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Unter ihnen eine Gruppe, ein Kollektiv suchender Seelen um die Musikjournalisten David Thomas alias Crocus Behemoth und Peter Laughner, sowie die Kiss-Verehrer Gene „Cheetah Chrome“ Connor und Johnny Blitz Mudansky. Sie eint a) das Wissen, nicht aus der Avantgardemetropole New York zu stammen, b) die Einsicht, in dem, was sie tun, nicht akzeptiert zu sein, das auch nicht mehr zu erwarten, und c) die Schlussfolgerung, dies als Grundlage größtmöglicher Freiheit zu nehmen. 1974 beschließen die vier, als Musiker den Herausforderungen des Clevelander Lebens zu begegnen. Und nennen sich Rocket From The Tombs – nach einem 8mm-Film, den Thomas auf der Highschool über eine mögliche Invasion der Erde durch galaktische Zwetschgenmännchen gedreht hat. Hier bitte den Begriff absurde Komik merken! An den Kassen ist ihrer Mischung aus Garage-Rock, Metal und Psychedelic kein Erfolg beschieden. Dafür schreibt, schreit sich Sänger Peter Laughner mit der Zeile „Ain't it fun when you know that you're gonna die young“ in die Rockgeschichte. Er wird 24 Jahre alt werden und den Tod in New York finden, ausgerechnet. Rocket From The Tombs sind da längst Vergangenheit – die kurzlebige Band bringt zwei Stränge hervor, die sich seitdem durch Punk und Independent ziehen: die Variante Rock ’n’ Roll mit den Dead Boys, und die Variante Avantgarde mit Pere Ubu. Oder Avant-Garage, wie die Band ihren Stil selber nennt. Zwischen 1975 und 1982 infizieren die Schüler Alfred Jarrys Punk mit dem, was er vorgab, links liegen lassen zu können: Krautrock und Elektronik, Captain Beefheart und Brian Wilson. Mustergültig zu hören auf ihrem frühen Klassiker Dub Housing, für Klaus Walter zu Recht „die lustigste düstere Platte aller Zeiten.“ Eingespielt in der klassischen Besetzung Tom Herman, Scott Krauss, Tony Maimone, Allen Ravenstine und David Thomas. Nach diversen Umbesetzungen, einer längeren Pause in den Achtzigern, Thomas’ einsetzender, nicht minder schillernder Sololaufbahn und einer langsamen, aber stetigen Rückkehr ab 1988, haben Pere Ubu jetzt ein neues, ihr dreizehntes Studioalbum, veröffentlicht. Der Band, über die viele mehr lesen, als dass sie sie hören, ist ein irritierendes und faszinierendes Meisterwerk gelungen. Irritierend im Spiel mit Metaphern und Sounds, faszinierend in seiner Poesie und Vision. Auf Why I Hate Women bewohnen Männer fensterlose Häuser und warten Frauen auf einen wie Bukowski. Die Sonne wärmt nicht. Das Begehren treibt surreale Blüten – aus Augen wachsen Tentakel, aus Händen Handgranaten. Caroleen reimt sich auf Gasolin, ihr Parfüm hört auf den Namen Terpentin. Die Musik zu Thomas’ Bildern ist im selben Moment einfach und vertrackt. Drummer Steve Mehlman und Bassistin und Sängerin Michele Temple sorgen für pulsierenden, unwiderstehlichen Rhythmus, Gitarrist Keith Moliné und der Sun Ra Clevelands, Robert Wheeler am Synthesizer, garantieren Klänge, die ihr so selten noch einmal zu hören bekommen werdet. Die Platte ist undenkbar ohne die Fülle ihrer Extras: Es erklingen Stylofon, Tenorsaxofon und Trompete. Zentral Wheelers Theremin, das erste überhaupt funktionsfähige, elektronische Musikinstrument, berührungsfrei zu spielen und 1919 von Lew Termen in Russland erfunden. Dem Aspekt Klangforschung widmen Pere Ubu eine zusätzliche Veröffentlichung: Why I Remix Women versammelt Remixe des Why I Hate Women-Materials aus den Händen Molinés, Temples und Gagarins – hinter dem Pseudonym verbirgt sich Dids, Pere Ubus Soundman. Über allem thront David Thomas’ Stimme, die eine menschliche ist. Am heißesten Tag des Jahres 2006 hat er satt.org aufgeklärt. Über Ironie und den Albumtitel, Geografie und Kultur. Und warum er den Kategorien, mit denen hier notwendigerweise aufgewartet wird, misstraut.
