsgeschichte in sechsundvierzig schnell und intensiv gelebten Jahren. Berlin ist Trümmerstadt, als Rio Reiser am 09. Januar 1950 im Tiergarten das Licht der Welt erblickt. Die Möbel im Elternhaus tragen Brandspuren der Bombardements, und nicht wenige haben in den Wirren der Befreiung ihren Besitzer gewechselt. Aus der amerikanischen Botschaft in den Haushalt Möbius – wo ein Großvater vor dem Krieg Tuba in der Neuköllner Neuen Welt gespielt hat und Rios Vater, von Beruf Verpackungsingenieur, mit Ruinenfotos das nötige Geld verdient. Nicht lange, denn Koreakrieg und Marshall-Plan sind die Säulen des Wirtschaftswunders, das die Familie nach Süddeutschland führen wird. Wo der Vater seinem erlernten Beruf nachgehen kann und Rio das Gymnasium besucht. Er bleibt, in dieser Kombination, sitzen und wird Klassensprecher. Die älteren Brüder hören Jazz, sehen Fellini und Godard und beziehen bald Zeitschriften wie Peking Rundschau und China heute. Es ist die Zeit, in der Sendungen wie diese geöffnet ihre Empfänger erreichen und die Veranstalter der ersten Nürnberger Vietnam-Demonstration unauffällige Begleitung auf ihrem Nachhauseweg haben. Rio entdeckt Theater, Kino und Musik für sich, seine Eltern verstehen und unterstützen ihn mit stillem Stolz. Die wenig geliebte Schule verlässt er, um eine Fotografenlehre anzutreten. Die aufgegeben wird, um sich am Offenbacher Konservatorium einzuschreiben. Während die Brüder Gert und Peter bereits in Berlin sitzen und an der ersten Rock - Oper der Geschichte arbeiten, lernt der jüngste Möbius Cello nach Lennon und McCartneys Yesterday. Berlin ist Frontstadt, als Rio Reiser am 23. März 1967 in Tempelhof landet. Noch wenige Wochen, und Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras wird Benno Ohnesorg, Student und Demonstrant, erschießen, damit ein persischer Marionettenherrscher ungestört die Deutsche Oper besuchen darf. Es beginnt, was Reiser rückblickend den “Kalten Bürgerkrieg“ nennen wird. Dass er mit seinen Songs seinen Platz auf der Barrikade einnehmen wird, kann er da noch nicht wissen. Doch es gibt frühe Wegmarken dorthin. Seine Brüder und Kollegen leben in einer Wohngemeinschaft. Als sie einen Vertrag mit dem Forum-Theater unterzeichnen, das die gemeinsame Oper auf die Bühne bringen soll, sitzt ein junger Anwalt an der Seite ihres Geschäftspartners. Sein Name: Otto Schily. Geld erspielen sich die drei mit ihrem Musical nicht, aber einen ersten Ruf. Reiser arbeitet als Theatermusiker und beginnt, eine Band zu formieren. In Berlin wird ihm endgültig klar: Er will Rockmusiker werden, kein Theaterkomponist. Bis es soweit ist, sollen noch drei Jahre des Suchens und Experimentierens vergehen.
Für den 03. September 1970, einen Donnerstag lang, ist die Ostseeinsel Fehmarn Hauptstadt einer unruhevollen Jugend. Canned Heat, The Faces und Jimi Hendrix sollen auf dem “größten Rock-Festival des Kontinents“ spielen. Gesponsert von Beate Uhse und “Festival der Liebe“ getauft. Es wird ein Festival des Schlamms und des Feuers. Für ersten sorgt der Regen, für zweites eine aus Kreuzberg angereiste Band. Sänger Rio Reiser sagt ihren ersten Auftritt an: “Hallo!! Wir heißen TON!! – STEINE!!! – SCHERBEN!!!“ Sie spielen drei Titel: Alles, was uns fehlt, ist die Solidarität, Wir streiken und Macht kaputt, was euch kaputt macht. Das Publikum, genervt ob des mehrstündigen Wartens auf die großen Namen und der Hell’s Angels als Security, lässt der Aufforderung Taten folgen. Die Bühne geht in Flammen auf. Und Ton Steine Scherben bekommen eine Anklageschrift nach Berlin geschickt: Von Brandstiftung und Aufruf zu Aufruhr und Gewalt ist die Rede. Mit Maschinenpistolen hätten sie die Bühne betreten. Die Anklage wird fallengelassen, die Ordnungsmacht bleibt ständiger Begleiter Reisers und seiner Kollegen. Ihren Konzerten folgen Demonstrationen und Hausbesetzungen. Am prominentesten die Inbesitznahme des vom Berliner Senat zum Abriss freigegebenen Bethanien-Krankenhauses am Kreuzberger Mariannenplatz. Als erstes verpassen die Besetzer ihm einen neuen Namen: Georg von Rauch-Haus, benannt nach dem während eines Schußwechsels mit der Polizei getöteten Mitglied der Berliner Stadtguerilla. Ton Steine Scherben sind eine politische Band. Reiser, das Wort Bandleader hätte er gehasst, versteht Politik freilich nicht als Domäne studentischer Rhetorikwunder und akademischer Langweiler, sondern als Bestandteil eines