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Dass Coleman weit davon entfernt ist, verbittert zu klingen, ist alleine schon Leistung genug. 1930 in Fort Worth, Texas, geboren, erlebt er als Kind und Jugendlicher Rassentrennung und Armut. Der Vater stirbt früh, es liegt allein an der Mutter, ihr Kind großzuziehen. Dem an der Schule eines Tages nahezu ein Erweckungserlebnis widerfährt. Für Jeff McCord vom Austin Chronicle erinnert er sich: "Eines Tages kam eine Band zu Besuch in unsere Grundschule. Als einer der Jungs anfing, sein Saxofon zu spielen, da war es um mich geschehen. Es kam mir wie Magie vor. Zuhause wollte ich dann selber ein Saxofon haben. Meine Mutter meinte, wenn ich mir selber etwas Geld verdienen würde, ließe sich darüber reden. Gut, ich habe dann zweieinhalb Jahre Schuhe geputzt. Dann hatte ich mein erstes Horn." Coleman besucht die lokalen Jamsessions, hört Dizzy Gillespie, Lester Young und T-Bone Walker. Ist fasziniert vom Bebop Charlie Parkers, dem neuen, rasanten Jazz aus der fernen Hauptstadt. In die Praxis wird er förmlich geworfen, das Instrument zuerst das Überleben sichern: "Es gab für einen Schwarzen wie mich einfach kaum andere Jobs als diesen. Also trat ich in einem Club auf, der gleichzeitig Glücksspiel anbot. Und immer, wenn die Texas Rangers hereinkamen, um nach dem Rechten zu sehen, fingen die Leute an zu tanzen, um nicht in der Zelle zu landen." Die Tanzmusik dieser Tage, sie heißt La Paloma, Stardust oder Night Train. Nicht gerade das, was heute mit Coleman verbunden wird – aber, die Brotjobs sind gleichzeitig Unterrichtsstunden: "Ich habe für Mexikaner gespielt, für Weiße wie für Schwarze. Und dabei gelernt, wie Musik unter verschiedenen Bedingungen funktioniert." Lange hält es den knapp Zwanzigjährigen allerdings nicht mehr in seiner Heimatstadt. Er verabschiedet sich von der Mutter, setzt sich in den Bus und fährt mit einer Minstrel Band nach Natchez, Mississippi. Die Reise steht unter keinem guten Stern, und die Kombination Ornette Coleman und Unterhaltungskapelle, sie muss zu diesem Zeitpunkt bereits kompliziert gewesen sein. Es dauert nicht lange, bis der Bandleader den Neuzugang feuert. Mit der bemerkenswerten Begründung, er habe eigenmächtig versucht, die Musik der Truppe zu modernisieren. Kurz darauf trifft Coleman den Bluessänger Clarence Samuel, mit dem er seine ersten, nie veröffentlichten Studioaufnahmen einspielen darf. Das Glück im Unglück währt nicht lange; Coleman wird von der örtlichen Polizei aufgefordert, die Stadt zu verlassen. Er fügt sich vorsichtshalber und reist weiter nach New Orleans. An die Geburtsstadt Louis Armstrongs, bis heute verehrt, hat er gute Erinnerungen; an Baton Rouge, die eigentliche Hauptstadt Louisianas, denkt er dagegen ungerne zurück. Um in Ruhe gelassen zu werden, hatte sich Coleman einen Bart und lange Haare stehen lassen. Der gegenteilige Effekt tritt ein. Mit seinem Auftreten gilt er den Südstaatlern als Freak, Schwuler oder beides. Coleman wird auf der Straße zusammengeschlagen, sein Instrument ihm aus den Händen gerissen. Nach zweieinhalb Jahren kehrt er zurück nach Fort Worth. Wo Pee Wee Crayton einen Saxofonisten sucht – Coleman spielt vor. Kriegt den Job und wird die Stadt bald wieder verlassen. Gemeinsam mit Crayton und Bob Wills & the Texas Playboys geht er nach Kalifornien. In Los Angeles trifft er mit Schlagzeuger Ed Blackwell, Bassist Charlie Haden und Trompeter Don Cherry Gleichgesinnte und kann dort erste eigene Platte veröffentlichen. Die Geschichte, wie es dazu kommt, liest sich wie aus dem Legendenbuch des Jazz und ist wohl doch wahr: Lester Koenig, Gründer und Leiter von Contempary Records, hatte eine von Colemans Kompositionen gekauft. Nur, es findet sich niemand, der in der Lage ist, das auf dem Notenblatt Stehende auch nur annähernd zu spielen. Der Urheber erkennt die Gunst der Stunde – 1958 erscheint es, das lange nur geträumte Debüt. Selbstbewusst Something Else! The Music of Ornette Coleman betitelt. Der Namensgeber arbeitet derweil als Fahrstuhlführer.
