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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




März 2007
Christina Mohr
für satt.org

Neue Sampler, Frühlingsgefühle

Sampler werden oft lieblos zusammengestoppelt, aus Marketingerwägungen wird ein fetziges Motto draufgepappt und fertig ist der Musikeintopf. Die folgenden vier Platten sind anders: sie sind – jede für sich – ein Beweis für liebevolle und fachkundige Auswahl, für Geschmack, Wissen und Groovyness ihrer Kompilatoren. Der Frühling kann kommen, wir sind schon eingestimmt!

Tim Love Lee, Coming Home


Tim Love Lee:
Coming Home

Stereo Deluxe, Edel

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Mentaltrainer und Psychologen empfehlen immer wieder gern, dass man sich zuhause ein Archiv mit lustigen Filmen anlegen solle, um bei depressiven Verstimmungen rechtzeitig gegensteuern zu können. Eine ähnliche Hausapothekenfunktion erfüllt die von Tim Love Lee zusammengestellte Compilation “Coming Home”. Man wird zwar nicht lauthals losgrölen, aber ein zartes Lächeln dürfte sich schon bald einstellen: Das pfeifende, swingende “He Needs Me” wirkt ebenso stimmungsaufhellend wie “She is Groovy”, ein flirrend-leichter Track von The White Sport. Tim 'Love' Lee war vor vielen Jahren mal Hammondorgelspieler bei Katrina and the Waves (of-Walking-on-Sunshine-Fame) – der kurze Ausflug in Hitparadengefilde genügte ihm vollauf: seitdem arbeitet Lee als Produzent und Remixer, unter anderem für Gus Gus, Shantel und Soul Wax. Daneben veröffentlichte er auch eigene Platten, von denen eine bezeichnenderweise “Confessions of a Selector” heisst. Denn ein “Selector” ist er, und ein besonders liebe- und geschmackvoller dazu. Auf “Coming Home” versammelt er seine derzeitigen Lieblingstracks und bringt Gudrun Gut (“Move Me”) unter denselben Hut wie die Rhythmusetüde “No Hopper” von Al Chem. Lee wertet und unterscheidet nicht zwischen Berühmtheiten und No-Names, in seinem Liebeskreis finden alle Platz, um uns, die latent Depressiven und Unzufriedenen, zu beglücken und aufzuheitern. Sollte “Ingenuous” von Antena keine Wirkung zeigen, dann vielleicht der gepflegte Shuffle-Swing, den Brother From Another Planet spielen (“Moochin'”), oder Tara Busch und ihr “First Girl on Mars”. Bei Tim Love Lee geht Dub-Bass neben Bossa Nova, Tango, Ambient und altmodisch anmutenden Filmmusiken (Stuntmen, “You're the Best Find”). Die Love-Disco kann überall stattfinden, Hauptsache, es ist ein Fenster geöffnet, um auch das Zwitschern der Vögel hereinzulassen.

