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Mai 2007
Christina Mohr
für satt.org

Überspannt, entspannt und sehr entspannt;
Drei Frauen, drei Platten:
Tori Amos, Holly Golightly, Tracey Thorn

Tori Amos:
American Doll Posse
(SonyBMG)

Tori Amos, American Doll Posse

„Seelenstriptease“, „Exorzismus“ - diese Begriffe werden gern verwendet im Zusammenhang mit Tori Amos, mittlerweile 43jährige Pianistin, Songwriterin, Exzentrikerin. Die in North Carolina geborene und in Cornwall lebende Amos kehrt mit jedem Song ihr Innerstes nach Aussen, treibt öffentlich, für jeden sicht- und hörbar, ihre Dämonen aus. Ihr sexy-elfenhaftes Aussehen half sicherlich dabei, die breite Wahrnehmung zu befördern, aber ihre Musik ist zu intensiv, die Texte zu drastisch, um Amos „just another pretty face“ sein zu lassen. Toris Liveauftritte - sie allein mit ihrem geliebten Bösendorfer Piano - sind eher Psychodrama als Popkonzert, das Publikum liegt ihr dafür zu Füssen. Seit ihrem Album „Little Earthquakes“ (1992) und Hits wie „Professional Widow“, „Crucify“ und „Cornflake Girl“ beweist sie ausserdem, dass auch anspruchsvolle Singer/Songwriterplatten Charterfolge werden können. Amos gilt als hochbegabt, sensibel, betont sensitiv – in früheren Zeiten hätte man sie „überspannt“ genannt. Tori Amos spielt aber nicht die Kapriziöse, um gewollt geheimnisvoll und kompliziert zu erscheinen: ihre Lebensgeschichte beinhaltet viele düstere Momente; die erlittene Vergewaltigung durch einen Tramper im Jahre 1985, mehrere Fehlgeburten – harter Stoff, der bewältigt werden muss. Ihre erste Single „Me and a Gun“ beispielsweise thematisiert relativ unverschleiert das Vergewaltigungstrauma. Manchmal ist ein einziges Leben zu wenig, um Geschehenes zu verarbeiten – und so ist es nur einleuchtend, dass sich Tori Amos für ihre neue Platte in gleich fünf Frauenfiguren aufspaltet.

Die „American Doll Posse“ besteht aus weiblichen Charakteren, die ihre Vorbilder in der griechischen Mythologie haben: Fotografin Isabel repräsentiert Artemis, Göttin der Jagd. Die blonde Santa verkörpert Aphrodite, die vom Leben gebeutelte Clyde ist die Göttin der Unterwelt, Persephone und die kämpferische Pip ist, klar, Athene, Göttin der Weisheit und Krieglist. Die „echte“ Tori komplettiert den Reigen. Jede einzelne Figur hat innerhalb Tori Amos' Website ein eigenes Blog; viele überwiegend weibliche Fans tummeln sich bereits begeistert in den Posse-Blogs. „American Doll Posse“ beinhaltet zudem einen politischen Aspekt: Amos bezeichnet die amerikanische Regierung als monotheistisch und patriarchalisch – im Gegensatz zum griechischen Pantheon, das demokratisch, polytheistisch und durchaus matriarchalisch organisiert war. Alle fünf „Dolls“ thematisieren auf ihre eigene Weise das US-amerikanische System, die ihm innewohnende Bigotterie, die Stellung der Frauen. Okay, dieser Ueberbau ist anstrengend, hyperambitioniert und möglicherweise überstrapaziert Tori (oder wer von den fünfen?) den Rahmen, den Popmusik bieten kann. Aber man muss auch sehen, dass dieses Album – 23 Songs, 80 Minuten – in all seiner Schizophrenie und Kleinteiligkeit Amos' persönlichstes und konsequentestes Werk so far ist. Tori Amos liebt Themen- und Konzeptalben, „Scarlett's Walk“ aus dem Jahre 2002 benutzt das Bild der Reise durch Amerika zur Verarbeitung des 9/11-Schocks; „Strange Little Girls“ (2001) ist ein reines Coveralbum, auf dem sie Songs männlicher Musiker interpretiert – mit dieser Platte zelebrierte sie ihren Hang zum Verkleiden, dem Schlüpfen in andere Rollen, auf dem „Girls“-Cover ist sie in vier verschiedenen Stylings zu sehen.


