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Dezember 2006
Christina Mohr
für satt.org

Jarvis Cocker: Jarvis

Der dünne Mann kehrt zurück oder: Irony's still over


Jarvis Cocker: Jarvis
Rough Trade 2006

Jarvis Cocker: Jarvis
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Pulp sind Geschichte, oder? "We Love Life", das letzte Album der etwas anderen Britpop-Band erschien 2001, die Klassikerplatten "His'n'Hers" (1994), "Different Class" (1995) und "This Is Hardcore" (1998, mit dem zur Redewendung gewordenen Schlußsatz "Irony is over") sind gerade als Luxuseditionen neu veröffentlicht worden, was auf einen abgeschlossenen Schaffenszirkel hinweist. Aber angeblich befinden sich Pulp nur im Winterschlaf, so dass eine Platte der gesamten Band nicht völlig ausgeschlossen ist. Doch ob Pulp nur eine Pause einlegen oder endgültig zu den Akten gelegt wurden, ihr charismatischer Chef Jarvis Cocker hat sich in den letzten fünf Jahren jedenfalls keine Ruhe gegönnt. Gemeinsam mit Frau und Sohn zog er nach Paris, England wurde ihm, tja, zu eng. Er schrieb drei Songs für den letzten Harry-Potter-Film und spielte in der Filmband The Weird Sisters mit. Unter dem Pseudonym Darren Spooner gründete er das Elektro-Wave-Trash-Projekt Relaxed Muscle. In Zusammenarbeit mit Kid Loco steuerte er einen Track zum Serge-Gainsbourg-Tributealbum bei, für Serges Tochter Charlotte schrieb er mit Neil Hannon (aka The Divine Comedy) die Texte für deren Platte "5.55". Und die zwei Songs, die er für Nancy Sinatras Comebackalbum schrieb, "Baby's Coming Back to Me" und "Don't let him Waste Your Time" sind auch auf "Jarvis", seiner gerade erschienenen Soloplatte zu hören. "Don't let him Waste Your Time" leitet das Album ein und kein Gedanke scheint abwegiger als der, JC könnte unsere Zeit verschwenden – im Gegenteil, wie viel Zeit ist schon totgeschlagen worden mit vergleichsweise unerheblichen Platten anderer Leute. Der dünne Mann mit der dicken Hornbrille mag zwar wirken wie ein unbeholfener Nerd, doch sobald er seine näselnde Stimme erhebt und Songs über die Begleiterscheinungen des Endgültig-Erwachsenseins zum Besten gibt, wird seine Ausnahmeposition im Popgeschäft deutlich. Stilistisch knüpft "Jarvis" an "We Love Life" an, kein "Disco 2006", sondern edler Höhepunkt im Reigen der geschmackvollen Alben älterer Herren aus diesem Jahr: The Divine Comedy, Scritti Politti und jetzt Jarvis Cocker zeigen fernab aller Moden und Trends, wem der Platz auf dem Popthron gebührt.

Das "Crimson & Clover"-Ripoff "Black Magic" zerrt ein wenig an den Nerven und verweist auf die Relaxed-Muscle-Platte, die alles andere als gefällig klang. Doch die anderen Stücke auf "Jarvis" sind hocheleganter, vollendeter Britpop mit Hang zur pompösen Ballade. "Heavy Weather", hymnisch inszeniert, wartet mit Donnergrollen und "Death and Destruction" im Text auf: "Stormy Weather / oh, it makes me think of you". "I Will Kill Again", eine Moritat über einen nicht-resozialisierbaren Killer, ist so romantisch und kerzenlichtkompatibel arrangiert, dass man sich Jarvis' kleines gemeines Lächeln gut vorstellen kann, würde er ein Pärchen sehen, dass sich bei diesem Song zärtlich näher kommt.
"Fat Children" ist eleganter Punkrock, wie man ihn von den älteren Pulp-Platten kennt, und fällt rein tempo- und rhythmusmäßig aus dem Rahmen. Aber es verweist darauf, dass Jarvis Cocker nicht zuletzt für seine sexy-linkischen Tanzbewegungen berühmt und begehrt ist. Altmodischer Scherz am Ende: die bis jetzt nur im Netz veröffentlichte Single "Running The World", ertönt als Hidden Track eine halbe Stunde nach dem letzten Ton von "Quantum Theory", dem laut Cover letzten Stück der Platte.

Laut seiner MySpace-Seite hat Jarvis Cocker 23.353 Freunde – so viele braucht kein Mensch und Jarvis schon gar nicht. Aber mindestens zehnmal so viele Leute sollten diese Platte hören.

Extrapunkte fürs Coverfoto!



Erstveröffentlicht beim Titel Magazin