Sampler im Juni
Mit den im folgenden vorgestellten vier Samplern feiern wir 40 Jahre Trojan Records und begeben uns auf eine Reise zur anderen Seite des Globus (von Jamaika aus gesehen): der indische Kontinent beeinflusst den Rest der Welt nicht nur meditativ-mental, sondern auch musikalisch. Nachzuprüfen anhand der Compilation “Indiarama”.
Angesichts des hier ausgewählten Materials kommt man nicht umhin, das Bild der musikalischen Reise zu bemühen – wir steuern Jamaika und Indien an, Traumziele seit jeher für Aussteiger und Sinnsuchende aller Couleur. Wahrscheinlich ist die Behauptung nicht allzu gewagt, dass die ungebrochene Faszination beider Länder nicht nur mit Religionen wie Hinduismus und Rastafari, sondern auch mit den charakteristischen Musiken zu tun hat, die auf europäische und angloamerikanische Künstler so inspirierend wirken wie nur wenige andere. Wir starten auf Jamaika, dem unabhängigen Inselstaat in der Karibik, von dem aus so hoffnungsvolle Reggaemusiker wie Bob Marley und Peter Tosh ihren Weg zum Ruhm antraten. Tosh und Marley veröffentlichten viele Platten auf dem berühmten Reggae-Label Island Records, jedoch ist kein Label so eng mit der Geschichte vieler jamaikanischer Musiker verbunden wie Trojan Records. Dessen Sitz befindet sich zwar seit 40 Jahren in London, die Trojan-Saga aber beginnt in den fünfziger Jahren auf Jamaika: der Schnapshändler Arthur “Duke” Reid, ein ehemaliger Polizist, fuhr seine flüssigen Waren mit einem englischen Lieferwagen der Marke Trojan aus. Bald funktionierte der musikbegeisterte Reid den Laster zu einem Soundsystem um und beschallte seine Heimatstadt Kingston während seiner Auslieferungsfahrten. Er gründete ein eigenes Label, auf dem er zunächst Calypso-Singles veröffentlichte; der Grundstein für Trojan Records war gelegt. Viel später, nämlich im Jahre 1967 nahmen Chris Blackwell und Lee Gopthal von Island Records die Marke Trojan als Island-Tochterunternehmen unter ihre Fittiche. Der „Duke“ starb 1974, aber seine Legende lebt in Trojan Records weiter, das Label ist bis heute der Garant für erlesene Ska-, Rocksteady-, Dub- und vor allem Reggaeaufnahmen. Trojan veröffentlicht bevorzugt umfangreiche Compilations, die die erstaunliche Menge an Musik dokumentieren, die aus einem Land stammt, dessen Bevölkerungszahl weit unter drei Millionen liegt. Jeder Jamaikaner ein Musikant? Das wäre spekulativ, aber jeder Jamaikaner dürfte zumindest jemand kennen, der Platten veröffentlicht oder mit einem Soundsystem für die Wochenendparty sorgt.
Johnny Greenwood is the Controller
Zum 40. (offiziellen) Geburtstag von Trojan Records erscheinen jede Menge neue Zusammenstellungen, den Kick-Off für die ganzjährigen Feierlichkeiten durfte Jonny Greenwood bestreiten, seines Zeichens Gitarrist von Radiohead. Der erklärte Reggaefan schloss sich für mehrere Monate zu Hause ein, um den umfangreichen Trojan-Katalog zu sichten. Schliesslich wählte er 17 für ihn essenzielle Tracks aus, die auf dem Sampler „Jonny Greenwood is the Controller“ versammelt wurden. Greenwoods Auswahl ergab kein Best-of-Album mit gefälligen Hits, sondern deckt alle Varianten jamaikanischer Musik ab – die Bandbreite reicht von Dub über Rocksteady, Reggae und Ska. Marcia Aitkens Song „Still in Love“ ist eher pop- und soulaffin, Greenwoods Herz schlägt aber auch für die visionären Dubexperimente von Lee „Scratch“ Perry, der mehrfach auf der Compilation vertreten ist und dessen Werke von Greenwood in eine Reihe mit Stockhausen und den Beatles gestellt werden. Greenwood wählte Perrys obskures „Bionic Rats“ und „Black Panta“, das Jonathan Richman gehört haben muss, als er seinen „Egyptian Reggae“ aufnahm.