Live in Deutschland:
4.6. Hamburg, Musikhalle
6.6. Düsseldorf, Philipshalle
7.6. München, Philharmonie
10.6. Stuttgart, Beethovensaal
11.6. Nürnberg, Serenadenhof
17.6. Berlin, Tempodrom
30.6. Frankfurt, Alte Oper

Auf „American Doll Posse“ lebt Tori Amos textlich/inhaltlich und musikalisch alle Facetten ihres Könnens aus: teils opulent instrumentiert, teils nur auf Stimme und Piano reduziert, fügen sich die Songs zu einem grossen, sinnvollen Ganzen. Angesichts der Materialmenge besteht allerdings die Gefahr, dass einzelne Songs untergehen, deshalb seien hier hervorgehoben: der Opener und Anti-Bush-Song „Yo George“ mit der schönen Zeile „I salute to you Commander/and I sneeze/'Cause I have now an Allergy/To your policies it seems“, der countryeske Saloonstomper „Big Wheel“ (die Singleauskopplung) mit Barpiano und Geige; „Bouncing off Clouds“, das mit einem eingängigen Synthiebeat unterlegt ist und Tori stimmlich viel Spielraum bietet; oder das exaltierte „You Can Bring Your Dog“ mit dem Wechselspiel aus Heavy-Metal-Gitarren und Toris charakteristischem expressiven Pianospiel. Tori Amos zitiert auch auf diesem Album gern alte Helden wie die Beatles oder ihr grosses Vorbild Robert Plant, bleibt aber, so paradox es scheint, immer sie selbst. Pardon, eine von fünfen.


Holly Golightly & The Brokeoffs:
You Can't Buy A Gun When You're Crying
(Damaged Goods/Cargo)

Holly Golightly & The Brokeoffs, You Can't Buy A Gun When You're Crying

Wesentlich entspannter, aber thematisch ebenfalls für die Ewigkeit bestimmt geht es auf Holly Golightlys neuem Album zu. Auch wenn die zauberhafte Engländerin mit dem (angeblich echten) märchenhaften Namen kein Topstar ist, kann sie auf einen enormen Plattenoutput und eine treue Fanschar verweisen. In den achtziger Jahren gehörte sie zum Umfeld des legendären „Wild“ Billy Childish und gründete als Antwort auf seine Band The Headcoats die Girlband Thee Headcoatees. Im Laufe ihrer mittlerweile gut 15 Jahre währenden Solokarriere und nach -zig Singles, Alben und Gastauftritten bei befreundeten Musikern (zum Beispiel auf dem White-Stripes-Album „Elephant“) konnte sie sich längst davon freimachen, nur im Zusammenhang mit Childish erwähnt zu werden. Ihr charakteristischer Gesangsstil – stets leicht ironisch, tongue-in-cheek – und der reduzierte Sixties-Garage-Sound zwischen Blues und Girlgroupappeal machen sie zu einer unverwechselbaren, einzigartigen Künstlerin, die mit modischem, schnellebigen Firlefanz nichts am Hut hat. Geblieben ist über die Jahre ihre Liebe zur Kollaboration: gemeinsam mit Lawyer Dave und dessen Band The Brokeoffs hat sie mit „You Can't Buy A Gun When You're Crying“ ein zeitloses Slo-Lo-Fi-Werk geschaffen, das laut Covertext zu Hause aufgenommen wurde. Holly knüpft weniger an ihr früheres Oevre an, sondern huldigt dem klassischen Blues und Country, hauptsächlich verwendete Instrumente sind Slideguitar und Kontrabass. Zwischen den Polen „Devil Do“ (Song Nummer eins) und „Devil Don't“ (letzter Song) erstreckt sich die ganze Bandbreite archaischer Bluesthemen, angefangen von Tod und Teufel, über Liebe, Alkohol und die-Stadt-verlassen-müssen. Der Opener „Devil Do“, sparsam und knochentrocken instrumentiert, klingt liebevoll altmodisch, dezent rockabilly-like. Songs wie „Just Around the Bend“, „Medicine Water“, „So Long“, „Jesus don't love me anymore“ evozieren eine Stimmung, als wäre man morgens um fünf der letzte Gast in der Bar (oder im Saloon) und hört Holly zu, wie sie mit dem melancholischen Barkeeper über verlorene Liebe singt und dazu den langsamsten Walzer aller Zeiten tanzt. Reduzierter kann Musik kaum sein – jeder Ton, jede einzelne gezupfte Saite erzählt eine eigene, melancholische Geschichte. Holly und Dave singen mal gemeinsam, mal abwechselnd, wie einst Lee Hazlewood und Nancy Sinatra. Das muntere „Everything You Touch“ ist ein typischer Holly-Song, lakonisch singt sie „now I understand you / now I don't / everything around you ends up broken“ - diese Zeilen würden auch zu ihrem minimalistischen Girlgroup-Sound passen, aber das Countrykleid steht dem Text auch ganz hervorragend. „Time to Go“ spielt mit einem archetypischer Americana-Thema: á la „Mystery Train“ hört man einen Zug in die Stadt hinein- und wieder herausfahren, es geht um einen vagabundierenden Outlaw, Hunde bellen, der Tag bricht an, der Desperado hat die Stadt verlassen. „Clean in Two“ ist eine todtraurige Liebes- beziehungsweise Einsamkeitsballade, eine skelettierte Gitarre unterstreicht mit schrillen Tönen die Seelenpein der Verlassenen, Holly singt „these days are longer / than they need to be / one more day for me to wait and see“. „I Let My Daddy do That“ klingt wie ein klassisches Traditional, mit zurückgenommenem Sound und geklopftem Bass. Beim letzten Track, der ohne Gesang auskommt, wird wild auf Küchengeräten herumgeklöppelt und lustig gejammt, bis auch der Teufel miteinstimmt und fröhlich auf die Zuckerdose hämmert.