Mr. Thomas, ironiefrei soll es sein, das neue Pere Ubu-Album. Nun werden einige Hörer denken … …sie hätten es mit einem ironischen Statement zu tun. Da liegt das Problem (lacht). Anders gefragt: Humor und Musik – geht das zusammen? Die Frage ist, ob Musik der Erforschung des menschlichen Daseins dient. Wenn sie es tut, und Humor ist Bestandteil unseres Daseins, dann geht beides auf jeden Fall zusammen. Ärgerlicherweise begleitet mich durch die ganze Zeit meiner Karriere die Vorstellung, ich sei tragisch, wenn ich lustig und lustig, wenn ich tragisch bin. Gut, das ist menschlich. Und dieser Widerspruch ist für unsere Arbeit von Anfang an zentral. Eine weitere Irritation ist der Titel. Ich muss dazu länger ausholen. Am Anfang jeder Platte steht für mich der Sound, besser das Bild, die Gestalt (orig.) eines Sounds. Pere Ubu-Alben sind für mich vergleichbar mit pointillistischen Gemälden. Um genau zu sein, haben wir hier auf Why I Hate Women nur elf Punkte, aber ihr Amalgam ist das Gesamtbild. Die Texte dienen dieser Aufgabe genauso. Und der Titel, ja, der Titel ist ein weiteres Element dieser pointillistischen Methode. Als das Album fertig war und einen Namen brauchte, saß ich in meiner Stammkneipe in Brighton. Nach einigen Bieren war mir klar, wie es heißen sollte. Why I Hate Women, das ist der Titel, den Jim Thompson gewählt hätte. Für den Roman, den er niemals geschrieben hat. Selbstverständlich hat das zu einigen Diskussionen geführt. Jim Thompson, der Namensgeber des Albums, ist in Deutschland so gut wie unbekannt, seine Kriminalromane sind nur antiquarisch erhältlich. Das sieht in Amerika leider nicht wesentlich anders aus. Vielleicht sollten wir einem cleveren Verleger einen Hinweis geben. Ja, Jim Thompson hat hauptsächlich in den fünfziger Jahren geschrieben. Einige der Drehbücher Sam Peckinpahs stammen von ihm, und Quentin Tarantinos Filme sind mehr als deutlich von Thompson beeinflusst. Es sind sehr dunkle, obsessive Romane – unnachgiebig dunkel, ohne einen glücklichen Moment. Stattdessen ist alles, was geschieht, ein Desaster. Schwer zu erklären, aber ich empfehle ihn wärmstens. Ich stelle es mir übrigens sehr kompliziert vor, ihn ins Deutsche zu übersetzen. Sein Stil ist sehr eigen. Was ich auch mit dem Album erreichen wollte, durch das sich eine dunkle, obsessive Sexualität zieht. Die Alben des letzten Jahrzehnts hatten in erster Linie den Zusammenhang zwischen Geografie und Kultur zum Thema, und ich denke, dass ich dazu gesagt habe, was ich sagen konnte. Zeit für einen Schlusspunkt und Neuanfang. Wer ist die Frau auf dem Plattencover, die den Hörer so eindringlich anschaut? Oh, mit dem Cover war es auch nicht einfach. Es ist eine Fotografie Kathys, der Frau unseres Designers John Thompson. Wer genau hinschaut, sieht, dass das linke Auge weggeschnitten wurde. Ich hatte sie darum gebeten, das tun zu dürfen, denn es hatte so ein Blinzeln, einen gewissen ironischen Ausdruck. Und ich wollte dem Konsumenten keinen einfachen Notausgang anbieten, wenn er mit der Frage im Titel konfrontiert wird. Ganz zum Schluss, als wir immer noch diskutierten, mit welchen Interpretationen wir rechnen sollten, kam uns die Idee, John solle ins Innencover schreiben: „This is an irony-free recording“. Wir haben sogar noch überlegt, ein Copyright-Zeichen dahinter zu setzen.
