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Dezember 2006
Frank Schäfer
für satt.org

Angezählt
Motörheads 23. Album „Kiss of Death“

Motörhead haben eine neue CD aufgenommen, die heißt „Kiss of Death“ und klingt wie immer. Jetzt könnte man eigentlich zu den erfreulicheren Dingen übergehen, etwa zu den Babylon Bombs und ihrem neuen Album „Doin’ You Nasty“, das den maladen Sleaze-Rock auf so fürsorglich-professionelle Weise wiederbelebt, daß man sich für ihn in Zukunft sogar wieder ein Leben außerhalb der Reha-Klinik vorstellen kann. Aber davon vielleicht doch lieber ein anderes Mal …

Motörhead:
Kiss of Death

Steamhammer, SPV 2006

Motörheads 23. Album „Kiss of Death“

Beim Kasus Motörhead weiß man gar nicht genau, was einem mehr Überdruß bereitet, die musikalische oder die begleitende musikjournalistische Redundanz. Denn wie oft hat man das schon gelesen oder sogar selbst geschrieben. Lemmy & Co sind eine Marke, die etwas verbürgt. Die man kauft, weil man genau das und nichts anderes will –beziehungsweise weil man das will, was ihr als Konnotat anhaftet, den metaphorischen Nebel, der sie attraktiv einhüllt. Eben dieses brummige, individualistische, selbstbewußte Rock-Rebellentum, das diese Band ganz unzweifelhaft und in einer sonst kaum noch zu beobachtenden Totalität repräsentiert. Na, und so weiter.

Nun, eine Wahrheit wird ja nicht falscher durch ständige Wiederholung, aber sie treibt einen manchmal der Lüge in die Arme, einfach nur weil man mal was anderes hören möchte. Deshalb mag man die folgenden Beobachtungen in Zweifel ziehen und einer tolldreisten Originalitätsheischerei zuschreiben – aber mir scheint, es findet gerade so etwas wie ein Paradigmenwechsel in der Großen-Motörhead-Erzählung statt.

Verschiedene Indikatoren sprechen jedenfalls dafür. So trug man mir neulich zu, daß der irgendwie wohl jung gebliebene Design-Chef von Volkswagen auf einem Betriebsausflug mit seinem kleinen Sohn auf dem Arm gesichtet worden sei. Und das Baby habe dieses „total süße“ Motörhead-Shirt getragen, daß man gerade bei H & M kaufen könne.

Ebenfalls trug man mir zu, daß in der FAS, dem Blatt, zu dem die Neocons am Morgen nach der langen Nachtschicht in der Agentur ihren rechtsdrehenden Joghurt löffeln, eine natürlich leicht ironische, aber trotzdem recht schwungvolle und informierte Laudatio auf Motörheads neues Album zu lesen war. Die stand auch im Netz, ich konnte das also überprüfen. Es stimmte.

Einige Wochen zuvor mußte Lemmy ein paar Shows absagen, weil sein Kreislauf plötzlich nicht mehr mitspielte. Ich meine, was muß eigentlich noch passieren, damit Ihr was merkt!

Und dann, das war mein ganz persönliches Damaskus-Erlebnis, befand ich mich vor kurzem auf einem mehrtägigen Open Air. Die Sonne begann unterzugehen, es war so gegen zehn Uhr abends, am dritten Tag, und meine Bezugsgruppe und ich diskutierten, ob wir noch den Motörhead-Gig in zwei Stunden abwarten – oder doch schon jetzt gleich nach Hause fahren sollten. Wir fuhren. Und ehrlich gesagt, diskutierten wir auch gar nicht richtig, es war sowieso allen klar.

Was sagt uns das nun? Daß nicht nur Prolet- und Prekariat bei H & M einkaufen gehen, sondern selbst jene, die es eigentlich besser wissen müßten? Daß Internet-Designer auf einmal was von Musik verstehen? Daß Lemmy also doch nicht unsterblich ist? Daß wir lahme Säcke geworden sind? Ja, das auch. Aber vor allem doch wohl, daß Lemmys Outlaw-, Rüpel- und Elternschreck-Imago nach 30 Jahren auf der Bühne und 23 regulären Alben irreversibel verdampft ist. Das aktuelle Promofoto zeigt das deutlicher als erwünscht. Sie sind angezählt! Schultern und Mundwinkel hängen, die Augen wirken resignativ und müde. Kein Schalk weit und breit. Campbells Stinkefinger, den er sichtlich erst nach Aufforderung des verzweifelten Fotografen mit einem letzten Aufbäumen hochgewuchtet hat, wirkt so glanzlos, so unsäglich, daß er einem fast leid tut.

Dabei ist „Kiss of Death“ nicht besser oder schlechter als die vorherigen Alben. Wieder sind neben dem ubiquitären, ideenlosen, also aus der reinen Not geborenen Gebuffe ein paar Tracks dabei, die mit einem hübschen Hook oder einer eingängigen Melodielinie überraschen (vor allem „Trigger“ und „Sword of Glory“). Und die mittlerweile auch schon probate sinistre Elegie mit dem in den hohen Lagen fast brechenden Klagegesang („God Was Never On Your Side“) läßt sich ebenfalls hören. Aber darum geht es ja nicht, wie gesagt, sondern nur um die Suggestivität und nicht zuletzt die Glaubwürdigkeit der dranhängenden Distinktionsangebote. Und die nehmen zügig ab, sag ich mal so.