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Februar 2007
Robert Mießner
für satt.org

Die Vergangenheit befreien
Archie Shepp & Siegfried Kessler “First Take”
Archie Shepp Quartet & Dar Gnawa “Kindred Spirits Vol. I”

Archie Shepp (Foto: Stefan Oldenburg)

Archie Shepp
Foto: Stefan Oldenburg

Sie werden immer weniger, die davon erzählen können, wie der Jazz in den sechziger Jahren endgültig das Gewand der Minstrelshows ablegte. Am 12. Januar ist Alice Coltrane gestorben, Ehefrau des Mannes, der laut Archie Shepp den Jazz vom Entertainmentsyndrom befreite. Shepp, Tenor- und Sopransaxofonist, Pianist und Sänger wie auch Literatur- und Theaterwissenschaftler, hat dabei selber tatkräftig mitgeholfen: 1960 erschien The World of Cecil Taylor, der Pianist wie kein anderer vor und nach ihm, hatte sich den noch nicht mal dreißigjährigen Archie Shepp ins Studio geholt. Für den wird es eine Initiation. Ein braver Schüler aus Philadelphia sei er gewesen, erinnert sich Shepp später. Innerhalb weniger Jahre wird er einer der lautstärksten Protagonisten dessen werden, was allgemein als Free Jazz, New Thing oder fürchterliches Geräusch angesehen wird.

1965 ist er mit dabei, als John Coltrane Ascension einspielt. Eines jener Klangmanifeste, die von einer Zeit berichten, als dieser Musik bei aller Kühnheit nichts Elitäres oder Museales anhaftete, sie stattdessen auf soziale Praxis verwies: Civil Rights Movement, Malcolm X und Martin Luther King. In Vietnam lässt die Erste Welt die Maske fallen. Es ist keine Zeit für Schönklang und Harmonieseligkeit. Fire Music nennt Shepp eine seiner frühen eigenen Platten, darauf Malcolm, Malcolm - semper Malcolm, eine Hymne auf den im Februar 1965 ermordeten Führer der Bürgerrechtsbewegung. Und diese Musik brennt tatsächlich. Shepp und seine Kollegen, Roswell Rudd, Grachan Moncur III und Bobby Hutcherson, klingen bewusst schrill, aufrührerisch und anklagend. Es handelt sich um Avantgarde mit Auftrag und Anliegen, von Selbstzweck keine Spur. Raus aus dem Ghetto, raus auf die Straßen und ran an die Bildung, ran an die Kultur. 1969 tritt Archie Shepp auf dem Panafrikanischen Festival in Algier auf. Nach der mehrtägigen Feier schwarzen Selbstbewusstseins finden sich die Musiker in Paris wieder, spielen auf Einladung eines Trendmagazins und Psychedeliclabels mehrere Dutzend Alben ein, Anleitungen zum Aufbruch und Aufstand. Darunter der bedrohliche Blues von Shepps Blasé, mit Jeanne Lee am Mikrofon und auf CD zusammen mit Aufnahmen aus Algier erhältlich.


Archie Shepp &
Siegfried Kessler:
First Take

Archiebal (NRW)

Archie Shepp & Siegfried Kessler “First Take”

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Archie Shepp Quartet
& Dar Gnawa:
Kindred Spirits Vol. I

Archiebal (NRW)

Archie Shepp Quartet & Dar Gnawa “Kindred Spirits Vol. I”

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So radikal sich Shepp auf seinen Platten gibt: Es geht ihm keinesfalls um den Traditionsbruch, um Tabula Rasa. Blues, Gospel, Jazz und Folklore werden entstaubt und nutzbar gemacht. In den siebziger Jahren verändert sich seine Musik, sie wirkt vordergründig ruhiger, ja gesetzter. Was bleibt, ist nichts weniger als das Unterfangen, Black Music, für ihn eine große, zusammenhängende Erzählung, auf eine Stufe mit Beethoven, Stockhausen und Philip Glass zu stellen. Shepp spricht lieber von Negro Music oder Black Art Music als von Jazz. Der Professor der Musikgeschichte mit eigenem Lehrstuhl in Massachusetts verweist auf die Herkunft des Wortes aus den Bordellen und Striplokalen. Shepp gegenüber All About Jazz: “Die Weißen nannten es Jazz. Jass, um genau zu sein. Und es bezog sich nicht etwa auf die Musik, sondern auf das, was dort, wo sie gespielt wurde, nun mal getan wurde. Leute wie Jelly Roll Morton und Tony Jackson spielten hinter einem Vorhang, während schwarze Frauen für weiße Männer tanzten. Die ihren Besuch mit der Floskel umschrieben, sie suchten nach Jass. Und heute hüten wir dieses Wort, als hätten wir selbst es erfunden. Es ist absurd.”