Garantiert ungewöhnlich ist auch das Theremin auf Why I Hate Women. Da es schon lange zum Pere Ubu-Sound gehört: Haben Sie vor, andere Erfindungen Lew Termens zu verwenden? Das Theremincello beispielsweise, sein saitenloses Cello? Es gibt natürlich eine ausgedehnte Tradition dieser selbst entworfenen Instrumente, so bei Harry Partch. Das Problem ist nur: Alle diese ausgefallenen Sachen sind mit einem enormen Aufwand verbunden, der sich gerade auf der Bühne schwer durchhalten ließe. Belassen wir es beim Theremin. Robert hat seines übrigens noch an der Schule eigenhändig zusammengebaut, was einen deutlichen Folkaspekt hineinbringt. Folk kennt keine Extravaganzen, und das ist mir sehr wichtig. Termen hat übrigens später Spionagetechnik für den KGB entworfen. Im Ernst? Aber keine Sorge, Robert hat nichts mit dem KGB zu tun. Was hat es mit der hypernaturalistischen Aufnahmemethode auf sich, die sie im Pressetext erwähnen? Den Begriff hyper-naturalistic hat sich Keith, unser Gitarrist ausgedacht. Er schreibt für den Wire, da muss er gelegentlich so reden (lacht). Ganz kurz, sonst wird es sehr technisch: Wir benutzen im Grunde keine Mikrofone beim Aufnehmen, sondern Lautsprecher. Das Geheimnis ist, dass beiden dieselbe Technik zugrunde liegt. Jedes Mikrofon lässt sich zum Lautsprecher umfunktionieren, jeder Lautsprecher zum Mikrofon. Als wir Raygun Suitcase aufgenommen haben, hatte ich eine sehr eigene Vorstellung davon, wie die fertige Platte klingen sollte. Damals haben wir begonnen, mit Lautsprechern aufzunehmen, die wir bestimmten Frequenzen und Sounds zugeordnet haben. Wo wir bei Sound und Technik sind – Vinyl oder CD? Was bevorzugt David Thomas? Ich habe Vinyl gehasst, wirklich gehasst. Weil der Pere Ubu-Sound sich schwer, sehr schwer darauf festhalten ließ. Als CDs aufkamen, fühlte ich mich befreit. Ehrlich. Klar, es gab in den Anfangsjahren enorme Schwierigkeiten mit der Technologie, aber ich liebe CDs von Anfang an. Der Sound lässt sich verfolgen, ohne, wie auf Platte, vom Grundrauschen gestört zu werden. Wenn Leute von der Wärme des Vinyls reden, sprechen sie im Grunde über Psychologie. Der einzige nennenswerte Unterschied zwischen Vinyl und CD ist der ausgeprägtere Objektcharakter des Vinyls. Gerade weil es ein fragiles Objekt ist, lassen sich so schnell Gefühle dafür entwickeln. Mit einer CD können Sie Frisbee spielen, Sie können auf sie spucken – in den meisten Fällen wird sie noch spielen. Vinyl will schon wesentlich sorgfältiger behandelt werden. Dieser psychologische Aspekt wird noch interessanter, wenn man sich MP3s und Downloads anschaut. Wo überhaupt kein Objekt mehr gegeben ist. Nun klingen MP3s wirklich lausig. Andererseits, ich habe mir ziemlich früh einen iPod zugelegt. Und das hat schon was. Es ist a) sehr bequem, Sie können eine ganze Musikbibliothek darauf unterbringen, und b) ein wirklich kreativer Gewinn – durch die Zufallsauswahl, die streckenweise zu wunderbaren Gegenüberstellungen führt. Ohne jetzt zu sehr ins Detail gehen zu wollen – wie entsteht er, der Pere Ubu-Song? Beispielsweise Babylon Warehouses auf der neuen Platte: „There is a house I know and it's called The Dust In My Eye.