„Berlin“ in Berlin
Am Dienstag, den 26. Juni 2007, brachte Lou Reed im mit 2.700 Besuchern nicht ganz ausverkauften Tempodrom sein Album „Berlin“ zur Aufführung – vierunddreißig Jahre nach seiner Entstehung.
Bei „The Bed“ wurde es dann doch kurz theatralisch: Lou Reeds Worte echoten durch den Raum, „Blood – Blood – Blood“, während der Mädchenchor „What a feeling“ säuselte. In solchen Momenten verwandelte sich Lou Reed von einem Sänger in einen Schauspieler, der die Figuren seiner Stücke zum Sprechen bringt – hier einen Menschen, der eine geliebte Frau nach ihrem Selbstmord auffindet.
Lou Reeds Konzeptalbum „Berlin“ ist ein Liederzyklus über den Schmerz und die Trennung, ein depressives, zeitloses, popsymphonisches Meisterwerk, entstanden in London, in dem Themen wie Drogensucht, Gewalt und Selbstmord verhandelt werden. Fans und Kritiker waren damals allerdings gleichermaßen enttäuscht, denn sie hatten auf eine Fortsetzung des „Transformer“-Albums gehofft, jenes unbeschwerten Glamrock-Klassikers mit dem Welthit „Walk on the Wild Side“, den Lou Reed 1972 gemeinsam mit David Bowie produziert hat.
Dabei hätte man es ahnen können, denn Reeds Vorstellungen des Genres hatten kaum etwas gemeinsam mit dem damals in Europa verbreiteten Gitarrenschunkeln dauergewellter Glitzeranzugträger. Lou Reeds Haare waren ultrakurz, er trug ein Nietenhalsband, und hinter der Maske aus Lippenstift und Schminke konnte man die Tragik der Drag-Queens, das ganze Elend des New Yorker Undergrounds und Lou Reeds Zorn auf die Gesellschaft entdecken. Seine Auftritte zu dieser Zeit waren wie seine Texte: Einfach, direkt, intensiv und wunderschön.
Dass Lou Reed einer der wandlungsfähigsten Rockpoeten ist, hatte er bereits zu „Velvet Underground“-Zeiten bewiesen. Einerseits begeisterte er mit sentimentalen, zuckerwattigen Balladen wie „I’ll be your mirror“ oder „Sunday morning“, auf der anderen Seite steht dann das zweite, popgeschichtlich enorm einflussreiche „VU“-Album „White light/White heat“ von 1968 mit seinen bösartigen, schockierenden Texten und punkigen Lärmorgien wie „I heard her call my name“ oder das schier endlose „Sister Ray“. Nach dem Misserfolg von „Berlin“ entfernte sich Lou Reed allerdings zunehmend von seinen Hörern. In den folgenden Jahren zog er es vor, sein Publikum zu beleidigen – der Begleittext zu Reeds unhörbarem, lied- und wortlosen Doppelgitarrenfeedbackalbum „Metal Machine Music“ endet mit dem Satz „My week beats your year“ – oder seine Kritiker zu beschimpfen, so zu hören auf dem Livealbum „Take no prisoners“ von 1978.
Inzwischen aber ist Lou Reed längst im Rock- und Pop-Olymp angekommen, und seine Flirts mit der Hochkultur werden nicht erst seit seiner Heirat mit der Musik- und Performance-Grenzgängerin Laurie Anderson heftiger. 1996 und 2000 inszenierte Robert Wilson Reeds Musicals „Time Rocker“ und „Poetry“, Reed selbst veröffentlichte mehrere Fotobücher, arbeitete mit Paul Auster, Wim Wenders, Jim Jarmusch und Philip Glass zusammen, und eine Transkribtion seines „Metal Machine Music“-Albums für klassische Instrumente wurde 2002 im Rahmen des „MaerzMusik“-Festivals in Berlin aufgeführt.
Wer im Tempodrom nun einen Theaterabend mit Rockmusik und „gespielten Songs“ erwartete, wurde zum Glück enttäuscht. Das Bühnenbild war schlicht und unaufdringlich, die Band spielte vor einer Wand, an der sporadisch Videosequenzen projiziert wurden. Ungewöhnlich für ein Rockkonzert waren allerdings das siebenköpfige Streicher- und Bläserensemble rechts und der standhafte, sich meist in der Musik wiegende, in blaue Gewänder gehüllte zwölfköpfige Mädchenchor auf der linken Seite der Bühne. Der Mädchenchor hob zu einem „Sad Song“-Vorspiel an, die Musiker ließen es gewaltig krachen, das Publikum war vom ersten Moment an begeistert und ließ sich später sogar zum Mitklatschen animieren. Das Konzert bot eine mitreißende Version von „Caroline says I“ und eine zu Herzen gehende Version von „Caroline says II“. Bei „How do you think it feels“ lieferte sich Lou Reed ein packendes Gitarrenduell mit dem großartigen Steve Hunter. Mit einer euphorischen „Sad Song“-Version endete schließlich die großartige, mal rockige, mal süße, auf alle überflüssigen Sperenzchen verzichtende Aufführung.
Das vom Maler und Regisseur Julian Schnabel dezent inszenierte, zuvor bereits in New York und Sidney aufgeführte Konzert des knapp fünfzig Minuten langen Albums begann vor dem Ende der Tagesschau und dauerte eine Stunde und fünf Minuten. Danach bedankte sich Lou Reed ausgiebig bei seinen Mitstreitern, der Vorhang schloss sich und öffnete sich kurze Zeit später für drei Zugaben: Eine mitreißende Version von „Sweet Jane“, bei der es kaum jemand mehr auf seinen Sitzen hielt, eine am Anfang schlafwandlerische, gegen Ende hymnische Version von „Satellite of love“ und zum Abschluss Lou Reeds Klassiker „Walk on the wild side“. Bereits um zweiundzwanzig Uhr konnte man in die S-Bahn steigen, es war ein perfekter Abend!
(Erstveröffentlichung in der F.A.Z. vom 28. Juni 2007)