Songs for the Young at Heart


Songs for the Young at Heart
CitySlang

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Wenn Leute Eltern werden, ändert sich meistens nicht nur das Ausgehverhalten, sondern auch ihr Blick auf die Welt: Dinge, die früher wichtig waren, werden mit einem Mal bedeutungslos. Man hört mit dem Rauchen auf und vernachlässigt die eigene Plattensammlung zu Gunsten von Rolf Zuckowskis pädagogisch wertvollen Schlafliedern. Dave Boulter und Stuart Staples, Keyboarder und Sänger der Tindersticks sind auch Väter geworden, gehen die neue Lebenssituation aber anders an: Die Elternschaft liess Erinnerungen an Fernsehserien und Filme ihrer eigenen Kindheit in Grossbritannien wieder aufleben, vor allem an die dort gespielten Lieder. Ihre Idee: sie liessen für den Sampler “Songs for the Young at Heart” diese Songs von Indie-Grössen wie Robert Forster, Suzanne Osborne und Cerys Matthews neu interpretieren. Das Ergebnis ist entzückend und es wird einem rundum warm ums Herz, auch wenn man nicht mit britischen TV-Serien aufgewachsen ist. Bonnie Prince Billy singt mit seiner unverwechselbaren sanften Stimme “Puff the Magic Dragon”, Kurt Wagner von Lambchop begeistert mit einer anheimelnd brummigen Version von “Inch Worm”, Stuart Staples selbst gibt sich die Ehre mit “Hushabye Mountain” und “Hey, don't you cry”. Der Höhepunkt dieser zauberhaften Platte aber ist die von Jarvis Cocker vorgelesene Geschichte von Klein-Albert und dem Löwen (“The Lion and Albert”) - Albert wird im Zoo von einem Löwen gefressen, seine Eltern fühlen sich betrogen und verlangen an der Kasse das Eintrittsgeld zurück. Dort sagt man ihnen, sie sollen sich nicht aufregen, sie seien doch noch jung genug, um einen neuen Albert in die Welt zu setzen – würde die Supernanny auch hierzulande solche Geschichten erzählen, man müsste sich um ungezogene Kinder keine Sorgen mehr machen!

Sidewalk Songs & City Stories. New Urban Folk


Sidewalk Songs &
City Stories. New Urban Folk

Trikont

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“Sidewalk Songs & City Stories” ist in mehrfacher Hinsicht ein Genuss. Zum einen sorgt das wie immer bei Trikont aufwendig gestaltete Digipak für haptische und optische Freuden, ausserdem, und das ist ja noch viel wichtiger, bietet der von Martin Büsser zusammengestellte Sampler echte Aha-Erlebnisse. Zuerst lernt man aus dem umfangreichen Booklet alles über “Free Folk” und “Antifolk” und wird mit den wichtigsten Vertretern des Genres bekannt gemacht. Antifolk ist in seinen Ursprüngen durchaus ein amerikanisches Phänomen, aber Büsser zählt nicht nur Menschen wie den mittlerweile zum Topstar gereiften Adam Green zur Urban-Folk-Community. Er spannt den Bogen weiter und fasst auch Beck oder Michelle Shocked dazu. Wichtig ist der Bezug zur Stadt, zur Urbanität: New Folk, wie Büsser ihn versteht, hat wenig mit Landkommunen und Lagerfeuer zu tun. Büsser macht in den Linernotes deutlich, dass den Anti- oder New- Folker in erster Linie eine beherzte Herangehensweise an urbane Folktraditionen auszeichnet, dazu kommt die Ablehnung kommerzieller und wirtschaftlicher Strategien und das Ausprobieren verschiedenster Stile und Instrumente. Büsser sieht den modernen Folkie eher in der Nähe der Beat Generation oder Andy Warhols Factory, weniger als Erben von Johnnie Cash oder Hank Williams. Die Ausblendung von Country & Western dient auch dazu, die Künstlerauswahl nicht uferlos werden zu lassen – was der Compilation zugute kommt, die versammelten Bands und Einzelkünstler ergeben trotz aller Unterschiede im Detail ein stimmiges Gesamtbild. Die Künstler entstammen den kreativen Randbezirken von Punk, Grunge oder Jazz, DIY ist die Devise – beginnend bei der Plattenproduktion bis zur Covergestaltung. Der “Sidewalk”-Reigen wird eröffnet von Jad Fair & Daniel Johnston mit “Frankenstein Conquers the World”, das mit all seiner Freakigkeit der perfekte Einstieg in dieses Album ist. Es geht weiter mit den Frogs, Eugene Chadbourne und – als einer der vielen Höhepunkte – der Band Noise Addict, deren Sänger Ben Lee zur Zeit der Aufnahme (1994) gerade mal 13 Jahre alt war. Zu hören ist hier das grossartige “I Wish I Was Him”, das Lee für den von ihm verehrten Evan Dando geschrieben hat. DJ Patex liebt das Stück so sehr, dass sie es bei jedem Knarf-Rellöm-Trinity-Konzert als Zugabe singt. Auch “typische” Antifolker wie Kimya Dawson, Dufus und Jeffrey Lewis sind auf dem Sampler vertreten, ebenso wie die von Büsser überschwenglich als “beste Band der Welt” bezeichneten Animal Collective. Calvin Johnson, Gründer des für den Antifolk bedeutenden Labels K Records ist mit dem verwirrend-bezaubernden Song “When Heart Turns Blue” an Bord und mit dem aufstrebenden New-Antifolker André Herman Düne endet der crazy trip, auf den man nicht unbedingt seine Mutter mitnehmen sollte, auch wenn diese sich als ehemaliges Blumenkind bezeichnet.