“ Ein sehr poetisches Lied. Wenn ich es beschreiben soll: Ich versuche, eine Sammlung von Erzählungen zu schaffen, die sich überkreuzen, im Clinch miteinander liegen oder parallel zueinander laufen. Das ist keine lineare Arbeit. Aber manchmal kommen gute Zeilen dabei heraus (lacht). Und die zitierte mag ich wirklich. Das erste, was man auf dem Song hört, ist eine Aufnahme meines Entwurfs, der ersten Zeile für den ganzen Song. Ich saß auf dem Hinterhof der Farm und sang spontan diese Phrase ins Aufnahmegerät. Und stellte fest, dass ich unbedingt herausfinden musste, wohin diese Zeile führt, zu welcher Geschichte sie gehört, wie sie sich zu dem bereits gegebenen Sound verhält. Weshalb ich die Idee dann ausgearbeitet habe. Ich denke, viele sprechen deshalb nicht gerne über diesen Arbeitsprozess, weil er sich wirklich schwer erklären lässt. Die wenigsten Musiker sprechen gerne darüber. Weil das an die Wurzel der Kreativität, an die Wurzel des Bewusstseins rührt. Was zu einer meiner Lieblingstheorien führt – es gibt nichts einzigartigeres als den menschlichen Gedanken. Ich halte die weitverbreitete Vorstellung dessen, was Denken ist, für ein völlig artifizielles Konstrukt. Am Anfang von Bewusstsein, von Wissen, stehen, was ich Hieroglyphen des Empfindens nennen würde. Diese Hieroglyphen, Metaphern müssen wir anderen übersetzen, wenn wir uns verständlich machen wollen, wenn wir versuchen zu erklären, was genau sie sind. Das einzige Werkzeug, über das wir verfügen, ist Sprache. Wir übersetzen diese Sensationen, Eindrücke in Sprache, in Worte. Und für diesen Prozess gibt es keine Erklärung. Und doch ist er genauso die Wurzel, der Anfang von Musik. Wenn wir mit einer anderen Person reden, passiert dasselbe. Verdammt, das klingt jetzt sehr prätentiös. Keine Sorge, wir sind kein Fastfood-Magazin. Ich bin mir nie sicher, ob man mit der Musikpresse überhaupt so reden kann. Nur, ich komme noch aus der Zeit, als Rock belesen sein durfte. Und nicht vorgeben musste, dumm zu sein. Warum muss ein nun über Sechzigjähriger wie Mick Jagger Songs für Teenager schreiben? Da ist doch etwas schief gelaufen. Das ist jetzt nicht mal ein Vorwurf gegenüber Jagger – er schreibt gute Songs, aber da stimmt was im Geschäft nicht. Wo wir dabei sind: Sie sagten einmal, an der amerikanischen Kultur sei geistiger Diebstahl begangen worden. Eindeutig. Rockmusik ist amerikanische Folkmusik. Vor 13 Jahren habe ich Sibirien bereist, war in Tuva bei den Obertonsängern. Auf der Reise hatte ich Gelegenheit, mit Artemy Troitsky zu sprechen, einem russischen Undergroundspezialisten. Ihm verdanke ich eine Einsicht, über die ich bis dahin noch nie nachgedacht hatte. Er sagte, die letzte Garagenband in Omaha, Nebraska würde authentischer spielen, als es Europäer jemals könnten. Und der Grund sei, dass sie es einfach nicht im Blut hätten. Das kam mir wie eine Erleuchtung vor. Warum können Nichtamerikaner keine Rockmusik spielen? Weil sich eine andere Kultur nicht adaptieren lässt. Die Engländer lieben das – wenn sie aus einem Dritte-Welt-Zitat einen bescheuerten Popsong basteln. Sie halten das für wundervoll, und hassen dabei doch in erster Linie ihre eigene Kultur. Anderes Beispiel: Als ich aufwuchs, habe ich viel Can, Amon Düül und Neu! gehört. Schlicht das beste jener Zeit an deutscher Musik. Gerade eben, weil sie keine Rockbands waren, sie konnten es einfach nicht spielen. Dafür konnten sie etwas anderes. Sie wussten, wie sie einzigartig sein konnten. Sie konnten von nirgendwo anders kommen als aus Deutschland. Geographisch und kulturell waren sie hundertprozentig zu verorten. Das selbe in Frankreich. Magma sind wunderbar, aber niemand käme auf die Idee, ihre Musik Rock zu nennen. Jetzt reden wir doch noch über Geografie und Kultur. Was mich wirklich interessiert, ist die Sprache der Geografie. Sie ist mir wichtiger als Geschichte oder Linguistik. Die Gebäude, die uns umgeben, formen unser Bewusstsein. Geografie ist eine sehr persönliche, ortsgebundene Angelegenheit. Was Sie verstehen, verstehen Sie aufgrund ihrer Geografie, der dazugehörigen Sprache. Die beispielsweise alle Deutschen teilen, und die