Der Rock ‘n’ Roll,
der aus dem Garten kam
23558538 Schütze Ravenscroft Jr. hatte es amtlich bestätigt, dass er ein schwerer Fall war: “Dieser Mann hat sämtliche Anstrengungen, sich an das militärische Leben anzupassen, vermissen lassen.” Seine Vorgesetzten hätten John Robert Parker Ravenscroft, bekannter unter dem Namen John Peel, Jahre später bei seinen geliebten Besuchen des Liverpool FC erleben sollen, Gelegenheiten, die Peel wie ein Ritual zu gestalten pflegte: Zur ganz und gar nicht nach Rock ‘n’ Roll schmeckenden Tageszeit von 8.00 Uhr morgens trat er die Reise vom Landhaus der Peels in Suffolk ins Liverpooler Anfield-Stadion an. Vor Ort stets derselbe Parkplatz in stets derselben Straße, Pommes essen am selben Imbiss, im selben Pub zwei Flaschen Bitter, konsumiert bei der Lektüre des Daily Mirror am, so möglich, selben Tisch.
Von Plan- und Disziplinlosigkeit ebenso keine Spur in Peels Beruf, der Musik. Vom frühen Morgen bis in den späten Abend konnte er in seinem Zimmer angetroffen werden, wie er sich durch die Myriaden von Singles, LPs, Demobändern und CDs, dem von ihm wenig geschätzten Medium, arbeitete. Bloß zu sagen, er habe sie gehört, grenzt an Untertreibung: Peel vergab nach System Sternchen für einzelne Tracks, machte sich Notizen, stellte Titellisten für seine Sendungen zusammen, überlegte, welche Platten den Kindern, seiner Frau Sheila und Freunden gefallen könnten. Dazu Telefonate mit den Künstlern, mit der BBC und Konzertveranstaltern. Bei alldem behütet von einem Porträt Mark E. Smiths, als wolle der Stolz Manchesters sicherstellen, dass sein größter Fan auch die richtigen Entscheidungen fällt. Peels Lateinlehrer, der ihm einst bescheinigte, “auf liebenswürdige Art inkompetent” zu sein, muss einen anderen Menschen vor sich gehabt haben.
Wie der Sohn eines spät kennengelernten Soldatenvaters und einer Mutter mit Hang zur Exzentrik John Peel wurde, zum Symbol für die Freundlichkeit der Subversion, davon erzählen seine Memoiren, in England unter dem Namen “Margrave of the Marshes” (Markgraf der Marschen) 2005 erschienen und dank Rogner & Bernhard jetzt endlich auf Deutsch vorliegend. Dieses Buch erzählt aus einer doppelten Perspektive: Peel schildert, humorvoll und anekdotensatt, seine Kindheit und Jugend bis zu seinen ersten Engagements als Radio-DJ in den USA. Wohin ihn der Vater zur Arbeit an einer Baumwollbörse geschickt hatte, verzweifelt über die offensichtliche Unfähigkeit seines jüngsten Sohnes, eine respektable Laufbahn einzuschlagen. Peels erste Arbeitskollegen waren Schwarze, in den Staaten bricht die Beatlesmanie aus – und Peel, der Junge aus Liverpool, ist mittendrin. Die Fahrt über den Atlantik bringt ihm erste Möglichkeiten zur journalistischen Arbeit, so bei der Pressekonferenz zur Ermordung John F. Kennedys, auf der sich der von Natur eher schüchterne Peel als Mitarbeiter des Liverpool Echo ausgibt. Und den ersten Sex. Vergessen, oder zumindest aufgehoben, ist, was er vorher mit sich herumschleppen musste: Die Erinnerung an Privatschulen der fünfziger Jahre, in seinen Worten “Blut, Sadismus, Desinformation, perverse Vikare, und noch mehr Blut.” Vergewaltigung inklusive. Wer wissen möchte, welche Segnungen die kasernierte Unterbringung männlicher Jugendlicher über einen längeren Zeitraum mit sich bringt, möge dieses Buch lesen.
Peel selbst konnte nur diesen Teil seiner Memoiren beenden – der Spross Heswalls ist 2004 65jährig während eines Aufenthalts in Cuzco, Peru gestorben. Den zweiten Teil des Buches bestreitet seine geliebte Frau Sheila, die mit den vier gemeinsamen Kindern die Erinnerungen vervollständigt hat. Ungewohnt zuerst, schreibt sie doch wie ihr Mann in der Ichform. Dafür sichert sie die Zeit ab, in der ihr Mann seinen Weg durch den “Dschungel des Lebens” (seine Worte), eines Lebens, das sich zu großen Teilen hinter Mikrofonen, Plattenstapeln und auf Festivals abspielte, als der DJ gegangen ist, den alle zu kennen glaubten, weil sie ihn hörten. In ihren Erinnerungen wird er lebendig: Peel, der Privatmensch und fürsorgliche Familienvater; Peel, der Freund der Faces und Captain Beefhearts, der Undertones und Robert Wyatts. Ein Mensch, dem Heldentum und Starkult so fremd waren wie der Gedanke an Urlaub, Ruhepause und Aufhören. Eine Gefahr birgt dieses Buch. Diejenige der Denkmalspflege, ein Effekt, den Peel, seine Familie und Freunde, sicher nicht im Sinn gehabt haben. Es ist leider nur zu wahr, dass es einer wie John Peel in den Zeiten kommerzialisierter und infantilisierter Sendeformate und angesichts von Radiostationen, denen die Unternehmensberater im Nacken sitzen, ungleich schwerer gehabt hätte, als er es sowieso hatte. Nur, dieses Buch erzählt auch vom beharrlichen Kampf dagegen, erzählt davon, die Intelligenz der Hörer nicht beleidigen zu wollen und leise, aber bestimmt zu betonen: Da draußen spielt die Musik, zu Lebzeiten Peels, heute und morgen. Vor der aus Ehrfurcht geborenen Resignation der Hinweis, dass John Peel “The Perfumed Garden”, seine erste Londoner Sendung, von einem Piratenschiff ausstrahlte.
