BRAVO 1956 - 2006
Wahrscheinlich kann jeder Mensch in Deutschland zwischen 12 und 65 Jahren seine eigene BRAVO-Story erzählen. Meine geht folgendermaßen: ich durfte die BRAVO zwar lesen, aber erst nach Indizierung durch meinen strengen Großvater. Der riß die Aufklärungsseiten raus, dann bekam ich das geschändete Heft ausgehändigt. Meine brennenden Fragen konnten erst im mit Teens-Postern tapezierten Jungmädchenzimmer meiner Busenfreundin (höhö) geklärt werden – ihre Erziehungsberechtigten waren etwas lockerer oder wollten die Dr. Sommer-Seiten selbst lesen, was ich auch meinem Großvater unterstellte. Oder meine Ex-Arbeitskollegin Doris aus Halle, die während der DDR-Zeit zweimal im Jahr in den Westen reisen durfte, aber nicht wieder zu ihrer Familie zurückkehren brauchte, ohne das begehrte dekadente Yippie-Yeah-Heft mit Bon-Jovi-Postern im Koffer. Geradezu “ostalgisch” hört es sich heute an, wenn sie von ihrer panischen Angst vor den Grenzbeamten erzählt, die den Zug durchkämmten und zum Glück ihre heiße Ware übersahen … Ich bin sicher, derlei Geschichten finden sich in jedem Haushalt, es sei denn, man ist bei den Zeugen Jehovas aufgewachsen (und selbst für die würde ich in Sachen BRAVO meine Hand nicht ins Feuer legen).
Und was wurde sie verunglimpft und verrissen, die olle BRAVO, als BILD-Zeitung für Teenies - vor allem von Leuten, die “wirklich was von Musik verstanden” und mit 11 schon Sounds lasen. Okay, okay, die von BRAVO verbreiteten Informationen war meist recht dürftig und beschränkten sich auf cuddly Homestories – aber: gab es Songtexte zum Ausschneiden in der Opapostille Rolling Stone? Autogrammkarten, Starschnitte oder gar “Kissogramme” in der Spex? Na bitte. Aber das war auch gar nicht nötig, die jeweiligen Leserschaften waren völlig verschieden und sollten das auch sein. In den meisten Fällen entwuchs man der BRAVO-Zeit irgendwann und verabschiedete sich entweder endgültig vom Fantum oder begab sich zu höheren Weihen (s.o.) und meinte es todernst mit der Musikliebhaberei. Um schon wieder von mir zu reden: da ich mit der BRAVO quasi lesen lernte, ist sie auch schuld daran, dass für mich Musik + Text + bunte Bilder für alle Zeit zusammengehören. Ja, ich wollte wissen, wie das Pferd von Chris Norman hieß, wie Leif Garretts Mutter aussah, und vielleicht hätte ich Blondie nie so toll gefunden, wäre nicht dieses verruchte Poster von Debbie Harry mit durchsichtiger Bluse in der BRAVO gewesen. Damals wurde mir klar, dass Pop was ganz tolles sein muß, wenn ein DIN-A-4 großes Blatt Papier für einen handfesten Familienkrach sorgen konnte. Englisch lernte ich mit den bereits erwähnten Songtexten und erste zart-sexuelle Ahnungen bahnten sich an beim vorsichtigen Herumschnippeln an den legendären Starschnitten (Teens, Wham!). (Und wer glaubt, Fansein wäre irgendwie beknackt und doof, der soll mal den tollen Text über Fans von Kerstin Grether in “Lips, Tits, Hits, Power?” lesen.)