wiederum jemand, der nicht aus Deutschland stammt, nicht wirklich versteht. Nehmen wir zum Beispiel das Gebäude der Deutschen Bahn in Berlin, ein selten hässliches Stück Architektur …(lacht) …weiß Gott kein schöner Anblick. Und doch sagt es Ihnen als Einwohner mehr und vor allem anderes als mir, der ich nur vorbeikomme und mich über den Anblick wundere. Sie stammen aus Cleveland, Ohio. Die Bedeutung dieser Herkunft für Pere Ubu wird oft betont. Was war Mitte der Siebziger das Besondere, Prägende an der Stadt, was die Sprache ihrer Geografie? Ich fürchte, das ist einem Außenstehenden sehr schwer zu verdeutlichen und bin mir nicht sicher, ob sich in Europa Parallelen finden. Cleveland war lange Jahre eine Stadt der Schwerindustrie, die exakt damals die Umwandlung zu dem durchgemacht hat, was sie jetzt ist. Was auch immer sie jetzt ist. Es gibt diesen Begriff der Urban Pioneers – wir waren es. Das Zentrum war so gut wie unbewohnt, und wir zogen dorthin. In der Nachbarschaft lag River Valley, der Industriedistrikt Clevelands. Wir entwickelten eine regelrechte Leidenschaft für die Verlassenheit, die Einsamkeit der Stadt nach 17.00 Uhr, wenn die meisten der Arbeiter zurück in die Vorstädte fuhren, und das Stadtzentrum buchstäblich ausgestorben da lag. Wir, vielleicht ein paar 100 an der Zahl, waren jung. In einem Alter, in dem man das gewöhnlich Verachtete, Weggeworfene um so mehr liebt. Cleveland war eine Geisterstadt, und wir waren die Geister. Wir fühlten uns als die Eigentümer dieser Öde, wir liebten sie. Dort zu leben, gab uns das intensive Gefühl, den Vorhang Realität lüften zu können. Mehr noch, durch die Löcher in diesem Vorhang schauen zu können. Schwer zu erklären, aber uns hat sich eine neue Welt aufgetan, ohne die unsere Musik unmöglich zu denken gewesen wäre. Tja, und dann wurde das Zentrum modernisiert. Plötzlich fanden sich all die Lofts, schicken Apartments und die entsprechenden Besitzer an. Nachtclubs und Restaurants kamen wenig später. Nicht, dass wir das nicht schätzten. Endlich waren wieder Leute auf den Straßen zu sehen, nur waren sie hauptsächlich damit befasst, sich zu betrinken und Clubs zu besuchen. In der Stadt, in der wir lebten, entwickelte sich eine Parallelwelt, die mit der Realität, wie wir sie kannten, nichts mehr zu tun hatte. Diese Erfahrung ist seitdem immer mit uns. Sie leben jetzt in Brighton. Gut, ich habe einige wenige Songs über Brighton geschrieben, aber es dürfte schwer sein, sie als solche zu erkennen. Cleveland hingegen – unsere Seele ist immer noch dort. Uns wurde schnell klar, dass, wer einmal in einer Geisterstadt gelebt hat, es nicht mehr wichtig findet, wo sein physischer Körper sich befindet. Es gibt zu der Erfahrung Cleveland übrigens Parallelen. Nicht das gleiche, aber ähnliches hat sich das letzte Jahrzehnt in Berlin abgespielt. Das fällt deutlich auf, ganz klar. Insofern ist das, was Sie über Cleveland erzählen, leicht nachvollziehbar. Ich nehme aber an, Sie sind nicht sonderlich versessen darauf, über die Vergangenheit zu reden. Ganz und gar nicht, ich halte diese Themen immer noch für sehr wichtig. Dass Sie verstehen können, was ich über Cleveland erzähle, liegt an einer ähnlichen Erfahrung, die nichts mit westlicher Zivilisation oder Kulturtheorien zu tun hat. Geografie steckt voller Paradigmen und Metaphern, sie ist eine Lehrmeisterin. Bedeutet ihnen der Begriff Industrial noch etwas? Oder hat er es getan? Oh, das ist ein Irrtum, der Begriff. Die meisten, die ihn verwenden, stammen nicht aus einer Industriestadt und haben nur eine sehr vage Vorstellung von dem, was mir meinten. Was