Klassiker des Trojan-Sounds wie Desmond Dekker & The Aces („Beautiful and Dangerous“) und The Heptones mit „Cool Rasta“ sind ebenso vertreten wie Coverversionen angloamerikanischer Pophits wie „Fever“, hier in der Version von Junior Byles. Jeder einzelne Track legt Spuren zu anderen Songs, so weiss der Kenner, dass die Rhythmusspur von „Still in Love“ auch bei „Three Piece Suit“ von Trinity und, wesentlich populärer, bei Althea & Donna's UK-Nummer-Eins-Hit „Uptown Top Ranking“ zum Einsatz kam. Wer solches Insiderwissen verzeihlicherweise nicht besitzt, kann jede Menge interessanter Verweise in Greenwoods unaufdringlichen, kenntnisreichen Linernotes nachlesen.
The Tennors: Reggae Girl
Werbebegriffe wie “Unkaputtbar” sind keine neumodische Erfindung: schon in den sechziger Jahren wurde die jamaikanische Vokalistengruppe The Tennors auf Plakaten als “Fantabulous”angekündigt. 1967 von Clive Murphy und Alvin 'Cheng Cheng' als Duo gegründet, blieben The Tennors bis heute unverzeihlicherweise eine Randnotiz in der popkulturellen Wahrnehmung. Dabei sprechen die jamaikanischen Charts der Mid-Sixties eine andere Sprache: Hits der Tennors wie “Ride Your Donkey”, “Reggae Girl” und “Khaki” dominierten die Hitlisten, der Harmoniegesang von Murphy und Alvin über einem “soft-rocking” Beat wurde stilprägend für zeitgenössische Skabands. Viele Gruppen bildeten sich nach ihrem Vorbild, zum Beispiel The Wailers, The Ethiopians, The Melodians und viele mehr. Die perfektionierten Sangeskünste gaben denjenigen eine Stimme, die sonst eher keine hatten: armen Arbeitern, den Slum- und Ghettobewohnern Kingstons. Ab 1967 begann der Stern des Ska zu sinken, Rocksteady war der neue Hype: The Tennors traten nun zu dritt auf (Norman Davis hiess der neue Mann) und modifizierten ihren soften Sound mit “angesagten” Instrumenten wie der Posaune, die durch Musiker wie Don Drummond zum prägenden Instrument jamaikanischer Musik wurde. Auch wenn The Tennors nur zwei Hits gehabt hätten (die bereits erwähnten “Ride Your Donkey” und “Reggae Girl”), wäre ihnen ein Platz im Reggae- und Skaolymp sicher gewesen. Glücklicherweise war die Band bis zu ihrer Auflösung 1975 sehr aktiv und veröffentlichte jede Menge Singles und Alben, die Doppel-CD-Compilation “Reggae Girl” bietet eine feine Werkschau, wie immer bei Trojan chronologisch sortiert.
Slack Reggae Box Set
Wer einen runden Geburtstag feiert, darf auch mal richtig auf die Kacke hauen und auf die gute Kinderstube pfeifen: das Dreier-CD-Set “Slack Reggae” beinhaltet 50 explizite Tracks, die ausschliesslich um ein Thema kreisen, nämlich Sex. Am allerliebsten in der gockelhaften Machovariante, vertreten durch Leute wie Derrick Morgan, Beenie Man, Chinnaman oder Ranking Joe, zur Verdeutlichung ihres Anliegens möge die Aufzählung einiger Songtitel genügen: “Lift it Up”, “Horney, Horney”, “I Come to Grind Your Daughter” oder Yellowmans subtile Bitte “I Want a Virgin”. Dass jamaikanische Musik, besonders die glaubensfester Rastafarians, Homosexuelle disst (wobei das verbale Dissen noch die freundlichere Verhaltensweise ist: Schwule auf Jamaika müssen nicht selten um ihr Leben fürchten) und nur Heteros duldet, ist bittere Wahrheit. Mit viel gutem Willen kann man das “Slack Reggae Box Set” als vitale (meist virile) Huldigung der körperlichen Liebe sehen, ein Nachgeschmack aber bleibt. Natürlich gibt es auch auf dieser Zusammenstellung Highlights, man muss sich nur einen Weg durch all die feuchten Laken und erigierten Körperteile bahnen, die einem hier entgegengestreckt werden. Sehr eindrücklich verdeutlicht Clement Iries “Agony”, was es bedeutet, wenn mann mal nicht kann; auch Princess & Sister Wendys “Nah Run From It” und Galaxy P's “Gal A Weh You Do Me” heben sich wohltuend vom Sexgeprotze der meisten anderen Tracks ab. Das “Censored”-Banner quer über dem Cover dürfte befriedigende (hihi) Verkaufszahlen garantieren, die Zusammenstellung ist offensichtlich für lange DJ-Nächte gemacht, alle Tracks faden aus und eignen sich daher perfekt fürs Soundsystem des nächsten Beach- oder Swingerclubs.