Ein Jahr darauf der Versuch, in New York, der Stadt Charlie Parkers und Miles Davis’, Fuß zu fassen. Coleman ist es gelungen, einen Vertrag bei Atlantic Records zu unterzeichnen. Jetzt soll ein Auftritt im berühmten Five Spot Café den Durchbruch bringen. Stattdessen steht die versammelte hauptstädtische Jazzszene Kopf. Dizzy Gillespie: "Das meint ihr jetzt nicht ernst?" Thelonious Monk, selber durchaus Exzentriker: "Der Mann da ist durchgedreht." Max Roach, beider Schlagzeuger und Charles Mingus’ Partner bei Debut Records, also beileibe kein Traditionalist, soll sogar tätlich geworden sein. Was ist passiert? Bebop, die Rebellenmusik, der sich alle drei verschrieben hatten und die Coleman bewunderte, hatte den Jazz aus der Kommerzialisierung der Swingorchester "gerettet", ihn dabei aber auch zur Musik für Kritiker und Musiker gemacht. Und jetzt kommt dieser Autodidakt aus Forth Worth, Texas, daher und will ausgerechnet in New York zeigen, wie der neue Jazz zu klingen hat? Auf einem Saxofon aus Plastik? Mit einem Trompeter, dessen Instrument aus Pakistan kommt? Einer Platte, die er allen Ernstes The Shape Of Jazz To Come genannt hat? Ornette Coleman muss erfahren, dass auch die Avantgarde Hierarchien und Konkurrenz kennt. Jahrzehnte später hält er fest: "Geschäftsleute unterstützen einander, Musiker bekämpfen sich wegen des Geschäfts." Wie auch immer die Reaktionen ausfallen – er ist plötzlich Gegenstand heftiger Debatten. Noch im Mai 1960, ein reichliches halbes Jahr nach dem New Yorker Auftritt, widmet Down Beat ihm einen Platz auf seinen begehrten Seiten. Julian ’Cannonball’ Adderley gesteht Coleman zu, ein Innovator zu sein. Charles Mingus geht sogar noch einen Schritt weiter. Zwar bezweifelt er, dass der Texaner sauber spielen könne, aber: "Als Symphony Sid (Radio-DJ) seine Platte spielte, klang alles andere, sogar mein Album, dagegen fürchterlich. Ich sage jetzt nicht, dass alle wie Coleman spielen müssen. Aber sie sollten endlich aufhören, permanent Bird zu kopieren. Es lässt sich schwer beschreiben, was er da tut. Es ist wie organisiertes Chaos, oder als würde einer falsch spielen. Aber richtig." Coleman selbst nimmt Mingus’ Ermutigung ernst. Drei Tage vor Weihnachten 1960 nimmt er das Album auf, das einer Stilrichtung den Namen geben wird und die Jazzwelt endgültig spaltet. Free Jazz heißt es, eingespielt mit einem Doppelquartett. Auf dem linken Stereokanal: Er selbst am Alt, Don Cherry auf der Taschentrompete, Scott La Faro als Bassist und Billy Higgins am Schlagzeug. Auf dem rechten Stereokanal: Eric Dolphy an der Bassklarinette, Trompeter Freddie Hubbard, Charlie Haden am Bass und Schlagzeuger Ed Blackwell. Auf dem Cover White Light, ein Gemälde Jackson Pollocks. Auf der Platte exakt ein Stück, es ist 37 Minuten und 3 Sekunden lang. Die Echos der Jazzprominenz aus dem Five Spot vor Augen, lässt sich die Reaktion der ersten Hörer nur erahnen. 45 Jahre später stellt sich ein Effekt ein, den die Platte mit vielen der einst als unhörbar geltenden, revolutionären Aufnahmen der letzten Jahrhunderthälfte teilt. Es klingt gar nicht so, wie erwartet. Keine Kakophonie, kein Ohrensausen. Sondern, wie im Untertitel bereits benannt, eine ausgedehnte Kollektivimprovisation, zu Zeiten auch wild und laut. Aber in erster Linie an die entfesselte Variante einer Straßencombo aus dem New Orleans der zwanziger Jahre erinnernd. Spontan und unakademisch. Was Coleman nicht davon abhält, seiner Musik in der Folgezeit einen theoretischen Überbau zu geben. Er beginnt, klassische Elemente in seine Musik einzubeziehen. Tritt bald mit einem Streichquartett auf – erstmals zu hören auf Town Hall, 1962. Zehn Jahre später Skies Of America, eine Suite, aufgeführt vom London Philharmonic