aber mit unseren Absichten wenig zu tun hat. Die Industrie als solche war niemals unser Thema. Uns ging es darum, wie es sich mit ihr lebt, um die Industrieflächen, welche Gefühle auftauchen, wenn man beispielsweise durch ein riesiges Stahlwerk fährt. Das kann nämlich schlicht ein überwältigender, fantastischer Anblick sein. Die Industrieflächen wiederum waren für uns wie Kunstmuseen, zu studieren wie ein Bild oder ein Katalog. Der industrielle Aspekt dabei war eher zweitrangig – genauso gut hätten wir uns den Wäldern widmen können. Unser Gegenstand war nicht gleichbedeutend mit unserem Thema. Uns ging es darum, was der Gegenstand, in dem Falle Industrie, an Bedeutung transportiert. Ich habe dieses Schubladendenken, dieses permanente Kategorisieren immer für sehr ermüdend gehalten. Underground wird ebenfalls schnell aus der Schublade gezogen. Ich drehe den Spieß mal um und erkläre uns einfach zu einer Mainstream-Band. Wir spielen Mainstream-Rock. Wenn man sich die Geschichte des Rock anschaut, von den frühen Fünfzigern bis in die frühen Siebziger, lässt sich eine gerade Linie ziehen. Was vor 1975 geschah, hatte seine Basis in den sechziger Jahren, in Experimenten mit Konkreter Musik, analogen Synthesizern und gefundenen Klängen. Ähnlich ist es mit dem, was dann der sogenannte gebildete, belesene Rockstar sein sollte und fälschlicherweise als prätentiös galt. War es aber nicht, sondern hat stattdessen Rockmusik mit einer langen Tradition amerikanischer Literatur, mit Melville und Faulkner, verbunden. Bis Punk das dann zerstört hat. Im Grunde bewegt sich der Mainstream des Rock immer noch auf dieser Linie, nur dass sich seine populäre Wahrnehmung erheblich geändert hat. Nehmen wir die Achtziger. Da waren Bananarama für mich eine wirklich abstrakte, experimentelle und verrückte Band. Wir und kompliziert (lacht)? Kompliziert, das waren die anderen. Vergleichen wir einfach mal die Weltsicht Tom Verlaines, der Talking Heads oder Pere Ubus, die Art, mit der Verfasstheit der Welt umzugehen, mit der Bananaramas, mit den Antworten, die sie gegeben haben – eine davon ist logisch und realistisch, die andere bizarr. Nur welche? Zu Punk haben Sie ein kompliziertes Verhältnis. Ein sehr einfaches (lacht). Punk ging es darum, Klamotten zu verkaufen. Versuche Sie das mal mit Tom Verlaine, versuchen Sie, mit ihm Jeans an den Mann zu bringen. Es wird nicht funktionieren. Mit Bananarama oder Blondie geht das schon. Wobei, ich will hier nicht Debbie Harry kritisieren. Hut ab vor ihrer Ausdauer, und in gewisser Weise ist sie so etwas wie die flippige Tante in jeder Familie. Trotzdem, das Business hat sich sofort hinter Punk gestellt, aus der Einsicht heraus, dass sich damit wunderbar verkaufen lässt. Und Punk hat gewonnen. Alles ist Punk. Schauen Sie sich Grafik und Design der deutschen Nachrichten an – sie sind Punk. Sie haben kürzlich an Hal Wilners Rogue Gallery mitgewirkt, seiner Sammlung von Piratensongs und Shanties. Fühlen Sie eine Affinität zu Piraten und gestrandeten Seefahrern? Sea Shanties haben uns von Anfang an begleitet, so bei Caligaris Mirror auf Dub Housing. So habe ich mich sehr geehrt gefühlt, als mich Hal Wilner gefragt hat. Seine Arbeitsweise, und ich kenne ihn schon lange, kommt meiner Vision, Musik zu machen, sehr nahe. Dann mag ich Martin und Eliza Carthy. Was Shanties als Songs angeht: Verrückte Kapitäne und betrunkene Seeleute – wer nach einer passenden Metapher für die menschliche Verfasstheit sucht, wird da doch sehr schnell fündig. Mr. Thomas, herzlichen Dank für das Gespräch. |
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