Dabei ist es überhaupt kein Widerspruch, dass er in späteren Jahren buchstäblich sesshaft wurde. Jeder Ort, an dem er lebte, wurde von ihm als Peel Acres bezeichnet. Was nicht selten zu Verwirrungen führte, da es sich dabei nicht immer um ein Grundstück handeln musste. Peels Eltern ließen sich scheiden, als er 16 Jahre alt war – die seltsame Angewohnheit mag sich dem Wunsch nach einem festen Zuhause verdanken, ging mit der Scheidung doch auch der Verlust des eigenen Hauses einher, von ihm einmal als feste Größe, auf der sich spielen ließ wie auf einem Instrument, beschrieben. Zuletzt lebte er mit der Familie auf dem Lande nahe London. Viele der späten legendären Peel-Sessions sind dort, zwischen Hügeln, Hund und Garten, aufgenommen worden. Darunter auch die letzten Aufnahmen, die PJ Harvey für den Mann, dem mehrere Generationen ihre popkulturelle Sozialisation verdanken, einspielte.
PJ Harvey: The Peel Sessions Island, Universal
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“Every Peel session I did, I did for him” schreibt Polly Jean Harvey im Booklet ihres Peel-Session-Albums. John Peel hatte zwar viele Lieblingsbands und -musiker, die er wiederholt zur Session lud, doch die Beziehung zu PJ Harvey war eine besondere. Noch bevor ihr erstes reguläres Album “Dry” 1992 erschien, war sie schon zu Gast im Hause Peel/Ravenscroft, Peel hatte aufgrund einer einzigen Single ihr außergewöhnliches Talent als Sängerin, Komponistin, Musikerin erkannt. Johns Frau Sheila erinnert sich sehr gut an PJs Besuch und schreibt: “Als PJ Harvey hier spielte, wurde es so eng, dass die Leute ums ganze Haus herumstanden und die Aufnahmen durch die Fenster beobachteten.” PJ Harvey ist eine Ikone – eine Schwester (oder Tochter) im Geiste Patti Smiths'. Ihrer Kunst verbunden bis zur Selbstaufgabe. Schmerz, Schuld und Tod sind konstituierende Elemente ihrer Texte, PJ Harvey ist mit kaum einer anderen Künstlerin vergleichbar: wer könnte das Video zu “Down by the Water” von 1995 vergessen, in dem sie dünn und zerbrechlich, gewandet in ein feuerrotes Kleid, eine schaurig-beeindruckende Performance gibt – sie changiert zwischen Hollywood-Beauty und magersüchtigem Wrack, ihrer Faszination kann man sich kaum entziehen. Im gleichen Jahr singt sie gemeinsam mit Nick Cave auf seiner LP “Murder Ballads” das Duett “Henry Lee” - Cave und Harvey geben das perfekte Indie-Dark-Blues-Traumpaar ab, doch Polly Jean zieht sich zurück, sie scheut Blitzlichtgewitter und glamouröses Stardom überhaupt. Auftritte gibt sie selten, gilt als schwierig und kapriziös. Doch zu John Peel kommt sie gern, die wenigen existierenden Fotos zeigen eine entspannte Polly und einen väterlich-freundlichen Peel. In der familiären Atmosphäre der Peel-Studios entstanden über 13 Jahre hinweg einige der intensivsten Aufnahmen, die PJ Harvey je gelungen sind. Zwischen rumpeligem Cow-Punk und kammermusikalisch anmutenden Lovesong-Miniaturen, dunklem Blues und harschen Gitarrenklängen offenbart sich hier eine der verschrobensten und großartigsten Künstlerinnen der letzten Jahre. Reduziert bis aufs Skelett ist der erste Song, “Oh My Lover” von 1991, ein schmerzhaftes Liebeslied, Blümchenromantik klingt anders: “Give me your troubles / I'll keep them with mine.” “Sheela-Na-Gig” geht treibend nach vorn, Drummer Rob Ellis poltert gehörig, PJ singt selbstbewusst, mit kraftvoll-punkigem Unterton. PJ Harveys Songs sind weibliche Variationen in Blues, dunkel, klaustrophobisch, voller Ängste, Zorn und Schuld. Klingen die ersten Aufnahmen der Peel-Sessions auch sehr rau und ungeschliffen, erstaunt es doch, wie reif sich die damals erst 22jährige anhört – als hätte sie mindestens ein langes Leben bereits hinter sich. Als John Peel starb, entschied sich PJ Harvey sofort, einen Tribute-Song für ihn aufzunehmen – hätte Peel “You Come Through” noch hören können, er wäre begeistert gewesen.
» www.pjharvey.net