Der letzte Wikinger
Es gibt zwei Arten von Außenseitertum. Die eine ist Rebelchic, Frischzellenkur für den Markt und so lautstark wie folgenlos. Die andere ist Resultat von Biographie und Herkunft, ungleich stiller und beharrlicher. Moondog, Jahrgang 1916, hat stets betont, weniger Außenseiter, als vielmehr Rebell gegen die Rebellen zu sein. Schubladen wie Avantgarde, Experiment und Subkultur waren ihm fremd, er sah sich als Komponist in der klassischen europäischen Tradition. Leonard Bernstein und Charlie Parker wurden seine frühesten Fans; Duke Ellington und Charles Mingus sind mit ihm gemeinsam aufgetreten. Paul McCartney meinte, wenn die Beatles noch einmal mit einem neuen Sänger von vorne anfangen müssten, dann könne einzig Moondog den Part übernehmen. Peter Hamill (Van der Graaf Generator) lieh ihm seine Stimme. Nach The German Years 1979 - 1999 hat ROOF Records in diesem Jahr eine weitere Werkschau des Ausnahmekünstlers veröffentlicht. Auf zwei CDs umfasst Rare Material die schwer zu findenden Aufnahmen des Londoner Big Band-Projekts von 1995 und führt zurück in die kargen, frühen Jahre Louis Thomas Hardins, der sich Moondog nannte. Nach seinem Hund, der den Mond anheulte, nach den nordamerikanischen Indianern, die einen Sundog und einen Moondog kannten. Und der Edda, in der Managarm, der Mondhund, am letzten Tag das Gestirn verschlingt. Dabei hat er mit die friedfertigste und gleichzeitig abenteuerlichste Musik komponiert, die sich vorstellen lässt.
Be A Hobo
New York, Ecke 6th Avenue / 54th Street, frühe fünfziger Jahre: Passanten und Flaneure sehen sich einem irritierenden Anblick gegenüber. An der Straßenkreuzung steht ein Bärtiger in selbstgefertigter Wikingerkluft. Wenn er nicht steht, nimmt er auf dem Boden Platz und spielt auf selbstgebauten Instrumenten. Darunter eine dreieckige Trommel, die der Straßenmusiker Trimba nennt. Gleichzeitig entlockt er mit der linken Hand einer Miniaturharfe exotische Klänge. Zwischen den Stücken verkauft er Gedichte. Der Mann im Umhang, mit Helm und Speer ist freundlich. Seine Fassung verliert er nur bei besonders aufdringlichen Fragen. Ein Fußgänger: "Was soll der Speer?" Antwort: "Wenn Sie’s nicht begreifen, klettern sie doch einfach hoch und setzen sich drauf." Ein Besorgter: "Haben Sie ein Problem?" Bejahende Antwort, ein Moment Schweigen. "Was genau ist ihr Problem?" "Sie", gibt der Gast aus einer anderen Zeit zurück. Schlagfertigkeit ist die halbe Miete auf der Straße, sein Zuhause seit Jahren. Es braucht ein Jahrzehnt, bis er sich ein Stück Land vor den Toren New Yorks, den gelegentlichen Rückzug aus den Häuserschluchten, leisten kann. 1943 ist der Sohn eines deutschstämmigen Missionars und einer skandinavischen Mutter aus Iowa in den Big Apple gekommen. Mit dem festen Vorsatz, Komponist zu werden.
Ein knappes Vierteljahrhundert vorher wird das Kind Louis Hardin vom Vater in die Indianerreservate der heimatlichen Umgebung mitgenommen, wo es auf dem Schoß des Häuptlings sitzen und bei der Sonnentanz-Zeremonie Trommel spielen darf. Ein prägendes Erlebnis, wie er in Interviews erzählen wird, wenn er den alleinigen Anteil afroamerikanischer Rhythmen im Swing bezweifelt und immer wieder auf indianische Einflüsse zu sprechen kommt. Die Familie muss musikalisch interessiert gewesen sein, der Vater begeistert sich für Ragtime und Kirchenmusik. Und für Napoleon und John Wesley Harding (genau der Bob Dylans), laut Moondog ein Vorfahre der Hardins. Bei Wyoming besitzen sie eine Ranch, Moondog geht jagen und fischen. Er reitet und kann gut schießen. Bis er mit 16 Jahren bei der Explosion einer Sprengstoffkapsel auf der Stelle erblindet. Könnte er sehen, wäre er nie Komponist geworden, räumt Moondog rückblickend ein. Sondern wahrscheinlich im Zweiten Weltkrieg gefallen. Stattdessen studiert er an der Blindenschule seiner Heimatstadt Musik, singt im Chor und spielt in einem Streichquartett. Der Leiter des Konservatoriums in Memphis gibt ihm Privatunterricht. Auf 78er Platten hört er Beethoven, Wagner, Tschaikowsky und Richard Strauss. Als ihm die Schwester aus dem Buch Die erste Violine vorliest, steht der Berufswunsch Louis Hardins endgültig fest.