möglichst lustvollen und intensiv erfahrenen Alltags. Der Bandname verweist gleichzeitig auf die Rolling Stones wie die Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden. Die ersten Songs der Scherben entstehen aus Interviews, die die Band mit Berliner Lehrlingen und Hilfsarbeitern führt: Ich will nicht werden, was mein Alter ist und Sklavenhändler. Als er dem bewaffneten Kampf Keine Macht für Niemand vorlegt, wird das Auftragswerk abgelehnt. Zu ironisch, zu anarchistisch ist der Song, um bei der RAF als Hymne bestehen zu können. Es kostet allerdings auch einige Anstrengung, sich Andreas Baader als Verehrer Emma Goldmanns vorzustellen. Reiser schon eher: Revolution ohne Dogma, Kampf ohne Krampf. Die linke Szene projiziert ihre Wünsche in die Band, feiert, wenn sie diese erfüllt sieht, und verdammt, wenn sie die wahre Lehre verraten wähnt. Die großen Überraschungen stehen ihr noch bevor. Das Unternehmen Ton Steine Scherben ist, wie viele seiner Art, keine Goldgrube für die Beteiligten. Fünf Studioalben erscheinen zwischen 1971 und 1983. Reiser komponiert zusätzlich für Hoffmanns Comic Teater, die Plattform seiner Brüder, gibt Peter Hacks’ Moritz Tassow am TAT-Theater Frankfurt am Main den musikalischen roten Faden, steht vor Fernsehkameras und schreibt Filmmusiken. Es hilft nichts, 1985 sehen Ton Steine Scherben sich einem Schuldenberg von fünfhunderttausend Mark gegenüber und geben das Ende der Band bekannt. Reiser beginnt eine Solokarriere – sie wird für erhebliche Irritationen bei seinen Anhängern sorgen. Die Refrains der neuen Songs lassen sich nicht mehr im ritualisierten Straßenkampf skandieren; Graffitos geben sie nur bedingt her. Und dann die Musik: Reiser schreibt plötzlich Gassenhauer - das Wort hat ihm gefallen. Auf seinen Soloalben findet sich ausgeformt, was bereits bei Ton Steine Scherben als Unterton stärker und stärker wurde: Sarkastische Alltagsbeobachtungen stehen neben elegischen Liebesliedern. Wer darin Verrat und Verwässerung erblickt, sei daran erinnert, dass Reiser in seinen ersten Berliner Jahren nicht mehr und nicht weniger vorhatte, als progressive deutsche Schlager zu schreiben. Bis Reiser 1975 mit den Scherben nach Fresenhagen, Schleswig-Holstein zieht, hat er von Kreuzberg aus Ost-Berlin in Sichtweite. 1988, in der DDR setzt die kurze Zeit der Anarchie ein, ist es soweit. Seit reichlich zwei Jahren sendet Lutz Schramm im Jugendradio DT 64 spätabends regelmäßig Ungewohntes – Ton Steine Scherben, zwischen 1970 und 1985 in Westdeutschland aus dem Radio so gut wie verbannt, finden ihren Ostberliner Sendeplatz im Parocktikum. Und Reiser tritt am 01. und 02. Oktober in der ausverkauften Werner-Seelenbinder-Halle auf. Vor 6.000 Zuhörern und für 14,95 Ost-Mark plus 10 Pfennig Kulturbeitrag. Das Programm wird für den Abend extra geändert – Reiser spielt bewusst, und von niemand beanstandet, mehrere Scherben-Klassiker. Unglaublich, aber wahr: Das Publikum grüßt mit schwarz-roten Fahnen. Der Autor kann es bezeugen. Zu Zeiten Ton Steine Scherbens musste Reiser nach Konzerten sein Essen schon mal selber bezahlen. In Ost-Berlin schenkt ihm sein Betreuer privat die dreibändige Ausgabe Goethe in vertraulichen Briefen. Das Erlebnis beider Abende dürfte, neben einen sicheren Gespür für das, was kommen sollte, den Ausschlag gegeben haben, als der ehemalige Grünen-Wahlkämpfer Anfang der neunziger Jahre in die PDS eintritt. Aus Protest gegen die Planierung des Ostens. Berlin ist Hauptstadt eines Landes, das bald auch wieder souverän Kriegspartei sein wird, als Rio Reiser vor zehn Jahren, am 20. August 1996, in seinem Fresenhagener Haus in Folge eines Herz-Kreislauf-Kollaps, verbunden mit inneren Blutungen, stirbt. Eine seiner letzten Filmrollen war die eines unschuldig wegen Mordes verurteilten linken Aktivisten, der, aus der Haft entlassen, auf seine erfolgreich in der neudeutschen Realität angekommenen Freunde trifft. Ein Tatort-Krimi mit dem Titel Im Herzen Eiszeit. Darin der Song Träume, zu finden auf seinem letzten Album Himmel & Hölle. Wer wissen will, wie Deutsch als Sprache in einem Rocksong funktioniert, wie Trauer Energie freisetzt, springe zu Titel 9: “Die Zeit vergeht und so viel bleibt im Straßenstaub / Wird uns fremd / Wie ein Bild von daheim / Alles längst verschwunden – Alles überwunden / Und doch / War da viel mehr als ein Spiel.“ |
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