Ein kompliziertes Erbe, das da gepflegt sein will. Archie Shepp, der sich des öfteren darüber beklagt hat, dass es der schwarzen Community an Unternehmergeist in eigener Sache mangele, ist kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag selber zum Unternehmer geworden. Archieball hat er sein eigenes Label genannt, auf dem Anfang diesen Jahres die ersten beiden Alben erschienen sind. Auf Kindred Spirits Vol. I, wir hoffen inständig auf eine Fortsetzung, findet Shepp Geistesverwandte in Tanger, Marokko: Dar Gnawa ist ein Quintett, verwurzelt in der Tradition ehemaliger Arabersklaven, die seit dem 11. Jahrhundert unfreiwillig in Nordwestafrika leben. Gnawa bezeichnet gleichzeitig eine spirituelle Bruderschaft, deren nächtliche Zeremonien, Lila de Derdeba genannt, Trance, Ekstase und Läuterung zum Ziel haben. Läuterung von einer Geschichte, die Shepp an seine eigenen Vorfahren denken lässt: “In meiner Jugend bin ich mit den Spirituals und Tänzen der Blues People aufgewachsen. Deren Erfahrungen sind denen der Gnawi nicht unähnlich: Für immer verloren gegangene Liebe, unwiederbringlich zerstörte Leben, ausgelöschte Erinnerungen an Familien und Freunde, das ist der Stoff dieser Kultur.” Eine Kultur des Überlebens und Trotzes, vertraut mit Schmerz wie Lebensfreude. Kongeniale Mitstreiter des Archie Shepp Quartet auf einem atemberaubenden Album, fernab aller Klischees von Weltmusik und Folklore.

Archie Shepp (Foto: Stefan Oldenburg)

Archie Shepp
Foto: Stefan Oldenburg

In die Freude über First Take, kurz vor Kindred Spirits herausgebracht, mischt sich Bestürzung. Siegfried Kessler, langjähriger Pianist Archie Shepps wie Joe Hendersons und Dexter Gordons, auf diesem Album klingt er feierlich, geradezu majestätisch, ist im Alter von 71 Jahren von dieser Welt gegangen. Der gebürtige Saarbrücker, vertraut mit Bach und Bird, Shepps Kompagnon par excellence, lebte längere Zeit auf einem Boot. Jetzt hat er sich im Hafen der südfranzösischen Stadt La Grande-Motte ertränkt. Die Polizei datiert seinen mutmaßlichen Freitod auf die Nacht vom 21. zum 22. Januar diesen Jahres. Das oft gebrauchte Wort vom Abschied in Würde, hier muss es gebraucht werden. 23 Minuten kurz ist die Eröffnung von First Take: Les Matin de Noirs, The Morning Of The Blacks, heißt sie, ist so anrührend wie überirdisch, lässt Alltag und Routine verblassen. Bei Kessler und Shepp geraten die Klassiker nicht zu klingender Tapete: Billy Strayhorns Lush Life, Duke Ellingtons Don’t Get Around Much Anymore, Shepps eigene Kompositionen Steam und California Blues, letztere gekoppelt mit Thelonious Monks Misterioso, kommen vital und gegenwärtig daher. Das achtminütige, energetische Ujadma beschließt eines der großen Alben eines noch jungen Jahres. Hört es euch an. Und dankt den Getriebenen, die uns diese Musik, diese seltene Größe, geschenkt haben.


» www.archieshepp.com