The Upsetter Selection. A Lee Perry Jukebox


The Upsetter Selection.
A Lee Perry Jukebox

Trojan, Sanctuary

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Der mittlerweile siebzigjährige Lee “Scratch” Perry ist eine Legende des jamaikanischen Reggae, Dub und Ska. Seine Karriere startete bereits 1959 in Kingston: er arbeitete als Tänzer, später als Talentscout und Produzent. 1967 begann er die Zusammenarbeit mit Prince Buster, etwas später gründete er das Label “Upsetter Records” und veröffentlichte erste Platten der Upsetters, wie die erste Firmenband der Einfachheit halber genannt wurde. Die Upsetters können mit Fug und Recht als Erneuerer des Reggae bezeichnet werden: Perry zog das Tempo des gemütlichen Herzschlag-Rhythmus etwas an, peppte den Sound mit afrikanischen Ingredienzien auf, mixte Orgeln und Italowestern-Klänge dazu und begründete so den typischen Klang des Upsetter-Labels. Perry-Songs wie “Clint Eastwood”, “Return of Django” oder “Kimble the Nimble” verweisen auf die Kinobegeisterung ihres Schöpfers und klingen auch heute noch frisch und warm. Die von Perry selbst zusammengestellte “Lee Perry Jukebox” ist chronologisch sortiert, eine sehr sinnvolle Idee, denn so kann man die Experimentierlust Perrys und der beim Upsetter-Label erschienenen Bands peu à peu nachvollziehen. Die 2-CD-Compilation beginnt mit Solotracks von Perry aus dem Jahre 1966 und endet 2002, ebenfalls mit einem Stück des Meisters namens “Jamaican E.T.” Je jünger die Tracks sind, desto häufiger liegt die Konzentration auf Elektro und Dub, Reggae zeigt sich als sozusagen “klassische” Musikrichtung, die modische Strömungen aufnehmen kann, ohne ihre Herkunft zu verleugnen. Besonders schön klingt das bei Seke Molenga und seinem Song über “Bad Food” oder “Fire Fe The Vatican” von Max Romeo.

Zwischen damals und heute sind jede Menge entspannte Tracks von Peter Tosh und Bob Marley & The Wailers zu hören – Marleys charakteristische Stimme dürfte auch von Marsbewohnern sofort zweifelsfrei identifiziert werden können. Marley-Songs wie “Natural Mystic”, “Kaya” oder “Soul Rebel” können zwar durchaus als allgemein bekannt vorausgesetzt werden, in der Zusammenschau mit den Upbeat- und Skastücken weniger berühmter jamaikanischer Musiker entwickeln sie neue Facetten und klingen kein bisschen abgenutzt, sondern lebendig und vibrierend. Dem Ska wird mit Tracks von den Heptones gehuldigt und damit nicht das Vorurteil aufkommt, jamaikanische Musik sei in erster Linie von Machotypen gemacht, ist auch Susan Cadogan mit von der Partie, ihre Coverversion von Millie Jacksons “Hurt So Good” aus dem Jahre 1974 klingt sexy, swingend und wohltuend feminin zwischen all den Männern. Die “Lee Perry Jukebox” ist ein unverzichtbares Goodie für erfahrene Fans des Meisters und für Neulinge eine regelrechte Einführung in das Genre jamaikanischer Musik. Ein üppig bebildertes Booklet inklusive eines Interviews mit Lee Perry machen die Jukebox zu einer runden, durchweg empfehlenswerten Sache.