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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




Dezember 2006
Robert Mießner
für satt.org


Sexton Ming
& Adrian Stout:
A Taste Of Wood


Sexton Ming& Adrian Stout: A Taste Of Wood

Die Weisheit des Versagens
Sexton Ming & Adrian Stout: A Taste Of Wood

Sexton Ming

Sexton Ming (Foto: Ella Guru)

Der Plagen sind viele. Keine aber kann es mit denen aufnehmen, die der Alltag im Angebot hat. Der tägliche Terror auf dem Bürgersteig, zum Beispiel. Sexton Ming sieht einen schmutzigen Dschungel, bevölkert von alten Damen mit Einkaufswagen, grauen Männern mit Krückstöcken und Müttern mit Kinderwagen – “überhitzte Panzer” nennt er letztere. Was als Gegenwelt gilt, ist keinen Deut besser: Galerien voller Konzeptkunst, Rockfestivals mit geklonten Zuvielverdienenden, kurz die falsche Revolte im falschen Leben.

Was tun? Ming, englischer Exzentriker, geboren 1961 südlich der Themse in Gravesend, ein Name, den man sich auf der Zunge zergehen lassen sollte, hat Humor als Waffe gewählt. Nicht den schenkelklatschenden und versöhnlichen, sondern den grotesken und verstörenden, einen mit Botschaft: “Humor, das ist nicht etwas leicht dahin Gesagtes. Sondern eine ernsthafte Angelegenheit. Und eine großartige Gegenwehr wider Ungerechtigkeit.” Fremde und seltsame Wesen bevölkern seine Bilder, Bücher und Songs. Es begegnen uns fröhliche Monstren, Kunst verlachende Clowns; Bäume tragen Fratzen, lesbische Hexen pfeifen auf Sitte und Anstand. Pelikane und Kühe werden zu Ökoaktivisten. Frank Zappa meldet sich zornig aus dem Grab. Ein freundlicher Gott schaut auf das anarchische Treiben herunter und weist die Anmaßenden in ihre Schranken.

Sexton Ming: Weekend Wanker

Sexton Ming: Weekend Wanker

Was ist geschehen? Wie sein Kollege Billy Childish litt Ming als Kind an Rechtschreibschwäche. In der Schule wird er in die Klasse der Lernschwachen und Langsamen gesteckt. Im Nachhinein muss seinen Lehrern gedankt werden: Dort, bei den Außenseitern, lernt Ming die Literatur lieben. Unterstützt von den Eltern, versucht er sich selber als Schreiber und Maler. Als Ming 1978 die Schule verlässt, macht er mit im Gravesend Writer’s Circle, einem Club, in dem alte Damen für Women’s Own schreiben. Bis Ming über die Anzeige eines Autorenkreises mit dem sprechenden Namen Outcrowd stolpert. Er geht hin und stellt fest: Mit denen kommt er klar, das ist seine Kragenweite. Unter ihnen ist Billy Childish – aus der Outcrowd werden die Medway Poets. Childish, Ming, Charles Thomson und Rob Earl veröffentlichen ihre Bücher im Selbstverlag. Es ist die Zeit von Punk. Und der spielt nicht nur drei Akkorde, sondern tobt auch an Schreibmaschine und Schreibtisch. Damals mit von der Partie ist auch Tracey Emin – Childishs Exfreundin und mittlerweile als Aktionskünstlerin ungleich erfolgreicher als ihre ehemaligen Kollegen. Übrigens, Ming spricht jetzt noch anerkennend über ihre Kurzgeschichten.

Sexton Ming: God

Sexton Ming: God

Die Musik kommt später. Zwar verehrt Ming gleichermaßen Edvard Munch und Pink Floyd, macht es sich aber mit der zweiten Vorliebe nicht leicht in den frühen Achtzigern. Als Punk Gothic wird und sich auf die Nachtseite flüchtet, provoziert Ming die Trauerträger mit Paisleyhemden, langen Haaren und Coverversionen von Hippieklassikern. Rückblickend sagt er, dass ihn, der eine Nervenklinik von innen gesehen hatte, die sprichwörtliche Besessenheit der Szene mit Wahnsinn und Verworfenheit suspekt war. Es wäre amüsant sich vorzustellen, wie das Gothicpublikum auf Mings frühe Soloalben wie Old Horse Of The Nation (1987) und Six More Miles To The Graveyard (1988) reagiert hätte. Der Friedhof darauf ist der von Hank Williams besungene, ohne Kajalstift und Trockeneisnebel. Zum Ende des schwarzen Jahrzehnts kehrt er England zwischenzeitlich den Rücken. Lässt sich, Laufbahn und Kontinuität ignorierend, in Frankreich nieder. Ralph Steadman, durch seine Zusammenarbeit mit Hunter S. Thompson bekannt gewordener Maler, Grafiker und Cartoonist, wird Ming einen gescheiterten Intellektuellen nennen.