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Eine seltene Mischung aus Vorsatz und Zufall hilft ihm, seinem großen Ziel näher zu kommen. In New York angelangt, kauft er sich von dem wenigen Geld, das er als Model in einer Kunstschule verdient, eine Eintrittskarte für die New Yorker Philharmoniker. Gustavs Mahlers Zweite Symphonie steht auf dem Programm. Die Begeisterung des jungen Mannes fällt auf, er wird dem Dirigenten des Hauses, Artur Rodziński, vorgestellt. Der, spirituell interessiert, ist von der christusähnlichen Erscheinung Moondogs und seinem Interesse für die Musik so angetan, dass er ihm den regelmäßigen Besuch der Orchesterproben erlaubt. Moondog hört zu, sehr genau. Unterhält sich mit den Musikern, fragt sie aus. Die wiederum sammeln für ihn Geld und Essen. Rodziński ermuntert seinen Schützling, selber Stücke für Orchester zu schreiben. Dafür nimmt Moondog Obdachlosigkeit und Armut auf sich. Er notiert seine Stücke in Braille, der Blindenschrift, und lässt sie danach in Notenschrift transkribieren. Eine feste Stadtwohnung hätte das Geld für den Kopisten verschlungen. 1950 dann die zweite glückliche Fügung: Er sitzt im Hauseingang des Spanish Music Center, ein Laden, um genau zu sein, und musiziert. Bis der Inhaber, Gabriel Oller heraus kommt und fragt: "Du sitzt vor meiner Tür. Ich produziere Schallplatten. Möchtest du auch eine aufnehmen?"
Die ersten Singles entstehen. Im Dezember 1954 steht ihr Urheber vor Gericht. Alan Freed, Radio-DJ und Rock ’n’ Roll Pionier, verwendet Moondog Symphony als Titelgeber und Erkennungsmelodie seiner Show. Als Moondog davon erfährt, beginnt er einen Prozess. Den er nach Fürsprache von Igor Stravinsky gewinnt. Langsam, aber stetig stellt er sich ein, der Erfolg. Wobei Moondog wahrscheinlich lieber von Anerkennung gesprochen hätte. Mit Julie Andrews, der Darstellerin Eliza Doolittles am Broadway, nimmt er eine Platte mit Kinderliedern auf. Er unterstützt den Beatnik-Dichter Allen Ginsberg auf einer seiner Lesungen. Die großen Firmen klopfen an: Mars, Epic, Prestige, das Label, bei dem Jazzfans noch heute gerne jegliche finanzielle Vorsicht vergessen. CBS wird ihnen auf dem Fuße folgen. Janis Joplin covert All Is Loneliness. Er selbst ist von ihrer Version eher wenig begeistert. Die Originalversion des Madrigals findet sich jetzt auf der zweiten CD von Rare Material – neben zahlreichen Fundstücken der Jahre 1949 - 1956 und Kompositionen, die 1986 für das schwedische Streicherquartett Fläskkvartetten entstanden. Dazu skandinavisch, schweizerisch und moldawisch inspirierte Titel. Das oft, zu oft gebrauchte Wort vom Weltbürger, hier würde es endlich passen.
Exilant zu Hause
Als Europäer im Exil hat er sich in seinen New Yorker Jahren gefühlt. Zu groß ist das Interesse an der Musik und Geschichte des Kontinents, zu groß der Wunsch, einmal Deutschland, für ihn wortwörtlich das "Heilige Land mit dem heiligen Fluss", dem Rhein, zu besuchen. Als er dann 1974 tatsächlich eingeladen wird, lässt sich seine Freude nur erahnen. Für den Hessischen Rundfunk gibt er ein Radiokonzert mit Orchester. Im gleichen Programm gastieren die Musiker von Kraftwerk, die tags darauf nur noch von einem "außergewöhnlichem Ereignis" sprechen werden. Fast zeitgleich gibt er gemeinsam mit dem extra angereisten Organisten Paul Jordan in der Peterskirche Weinheim ein zweites, Bach, Moondog & Bach betiteltes Konzert. Der Eisenacher ist einer seiner großen Helden, mit einer Einschränkung: "Ich liebe Bach. Obwohl er niemals ernsthaft seine Musik analysiert hat. Ich bin mir sicher, er hätte eine Masse an Fehlern in ihnen gefunden. Und sicherlich hätte er sie korrigiert. Doch er hatte Frau und Kinder, um die er sich kümmern musste."
