Mai-Sampler
Die aktuelle Sampler-Schau ist eine veritable Materialschlacht: insgesamt neun CDs werden vorgestellt, verteilt auf die Compilations Karl Lagerfeld/Les Musiques que j'aime, Motel Lovers vom Trikont-Label, Nouvelle Vague presents New Wave und Tales from the Australian Underground.
Karl Lagerfeld:
Les Musiques que j'aime
(Tolerance)
Ehrlich gesagt, hielt ich diese Compilation zunächst ganz vorurteilsbeladen für einen Fake: Karl Lagerfeld, berühmter Zopfträger und Modeschöpfer soll für diese Musikauswahl verantwortlich sein? Ein 73jähriger, der sich mit Weird Folk, modernstem Elektro und Dance auskennt? Ein Opi, der Planningtorock, Black Mountain, Kreidler, The Fiery Furnaces und LCD Soundsystem hört? Der so auf Draht ist, dass er neue Aufnahmen von Joakim, The Pipettes und A Hawk And A Hacksaw souverän mit Goldfrapp, Siouxsie & the Banshees und Igor Stravinsky zusammenbringt? Aber ich bin wohl meiner kleingeistigen Verbohrtheit zum Opfer gefallen, denn: es ist bekannt, dass Karl Lagerfeld ungefähr 70 iPods sein Eigen nennt, ganz zu schweigen von -zigtausend CDs, die sein Anwesen füllen. Ausserdem sind Mode und Musik gute Bekannte, wenn nicht sogar enge Freunde. Von beiden erwartet man ständig neue Impulse, Leidenschaft, Identifikations- und Abgrenzungsmodelle gleichermassen, Ihr wisst, was ich meine. Diese Verbundenheit wird nachvollziehbar am Beispiel Devendra Banharts, der den Lagerfeld'schen Mix mit dem grossartig-durchgeknallten Folksmasher “I Feel Just Like A Child” eröffnet: in Albert Kochs rundweg empfehlenswerten Buch “Fuck Forever. Der Tod des Indie-Rock” erfährt man, dass Lagerfeld und Banhart gute Freunde sind. Also völlig plausibel, dass KL auch DBs Musik kennt – dieser Umstand führt wiederum dazu, dass CocoRosie, Freundinnen von Banhart, bei Lagerfelds Modenschauen häufig gespielt werden … eine inzestuöse Gemengelange, die völlig in Ordnung geht, wenn derart geschmackvolle Compilations dabei entstehen wie “Les Musiques que j'aime”. Die CD konnte mich übrigens von einem weiteren Vorurteil beziehungsweise Irrglauben befreien: jahrzehntelang war ich davno überzeugt, dass Magnete in der Nähe von digitalen Tonträgern nichts zu suchen haben, weil sie den Inhalt von selbigen zerstören. Stimmt auch nicht: das aufwendige Digipak von “Les Musiques” wird mittels Magnetstreifen geschlossen. Und die Musik ist auch nach den zehnten Oeffnen immer noch drauf. Die nächste Ausgabe der “Les Musiques”-Reihe wird übrigens von Sofia Coppola kompiliert, darauf kann man sich jetzt schon freuen.
Motel Lovers. Southern Soul
from the Chitlin' Circuit
(Trikont)
“Chitlins” oder “chitterlings” nennt man die in Fett ausgebackenen Eingeweide des Schweins, eine Delikatesse der “Soul Food”-Küche der meist armen schwarzen Südstaatenbevölkerung. Die Bars, Clubs, Casinos und Cafés, die im sogenannten Bible Belt im Südosten der USA dazu beitragen, traditionellen Rhythm'n'Blues am Leben zu halten, werden als “Chitlin' Circuit” bezeichnet, mehr ein mythischer als ein realer Ort. Was aber sehr real ist, ist die aktuelle schwarze Soulmusic des Chitlin' Circuit, deren wichtigste Vertreter das verdiente Label Trikont auf der CD “Motel Lovers” vorstellt. Von vielen der auf “Motel Lovers” versammelten Künstler hat man in diesen Breiten noch nie gehört, andere wie zum Beispiel Gwen McCrae, Exgattin von George McCrae (“Rock Your Baby”) und der unermüdliche Bobby Rush, der in Richard Pearces Dokumentarfilm “The Road to Memphis” porträtiert