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Das befreite Orchester
Charlie Haden “Liberation Music Orchestra” (1970)
Die wenigsten unter ihnen hatten eine militärische Ausbildung. Und kaum dürfte die Mehrheit der amerikanischen Arbeitslosen und Künstler, Lehrer und Mechaniker, die vor 70 Jahren die Pyrenäen in Richtung Spanien überquerten, davon geträumt haben, in ihrem Leben eine Waffe benutzen zu müssen. Radikalisiert durch die Weltwirtschaftskrise und den aufmarschierenden Faschismus hatten sie sich, zeitgleich mit Freiwilligen aus 57 Nationen, auf den Weg gemacht, als Abraham Lincoln Brigade die Spanische Republik gegen Franco und seine Verbündeten Hitler und Mussolini zu verteidigen. Trotz Reiseverbots ihrer Regierung. 1939 siegten die Generäle über Enthusiasmus, mangelnde Ausbildung, Ausrüstung und linke Grabenkämpfe. Von 3.000 amerikanischen Freiwilligen sollten 1.500 zurückkehren. Um in den USA als vermeintliche oder tatsächliche Kommunisten auf der schwarzen Liste zu landen und stempeln gehen zu müssen.
Ende April 1969 werden mindestens sechs von ihnen als Ehrengäste in der New Yorker Judson Hall sitzen. Gemeinsam mit Impulse-Produzent Bob Thiele und Miles Davis’ Meisterarrangeur Gil Evans. Der Urheber des ungewöhnlichen Zusammentreffens: Charlie Haden, Bassist bei Ornette Coleman. Für sein erstes Album als Bandleader hat er sich vorgenommen, was den bereits einiges gewohnten Plattenbossen bei ABC noch Kopfschmerzen bereiten wird. Ein experimentelles Bigband-Album soll entstehen, mit Stücken Colemans, Hanns Eislers, Pete Seegers. Und Liedern aus dem Spanischen Bürgerkrieg. Gedacht als Hadens Antwort auf den Vietnamkrieg. Illustre Namen hat er für sein Vorhaben ins Studio gerufen. Unter dem 13 Frauen und Männer starken Ensemble sind es Don Cherry und Mike Mantler an den Trompeten, Gato Barbieri und Dewey Redman an Klarinette und Saxofon und Paul Motian und Andrew Cyrille am Schlagwerk, die eine der radikalsten Aufnahmen des Neuen Jazz einspielen. Carla Bley arrangiert. Und die Spanienkämpfer sind verwundert.
Auf Song Of The United Front, noch deutlich an das Brecht / Eislersche Original erinnernd, folgt ein zwanzigminütiges Medley aus drei spanischen Folkloreliedern: El Quinto Regimiento, Los Qatro Generales und Viva La Quince Brigada. Mit Sam Brown an der Gitarre und Originalstimmen alter Schellackplatten, von Haden gesammelt. Reichlich zehn Jahre vor Sampling. Song For Ché, eine der beiden Eigenkompositionen Hadens, wird eingeleitet durch ein expressives Bass-Solo, begleitet von Improvisationen an Percussion, einer Aufnahme Carlos Pueblos, Hasta Siempre, mitgebracht aus Kuba und ekstatischem Saxofon. Circus `68 `69 spielt auf die Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern des Vietnamkriegs auf der Democratic National Convention 1968 an. Zur Illustration teilt sich das befreite Orchester selbst in zwei Fraktionen, um die Aufnahmen mit We Shall Overcome zu beenden. Übrigens, Pete Seegers Adaption des Gospels I'll overcome findet sich auch auf Steal Away (1995), Hadens Duettplatte mit dem Pianisten Hank Jones, die ebenso wärmstens empfohlen sei. Als der Bassist mit den fertigen Bändern zu seinen Labelchefs geht, platzt denen der gestärkte Kragen. Formale Radikalität, die gestehen sie ihrem Kind Impulse mittlerweile zu. Aber das, was sie jetzt hören müssen, das geht zu weit. Entschieden zu weit. Veröffentlichen? Niemals! Haden braucht seinen ganzen Charme, um die Herrschaften doch noch zu überzeugen. Endlich willigen sie ein. Ohne das Album im Werbebudget zu berücksichtigen. Mundpropaganda macht es trotzdem zum Klassiker. Haden wird später, an neuralgischen Punkten der US-Politik, noch drei Platten mit dem Liberation Music Orchestra aufnehmen. Anlässlich des Bürgerkriegs in El Salvador, der Präsidentschaft Bush seniors und 2005 schließlich Not In Our Name. Zwei Jahre nach einer vermeintlich beendeten Mission.
P.S. Morgen ist 08. Mai. An diesem Tisch immer noch Tag der Befreiung.
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