Moondog kann sich ganz auf das Studium der Alten Meister konzentrieren. Er selbst hat weder Frau und Kinder, lernt aber in Deutschland die Menschen kennen, die seine Familie sein werden. Als er sich kurzerhand entschließt, nach den Konzerten in Frankfurt a.M. nicht mehr in die USA zurückzukehren, muss er in der neuen Heimat sein altes Leben wieder aufnehmen. Er musiziert in den Fußgängerzonen Hamburgs und Hannovers. Dann, in Recklinghausen, ereignet sich der dritte glückliche Zufall in seinem Leben: Ilona Goebel, noch Geologiestudentin, wird auf den Fremdkörper im Gewühl aufmerksam. Ihn anzusprechen traut sie sich erst, nachdem sie eine seiner Platten gehört hat. Fassungslos, dass jemand, der diese Musik schreibt, tagsüber auf der Straße und nachts in einem Abrisshaus leben muss, lädt sie ihn ins Haus ihrer Eltern ein. Aus einem Essen wird Freundschaft. Bald studiert Goebel nicht mehr Felsformationen, sondern Blindenschrift, um Moondogs Kompositionen in Noten übertragen zu können. "She is my eyes", betont er in Gesprächen. Sie gründet einen Musikverlag, nennt ihn Managarm. Und doch ist es ausgerechnet ihr Einfluss, unter dem Moondog ernstlich sesshaft wird und, so unglaublich wie wahr, sich von seiner geliebten Wikingertracht trennt. Im Haus der Goebels entsteht das Material für mehrere LPs, wächst das an sich schon beachtliche Werk Moondogs ins Unermessliche. Ganze Symphonien wird es umfassen, dazu über tausend Stücke zwischen Klassik, Kammermusik, Minimalismus und einer nur ihm möglichen Interpretation von Jazz, dessen Einflüsse auf der ersten Rare Material-CD zu hören sind.
Gerade auf ihr wird der besondere Kniff an Moondogs Werk deutlich. Was gelegentlich nach Improvisation klingt, den Geist experimenteller Varianten des Jazz atmet, entspringt einem bewusst traditionell gehaltenem Verständnis von Komposition und Musik. Neutöner, Kettensprenger und Klangradikalisten wie Philip Glass, John Zorn und Butch Morris berufen sich auf ihn. Er fühlt sich geehrt, betont aber die Bedeutung von Form und Rahmen: "Innerhalb der Grenzen besitze ich Freiheit", äußert er im Gespräch mit Michael Rüsenberg. Die besten Songs der Beatles seien Yesterday, und Michelle - die Puristen der Avantgardefraktion würden wohl eher Revolution #9 erwarten. Überhaupt, der Irrtum, Musik mit Substanz müsse anstrengend sein. Dass Bach und Mozart viele ihrer Stücke der Volksmusik, den Schankstuben und Marktplätzen entlehnten, bleibt ihm wichtig. Genauso wie der Umstand, dass der Vater des Jazzinstruments schlechthin, Adolphe Sax, seine Erfindung für Gebrauchsmusiker in Militärkapellen entwickelt hat. Ihm widmet Moondog eine seiner bekanntesten Aufnahmen: Sax Pax For A Sax, eingespielt mit den renommierten Musikern von London Saxophonic, die, mit ihren gleichfalls berühmten Kollegen des London Brass Ensembles, jetzt auf Big Band zu hören sind. Zajaz hat er diese Musik getauft – ein Anagramm aus Jazz, ein List von Moondogs Vernunft: Der Hörer meint, Jazz zu hören, und kriegt dabei klassisch komponierte Musik zu hören. Die Veröffentlichung des Werks in den USA konnte Moondog noch erleben. Nicht jedoch die Jahrtausendwende: Am 08. September 1999 ist er 83jährig in Münster an Herzversagen gestorben. Noch eine gute Nachricht zum Schluss: Robert M. Scotto, Moondogs Biograph am Baruch College in New York, hat endlich einen Verleger gefunden. Für sein über 300 Seiten umfassendes Porträt des Mannes, der die eigentliche Weltmusik geschrieben hat.