Orchester. Kurz zuvor Science Fiction, mit zwei Gesangsstücken und einer Hip Hop vorbereitenden Kombination aus Sprechgesang und Instrumental eine seiner wagemutigsten Platten. Aufgenommen mit Dewey Redman am Tenorsaxofon, der diesen September gestorben ist. 1972 beginnt Coleman auszuformulieren, was ihn schon lange beschäftigt: Die herkömmliche, abendländische Musiktheorie und -praxis empfindet er als einengend, ungeeignet für die Musik, die ihm vorschwebt. Seine Unzufriedenheit lässt sich am besten mit der Beobachtung verdeutlichen, die ihn frustriert: 88 Tasten hat das Piano, nur zwölf Töne hingegen kennt unser Tonsystem. Zu wenig, entschieden zu wenig für ihn, der sich zusätzlich mit Mathematik, Biologie und Chemie auseinandersetzt. Harmolodic nennt er seine eigene Musiktheorie, die ein größtmögliches Maß an musikalischem Ausdruck sichern und tonale, rhythmische und harmonische Einschränkungen abwehren soll. Es ist einfacher, sich das Resultat anzuhören, als zu versuchen, diese Methode mit dürren Worten wiederzugeben. Denn, so theoretisch das Konzept auch daherkommt, auf Platte ist es allemal überraschend, ausgelassen und fröhlich sogar. Gerade haben sich seine Hörer an Free Jazz und orchestrale Arrangements gewöhnt, da stellt Coleman sie vor die nächste Herausforderung. In den siebziger Jahren gründet er Prime Time, bringt Elemente aus Rock und Funk in seine Musik – der Free Funk ist geboren und wird, bewusst oder unbewusst, Gang Of Four und The Pop Group wie die ganze New Yorker No Wave-Szene beeinflussen. Damit nicht genug: Auf den frühen Aufnahmen des Ensembles, herausgebracht unter Dancing In Your Head, bringt Coleman den Mitschnitt einer Session unter, die er 1973 mit den marokkanischen Master Musicians Of Joujouka in die Wege leitete. An der Klarinette: Robert Palmer. Für David Cronenbergs Verfilmung von William Burroughs Naked Lunch schreibt er die Filmmusik. 1995 dann Tone Dialing, eine eklektisch-elektrische Sammlung aus Bach und Balladen, Hip Hop und Cuban Jazz, vom Sound der frühen Jahre weit entfernt. Nahezu einer Sensation kommt es gleich, dass Coleman, jahrelang skeptisch gegenüber den schwarz-weißen Tasten, zu diesem Zeitpunkt mit der Pianistin Geri Allen und wenig später mit Joachim Kühn arbeitet. Sound Grammar, das fast zehn Jahre lang erwartete, wieder akustische Album, geht nun einen Schritt zurück und zwei voraus. Der Titel markiert einen Neuanfang im Leben des in Würde gealterten Musikers. Sound Grammar, so heißt das eigene, gerade gegründete Label. Und ist gleichzeitig der Begriff, den er jetzt für seine Musiktheorie bevorzugt: "Klang besitzt eine Grammatik. Für die Musik ist sie, was Buchstaben in der Sprache bedeuten. Musik ist eine Sprache von Klängen, die über allen einzelnen menschlichen Sprachen steht." Sechs völlig neue Kompositionen sind auf dem Album zu hören, präsentiert von Ornette Coleman selbst, seinem Sohn Denardo Coleman am Schlagzeug und wieder zwei Bassisten: Tony Falanga (Orchestra of St. Luke’s) und Greg Cohen (Tom Waits, Elvis Costello und John Zorn). Von einer Vitalität und Qualität, die mühelos den Bogen zu den legendären Trioaufnahmen mit David Izenzon und Charles Moffet in Schweden 1965 (At The "Golden Circle" Stockholm) spannt. Mit Turnaround und Song X gestattet sich das Quartett je einen Rückblick auf 1959 und 1985. Zusammen mit dem neuen Material, einzelne Titel hervorzuheben hieße Unrecht zu begehen, beweisen sie: Coleman ist längst zeitlos und Klassiker geworden. Wenn 2006 ein gutes Jahr für die Musik war (es war es und ist es immer noch), dann hat dieses Album entscheidenden Anteil daran. Utopie sei eine Welt ohne Ort? Einspruch, mit diesen 60 Minuten Musik. |
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