Ende August beging die BRAVO ihren 50. Geburtstag. Die Feierlichkeiten zu diesem Anlaß finden erst Ende Oktober statt, weil die “Kids” im Sommer noch mit ihren Eltern in den Ferien weilen. So ist die gute alte Tante BRAVO: immer nah an der Zielgruppe, deren Bedürfnisse berücksichtigend. Wer an der BRAVO-Party in Hamburg nicht teilnehmen kann (live on stage: Nena, Die Fantastischen Vier, Sasha, Take That, Roxette, Kim Wilde, Tokio Hotel und viele mehr), sollte ein paar Zehner in den gigantischen Brocken investieren, der bei Collection Rolf Heyne erschienen ist. Herausgegeben wurde der 800-Seiter von Teddy Hoersch, der genau ein Jahr älter als die BRAVO ist: Hoerschs Laufbahn im Popbiz begann als Promomann für EMI Electrola, er war Promoter für BAP, Pink Floyd und Queen, arbeitete als freier Journalist für Playboy und Rolling Stone und war in den Neunzigern Chefredakteur von VIVA Television. Das alles prädestinierte ihn für die Aufgabe, dieses Buch zusammenzustellen und die Herausforderung hat er mit bravour (nochmal höhö) gemeistert. Chronologisch geordnet führt das Buch durch 50 Jahre Pop und kann ohne Zögern eine Kulturgeschichte des Nachkriegsdeutschlands genannt werden – rührend wirken die braven Abbildungen der Fünfzigerjahre-Filmstars; Popmusik kam erst später ins Heft, zu Beginn war BRAVO ein reines Kinoliebhaberblatt. Die Sechziger schienen fast ausschließlich aus Elvis, den Beatles und den Stones zu bestehen – doch BRAVO schaute immer vor der Haustür, ob dort nicht auch ein paar “süße Boys” und “nette Mädels” vorbeitwisteten. Die gab es zu Hauf: Peter Kraus, Roy Black, die Rattles, Uschi Glas … ohne BRAVO wären sie wohl nie zu den Stars geworden, die sie zum Teil heute noch sind. Die Siebziger wurden bunt und wild, ob Saturday Night Fever, Punkrock, Grease oder Rocky Horror Picture Show: BRAVO berichtete über alles. Und egal, ob es um die Sex Pistols oder Village People ging, BRAVO gelang es immer, einen Hauch von Harmlosigkeit und Niedlichkeit über Nietenhalsbänder und Schwulenstyle zu legen. Die Achtziger waren hierzulande von der NDW bestimmt, in der BRAVO tauchten natürlich vornehmlich Bands wie Extrabreit, Nena, UKW oder Hubert Kah auf, Fehlfarben oder Abwärts blieben nur eine Randnotiz. (Aber diese Bands waren ja in Sounds. ) Ebenfalls heavy rotierend in der 80er-BRAVO: Michael Jackson, Flashdance, Modern Talking. Die Neunziger taumelten zwischen Boygroups, Grunge, Discotrash und Techno und die Nullerjahre … da sind wir ja noch mittendrin.
Trotz Hochglanzpapier und schwergewichtigen Umfangs gelingt es dem Buch, den groschenheftartigen Zauber der BRAVO einzufangen, Flüchtigkeit und Bedeutung von Pop und Stars darzustellen. Die Generation der Eltern wird durch Fotos der jungen, sexy Stones nähergebracht als durch das eigene Familienfotoalbum. Und die Jugendlichen von heute – ach Gott, wer unschuldig ist, der werfe den ersten Stein. Wäre ich heute 12, hielte ich wahrscheinlich auch Avril Lavigne für Punkrock.
Die chronologische Aufteilung des Buchs wird durch große Themenberichte unterbrochen: so schreibt zum Beispiel Wiebke Nieland über Frauenbilder in den fünfziger und sechziger Jahren anhand deren Darstellung in BRAVO. Ein anderer Text widmet sich unter der Überschrift “Der Kampf um die Wand im Jugendzimmer” 20 Seiten lang dem Starschnitt; blättert man weiter im Buch, erfährt man alles von und über Dr. Sommer, zum Beispiel, dass er zuerst Dr. Vollmer hieß (1963 war das) und die dazugehörige Aufklärungsseite “Knigge für Verliebte”. Auch das Boygroup-Phänomen wird beleuchtet: von Bros über Take That, New Kids on the Block, Kajagoogoo und Duran Duran kann man hier nachprüfen, wen man “wirklich nur wegen der Musik” gut fand. Auch toll: auf Doppelseiten werden BRAVO-Cover aller Jahrzehnte abgebildet – eine knallbunte Reise durch Grafik und Design, die mit spartanischen Porträtabbildungen der fünfziger Jahre beginnt und zum zappeligen Schrillostyle von heute führt.
Ich schlage folgendes Experiment vor: man lege das Buch gut sichtbar auf einen Tisch (sofern es gelingt, dieses Schwergewicht hochzuhieven, ohne den Tisch zu zertrümmern). Nun führe man Menschen verschiedenen Alters, Geschlechts, Musikgeschmacks und Schulbildung in den Raum mit dem Tisch, auf dem das BRAVO-Buch liegt. Ich verspreche: nach ca. zwei Minuten ist ein veritables Gerangel entstanden, weil alle in das Buch schauen wollen. Die, die gerade nicht reinschauen können, erzählen ihre eigene BRAVO-Geschichte. Zum Beispiel der Bruder meines Freundes, der mal in einer Münchner Disco von einem Fotografen angesprochen wurde und dann in zwei BRAVO-Lovestories auftauchte … to be continued.