Indiarama
(2 CDs + DVD,
Wagram Music)
Wie kommt man am schnellsten von Jamaika nach Indien? Am besten wendet man sich östlich und dann immer geradeaus, denn Jamaika und Indien liegen sich auf dem Globus fast gegenüber. Wer den weiten Weg scheut, dem sei die opulente Compilation des französischen Wagram-Labels empfohlen. Das Cover von “Indiarama” spielt mit allen Klischees, die man mit Indien verbindet: Bollywood-Kitsch, Schlangenbeschwörer, Tempeltänzerinnen, Sitarspieler - alles dabei. Aber “Indiarama” ist kein Greatest-Hits-Sampler, der sich aus Bollywood-Soundtracks speist. Der indische Musiker, Sänger, Tänzer und Choreograph Raghunath Manet hat den Sampler zusammengestellt und unterteilt die Tracks in zwei Hauptströmungen: CD 1 widmet sich unter der Überschrift “Lounge & Zen” rhythmisch eher gemässigtem Downbeat, CD 2 featuret Indian Dancefloor. Raghunath hat nicht nur “echte” indische Musiker versammelt, sondern auch Stücke europäischer und amerikanischer Künstler ausgewählt, die von indischer Musik inspiriert wurden. Durchgängig dominieren zwar die typischen Instrumente Tabla und Sitar, aber Einflüsse aller Art sind kompatibel und gewünscht. So findet sich auf CD 1 der britische Gitarrengott (nein, nicht Eric Clapton) John McLaughlin, der sich in den siebziger Jahren stark mit indischer Musik beschäftigte. Er gründete 1971 das Mahavishnu Orchestra, etwas später die Band Shakti, mit der er bis 1978 wegweisende, hochenergetische Fusion-Platten herausbrachte. Auf “Indiarama” ist er mit dem Track “Peace One” vertreten, der einen Einblick in McLaughlins Arbeit gibt, die auch heute noch die Entdeckung lohnt. Ebenfalls dabei ist Punk- und Dubveteran Jah Wobble, der wegen seiner Liebe zu Musik aus aller Welt eigens das Label 30 Hertz gründete. 1999 nahm er mit seiner Band Invaders of the Heart den Track “Waxing Moon” auf, der hier zu hören ist. Tablaspieler Talvin Singh ist ein kultureller Hybrid, wie er im Buche steht, oder in den Büchern von Hanif Kureishi oder Zadie Smith aufzufinden sein könnte: als Sohn indischer Einwanderer in London aufgewachsen, pendelt er zwischen beiden Welten, was sich auch in seiner Musik niederschlägt. Seine Tabla-Künste verwebt er virtuos mit britischem Pop, sein Track “Meeting” ist ein Beispiel für diese grenz- und genreüberschreitende Kunst. CD 2, schlicht “Dancefloor” betitelt, lässt es mit den wilden Beats der Asian Dub Foundation, Fun da Mental und Panjabi MC richtig krachen, ein Muss für jede Indian-Vibes-Clubnacht. Ein paar knallbunte Impressionen gibt es aber doch zum Gucken: die beiliegende DVD präsentiert Videos indischer Stars wie Ashna, Kunika oder Baby H.