wurde, dürften zumindest Soulfans bekannt sein. Eine wichtige Rolle im Southern Soul spielt die “Big Bad Mama”, die dicke, starke Frau, die ihre sexuellen Wünsche dem Liebhaber ohne Verklausulierungen mitteilt – eine besonders eindrucksvolle Sängerin dieses Genres ist Big Cynthia, Tochter der Motown-Soullegende Junior Walker. Ihre Platten heissen zum Beispiel “Doing it Big” und meinen genau das. Auf “Motel Lovers” ist sie mit “Don't Rock the Boat” zu hören, einem bed-soul-track erster Güte. Die Texte des Southern Soul sind unverschlüsselt erotisch-deftig, Anspielungen sind eindeutig, ein beliebtes Motiv ist der Lover, der es nicht bringt: wenn Denise LaSalle “Drop that Zero” singt oder “(Your Love Is Like A) Wet Match”, weiss auch die unschuldigste Klosterschülerin, wovon die Rede ist. LaSalles Track auf “Motel Lovers” heisst “Long Dong Silver” und handelt von … genau. Aber es geht nicht nur um Sex, in einigen Songs wie Mr. Davids “Better When You Steal” kommt die Sorge um die schwarzen Jugendlichen zum Ausdruck, deren Zukunftschancen in Jackson oder Nashville nicht gerade positiv sind. Und es wird kräftig gefeiert und getanzt, wie man durch Mel Waiters' “Smaller the Club” oder “On the Chitlin' Circuit” von Bill Coday erfährt. Musikalisch changieren die Songs zwischen Oldschool-Motown-Soul, heissem Funk und schmachtenden Balladen. Vereinzelte Flirts mit HipHop oder modernem R'n'B machen aus der Musik des Chitlin' Circuit zu einem genuin schwarzen, zeitlosen Stilmix. Wer durch “Motel Lovers” neugierig geworden ist und mehr hören möchte, sollte diesen Internet-Livestream ausprobieren.
Nouvelle Vague presents New Wave
(District 6/!K7/Rough Trade)
Marc Collin und Gilles Leguen, besser bekannt unter dem Bandnamen Nouvelle Vague, wurden vor einigen Jahren schlagartig berühmt mit ihren charmanten Lounge- und Bossa-Neuinterpretationen von Achtzigerjahrehits, vornehmlich aus dem Wave-Sektor. So ist es nur konsequent, dass Collin und Leguen jetzt für das Label District 6 eine Doppel-CD kompiliert haben, auf der ausschliesslich Coverversionen zu finden sind, die Wave-und Postpunkbands in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern aufgenommen haben. Los geht's mit den Silicon Teens und ihrer Plastiktechno-Version von “You Really Got Me” (Kinks). Die Silicon Teens waren die Fake-Band von Mute-Chef Daniel Miller: die Silicon Teens bestanden aus einem einzigen Mitglied (Miller), er promotete die “Band” als Proto-Techno-Teeniecombo. Die Songs nahm er in seinem Schlafzimmer auf und war mit diesem Projekt ziemlich erfolgreich – das Original-ST-Album erzielt heute Höchstpreise bei ebay. Insgesamt 24 Tracks haben Collin und Leguen für ihren DJ-Mix zusammengetragen und das Ergebnis macht richtig Spass, wenn auch nicht alle Coverversionen dem Original das Wasser reichen können. OMDs Version von “Waiting for my Man” wirkt blutleer und kann die verschlunzte Drogengier Lou Reeds nicht transportieren, Gary Numan quäkt sich durch “On Broadway”, (absichtlich?) leiernde Synthies klingen nicht nach glamourösem Broadway, sondern nach Fussgängerzone Wetzlar. Ebenfalls ziemlich schrecklich ist Visages Version von “In the Year 2525”, das schon im Original (Zager & Evans, 1969) kaum zu ertragen war. Andererseits kann man Visage für ihre verunglückte Interpretation durchaus dankbar sein, führt sie doch klar vor Augen/Ohren, wie grausam und bodenlos kitschig Zager & Evans' Weltuntergangsszenario war und immer sein wird.