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Bis zur letzten Minute des Jahres ist der RIM Shop geöffnet – der Versand für Sexton Ming, The Deptford Beach Babes, The Tropics of Cancer und weitere Namen aus dem Außenseiteradel. Noch sind Exemplare von Failed Intellectual - Selected Works 1978 -2003 und Old Horse Of The Nation erhältlich. Wer 4 Titel oder mehr bestellt, kriegt noch einen RIM-Sampler für lau eingetütet. Nicht lange überlegen, schnell zugreifen!

Failed Intellectual ist folgerichtig auch der Titel einer umfangreichen Werkschau von Mings Literatur aus den Jahren 1978 bis 2003. Zu beziehen über RIM Records – vom Künstler selbst gegründet. Auf dem Label bringt er seine Musik, von ihm einmal als eine Mischung aus Captain Beefheart, Syd Barrett und Nick Drake beschrieben, heraus und veröffentlicht Brüder und Schwestern im Geiste wie die Tasty Ones, die Avant Gardeners, The Tropics Of Cancer (mit The Flaming Stars’ Joe Whitney) und unlängst Dave Russell. Mings aktuelles Album, er arbeitet bereits an einem für 2007, heißt A Taste Of Wood. Aufgenommen hat er es, unterstützt von Nigel Burch, Martin Headly, Georgia Schaller, Dylan Bates und Adrian Huge, mit einem anderen Meister des Absurden: Adrian Stout, Bassist und Sänger der Londoner Tiger Lilies, die aus der Dreigroschenoper schon mal die Two Penny Opera gemacht haben.

A Taste Of Wood zeigt Mings Kosmos eine Spur heller als gewohnt. Seit 2001 ist Ming verheiratet. Mit der Malerin und Künstlerin Ella Guru – bei der Trauung trug er das Brautkleid, sie trat als Bräutigam auf. Beide haben eine zweijährige Tochter, was auf seine Weltsicht schon Einfluss genommen hat. Dem Morning Star hat er anvertraut: “Bevor Lucy geboren wurde, habe ich die ganze Zeit gedacht: Wir alle müssen in die Grube fahren, und wir alle haben es nicht besser verdient. Jetzt ist mir durchaus klar, dass wir etwas hinterlassen müssen, dass wir eines Tages gefragt werden, warum wir im Exzess gelebt haben und die Generation nach uns es nicht mehr kann.” Songs wie This Will Be Over und Hippo’s Paddling Pool sind das Licht am Ende des Mingschen Tunnels. Der trotzdem immer noch Überraschungen und dunkle Ecken kennt.

In Harry’s Lament neigt sich ein gelebtes Leben dem Ende zu. Dance Off The Building porträtiert einen glücklichen Selbstmörder. Ming: “Da hat einer sein Lieblingsessen und seine Lieblingsmusik, und entschließt sich, zu sterben. Nur, er wirft sich nicht vom Dach, er tanzt sich herunter.” Andere Sorgen bleiben. Das Geld, das elende Geld: Auf I Wish I Was Eno, dem lustigsten Stück der Platte, wünschen sich Ming und Stout, sie wären, exakt, der Ambientmusiker. Sie hätten überlegt, welchen Song sie wohl geschrieben hätten, um endlich finanziell auszusorgen: “Zuerst dachten wir an Cornershop’s Brimfull of Asha, einfach, weil sich ihr Sänger Tjinder Singh alleine davon zwei Häuser kaufen konnte. Aber dann haben wir herausgefunden, dass Enos Another Green World in so ziemlich jedem verdammten Dokumentarfilm verwendet wird. Unser Song handelt einfach von einem, der wenig Glück in letzter Zeit hatte, schlecht schläft und eben mit Eno tauschen möchte.” Sexton Ming und seinen Mitstreitern seien gewünscht: Glück, Glück und nochmals Glück, Ausdauer und keine Identitätskrisen. Ihr werdet gebraucht.