Tracey Thorn:
Out of the Woods
(Virgin/EMI)

Tracey Thorn, Out of the Woods

Menschen meiner Generation (seit einiger Zeit keine 25 mehr, mit Elektropop der Achtziger aufgewachsen) werden sich mit Tracey Thorns Album „Out of the Woods“ schnell anfreunden. Das heimelige Gefühl stellt sich schon mit dem Erkennen von Mrs. Thorns Stimme an, die warm und vertraut, gleichzeitig britisch-distanziert und immer ein wenig traurig klingt. Zur Erinnerung: Tracey Thorn bildete mit ihrem Dauerlebensgefährten Ben Watt das Neo-Jazz-, später Elektronikduo Everything But The Girl, dessen grösster Hit „Missing“ vom Album „Amplified Heart“ aus dem Jahre 1994 wat. Die zurückhaltende, aber eindringliche Melange aus Elektro, Dance und TripHop bescherte dem schüchternen Duo aus Hull weltweite Aufmerksamkeit, die beide nicht unbedingt suchten. Tracey Thorn zog ihrerseits die Konsequenzen, wurde Mutter (gleich dreifach) und wollte mit dem operativen Musikbusiness nichts mehr zu tun haben. Gatte Ben Watt arbeitete weiter als Producer und blieb dem Popbetrieb erhalten. Schenkt man der Legende Glauben, ist niemand Geringerer als Neil Tennant von den Pet Shop Boys für Tracey Thorns Rückkehr zum Pop verantwortlich: auf einer Party fragte er sie, weshalb sie nicht mehr singe. Tracey kam ins Grübeln und fand keinen wirklichen Grund – die Kinder kann man schliesslich nicht immer vorschützen. Tracey begann, zunächst zuhause, dann im Studio, wieder zu singen. Die ersten Songs wurden aufgenommen, zum ersten Mal ohne Ben Watts' Unterstützung (oder Einmischung, je nach Sichtweise). Die erste Single, „It's all True“, ein Liebeslied für Ben, gibt die Richtung vor: dezente Eightiesreminiszenzen, ein wenig Erasure, ein wenig Depeche Mode, verhaltene, aber definitiv vorhandene Tanzbarkeit. Im Video zu „It's All True“ kann man Tracey zwischen Hundertschaften gleichgeschalteter Büroangestellter kaum ausmachen: ihre Schüchternheit, ihre Abneigung gegen Gefilmt- und Fotografiertwerden ist geblieben. Folgerichtig wird es auch keine Tournee zum neuen Album geben - „Out of the Woods“ ist ohnehin eine eher intime Angelegenheit geworden. Die Mischung aus Akustik, Folkpop, Balladen und dezenten Dancefloor-Beats erweckt den Eindruck, als habe Tracey ein Mixtape für sich selbst aufgenommen. Song Nummer eins, „Here it comes again“ klingt zart und fliessend, ein bisschen wie Enya (nicht erschrecken) und ist textlich so traurig wie Traceys Stimme: „Your mother's blue / your father's too / it's in the family …“ Sie covert Arthur Russell, die früh verstorbene New Yorker DJ-Legende: dessen „Get Around to it“ erklingt in reduzierter, clubbiger Neubearbeitung, mit kaum hörbaren „Ring my Bell“-Glöckchen im Hintergrund. „Hands up to the Ceiling“, „Nowhere Near“ und „By Piccadilly Station I Sat Down and Wept“ sind melancholische Balladen, die durch den Einsatz von Waldhörnern und Flöten eher nach Herbst als nach Frühsommer klingen und den idealen Resonanzboden für Traceys Stimme bilden. Leicht technoid klingt „Easy“, bei „Grand Canyon“ lassen sich Minimalhouse-Wurzeln ausmachen – also insgesamt sehr abwechslungsreich ist „Out of the Woods“ geworden, aber es ist kein Durcheinander entstanden. Traceys Stimme ist das verbindende und ordnende Element, das Ruhe, Gelassenheit und wiederentdeckte Liebe zur Musik verströmt.