Die meisten Songs sorgen aber für positive Irritationen: nach wie vor erstaunlich, was Devo aus “Satisfaction” herausholten, oder wie der mutmassliche Residents-Gitarrist Snakefinger Kraftwerks “The Model” mit Surfgitarre auf ein völlig anderes Level bringt. Die Stranglers lassen Burt Bacharachs “Walk on By” (die populärste Version dieses Stücks sang Dionne Warwick) mit progrockig-jazzigen Orgelorgien psychedelisch ausfasern und bringen den Song auf gefühlte 28 Minuten. Antonio Carlos Jobims “Girl From Ipanema” wird in der Bearbeitung durch Antena zum “Boy” und klingt, als käme er von outer space und nicht vom Strande Rio de Janeiros. Locker tanzbar ist Paul Haigs Version von “Running Away”, schlichtweg grandios klingt auch heute noch “I Heard It Through The Grapevine” von den göttlichen Slits, und Joy Division machen aus Velvet Undergrounds “Sister Ray” eine klirrend-kalte Endzeithymne. Duran Duran und Nico interpretieren Bowie: Nicos todesdüstere “Heroes”-Darbietung lässt die Stylepopper DD mit “Fame” blass und bubihaft aussehen. Aber die Nouvelle-Vague-Jungs haben nicht nur Platten aus dem angloamerikanischen Bereich herausgekramt, einige französische Künstler sind auch dabei, wie zum Beispiel Telex und Jo Lemaire, der wie ein Vorläufer von Stereo Total klingt. Wer die Band Elton Motello nicht kennt und denkt, die hätten “Ca Plane Pour Moi” geklaut und ihn in “Jet Boy Jet Girl” umbenannt: EM aus Belgien waren Plastic Bertrands erste Band, damals hiess er noch Roger Jouret und spielte mit eben dieser Band den Song “Jet Boy Jet Girl” ein. Als Jouret etwas später den Produzenten Lou Deprijck traf, entschlossen sich die beiden, den Song mit französischem Text neu zu veröffentlichen – und Jouret einen griffigeren, punkigeren Namen zu geben. Sofort ging “Ca Plane …” total ab, blieb aber leider Plastics einziger grosser Hit. “Nouvelle Vague presents new Wave” sorgt nicht nur für freudige Wiederhörenserlebnisse mit einem verloren geglaubten Sound, sondern liefert auch jede Menge Gründe zum Forschen im Archiv …ein schönes Geschenk für Nostalgiker und Neueinsteiger.
Tales from the Australian Underground
Volume I and II
(Feel Presents)
Um diese insgesamt vier CDs den geneigten Lesern/Hörern schmackhaft zu machen, bedarf es eigentlich nur der Aufzählung einiger auf diesem gigantischen Samplerprojekt vertretenen Bands: The Saints/Ed Kuepper, Radio Birdman, The Triffids, The Birthday Party, The Celibate Rifles, Cosmic Psychos, Hard-Ons, Hoodoo Gurus, Laughing Clowns, Died Pretty, The Mark of Cain … reicht das? Man könnte ausserdem noch erwähnen, dass es sich bei “Tales …” um ein wirklich einzigartiges Unterfangen handelt: der Kompilator und Feel Presents-Labelchef Tim Pittman war 13 Jahre alt, als er im Jahre 1977 seine erste Radio Birdman-Platte kaufte – der kleine Tim war sofort infiziert. Im Lauf der Jahre wurde Pittman zu einer der wichtigsten Figuren der australischen Independent-Szene. Ansässig in Sydney, arbeitete er als Manager (zum Beispiel für die kurzlebige Band “The Eastern Dark”, oder wesentlich erfolgreicher für die noch heute schwer aktiven Hard-Ons), er promotete The Mark of Cain und Kim Salmon, arbeitete als Talentscout für den legendären Trade Union Club (Sydney). Heute kümmert er sich um das Label Feel Presents und organisiert Australien-Tourneen für Künstler wie Henry Rollins, Mercury Rev und – Radio Birdman.
Die legendäre Punkband ist heute noch rund um den Erdball unterwegs, gereift zwar, aber ohne wesentliche Alterserscheinungen. Birdman eröffnen beide CD-Pakete, für deren Zusammenstellung ein Kriterium Bedingung war: alle Songs mussten auf einer Single, also im 45-rpm-Format erschienen sein. Pittman verbrachte viele Jahre damit, Platten zu sichten und zu sammeln und hat eine Anthologie von höchstem Wert geschaffen: Die “Tales …” zeigen, dass Australien schon sehr früh eine eigenständige Punk- und Waveszene besass, die den Vergleich mit den USA und UK nie scheuen musste. Musikalische Entwicklungen fanden gleichzeitig statt, es gab keine einheitliche Szene oder einen charakteristischen Aussie-Sound: Punkrock von Bands wie den Hitmen oder den Hard-Ons exisitierte parallel zu elektropoppigen Experimenten von La Femme oder den Passengers. Nick Cave und The Birthday Party beziehungsweise deren erste Erscheinungsform The Boys Next Door klangen während ihrer Australienzeit noch lange nicht so düster wie später, als sie gen London zogen – nachzuhören auf ihrer ersten Single “Happy Birthday”, das natürlich auf “Tales …” zu finden ist. Grosse Popentwürfe wie die Musik der Triffids oder der Riptides erreichte leider nie den Bekanntheitsgrand der wahrscheinlich bekanntesten australischen Gitarrenpopband, den Go-Betweens, die auf den Samplern nicht vertreten sind – aber diese Band kann schliesslich als bekannt voraus gesetzt werden, was man von den meisten Acts auf “Tales …” nicht behaupten kann. Wer sich für Punk, Wave und Postpunk interessiert und sich mit den sattsam bekannten Vertretern aus USA und UK nicht begnügt, kommt an diesen Samplern nicht vorbei – würde satt.org einen „CD-Tipp des Monats“ vergeben, „Tales from the Australian Underground“ wäre Spitzenkandidat für mindestens ein halbes Jahr!