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Juni 2007
Christina Mohr
für satt.org

satt.org sprach mit Matthias Einhoff,
Sänger und Texter von Ragazzi


Ragazzi: Lumber
(Staatsakt 2007)

Ragazzi: Lumber
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Ragazzi: Under Construction
Foto: Lars Borges

Ragazzi sind:
Matthias Einhoff
(Vocals, Gitarre, Piano)
Robert Schätzle
(Schlagzeug)
Dirk Kretz
(Gitarre, Gesang)

Ragazzi aus Berlin verwirren gern: so riss ihre smarte Blues- und Boogiemixtur kürzlich einen Konzertbesucher zu dem Zwischenruf „Ihr spielt ja Bluesrock!“ hin. Matthias Einhoff, Sänger und Texter der Band, lacht: „Das war der typische Indie-Fan, der hat offenbar etwas ganz anderes erwartet!“ Ragazzis neues Album „Lumber“ spielt sehr locker mit verschiedenen Stilelementen; Blueselemente, Westcoastsound, Boogieklavier, poppige Melodien und hier und da eine Hardrockgitarre ergeben ein anspruchsvolles, aber leichtfüssiges Ganzes, das von den Hörern eine gewisse Offenheit einfordert. Eingefahrene Gewohnheiten sind definitiv fehl am Platz: Der sehr eingängige Opener „Forer You“ kontrastiert mit dem abgehangenen Blues von „K2“, die dramatische Melodieführung von „The Knight“ lässt an Placebo denken. „Memory Mate“ ist ein überschwenglicher Hit, auf den Supergrass stolz sein könnten, wenn sie ihn denn geschrieben hätten: Einhoffs sanfte Vocals stemmen sich schräg gegen die knackigen Gitarrenläufe, Britpop at its best aus good old Berlin. „Boys in Jeans“ mit seinem treibenden Beat und dem lässig-flanierenden Pianoplinkern ginge als verträumter Popsong durch, bis die Gitarre eintritt und eine ganz andere Geschichte von Jeans und Boogie erzählt. Ragazzi exisitieren seit neun Jahren, mit ihrem Album „Friday“, das 2003 bei Buback erschien, definierten sie den grossen Popentwurf britischer Prägung neu, Vergleiche mit Rialto, Clinic und Zoot Woman wurden gezogen. Für „Lumber“ wandten sie sich Blues und Boogie zu, also eher „altmodischen“ Stilrichtungen, die den geneigten Indiefan vor Rätsel stellen, siehe oben. satt.org sprach vor dem Konzert im Frankfurter Cooky's am 31.5. mit Matthias Einhoff.

CM: Wer eure letzte Platte „Friday“ kennt, wird vom neuen Album vielleicht etwas verwirrt sein. Statt britisch geprägtem Pop verwendet Ihr jetzt Blueszitate – ist das eine ironische Geste?
Matthias Einhoff: Wir zitieren und interpretieren nur, was wir mögen. Wir verwenden vom Blues, was uns gefällt und lassen das weg, das uns nicht gefällt. Beim Blues ist das zum Beispiel die Schwere, das Machohafte, Allzu-Männliche. Die Harmonien und Melodien hingegen lieben wir sehr, also gehen wir nicht ironisch vor.

CM: Also ähnlich wie PJ Harvey, die den Blues für sich auf sehr individuelle Weise interpretiert?
ME: Ja, genau, PJ Harvey ist ein guter Vergleich, auch wenn sich ihre Musik ganz anders anhört als unsere, viel depressiver. Aber sie geht ähnlich vor, befreit den Blues vom Machogehabe.

CM: Als ich zum ersten Mal Frank Zappas „Dancin' Fool“ (vom Album „Sheik Yerbouti“) war ich begeistert, weil man dazu toll tanzen konnte. Als ich dann erfuhr, dass er die Discobewegung damit auf die Schippe nahm, war ich irgendwie beleidigt …
ME: Das ging mir ganz genau so, als ich Zappa zum ersten Mal hörte! Zappa wollte immer zeigen, wie toll er spielen kann und wirkte deswegen schnell zynisch. So sind wir nicht – wir zitieren liebevoll und freundlich. Wir würden niemals irgendetwas spielen, nur um zu beweisen, dass wir es können. Und wir möchten keinen Stil lächerlich machen oder vorführen. Wir müssen die Musik schon mögen!

CM: Auch auf die Gefahr hin, missverstanden zu werden?
ME: Ja, das kalkulieren wir ein!

Die Verwirrung wird noch weiter getrieben: Das Album heisst 'Lumber', im Booklet sieht man die Band mit Holzfällerhemden und Motorsägen – was steckt hinter dieser Holzfixierung? Ist das als Wink in Richtung David Lynchs 'Twin Peaks' zu verstehen? In dieser Serie spielte das Holz ja eine ganz bedeutende Rolle … Einhoff lächelt wieder, „das Holz hat gar nichts zu bedeuten.“ Vielleicht sollte man erwähnen, dass Matthias Einhoff Gründungsmitglied der Künstlergruppe Superschool ist, die unter anderem Videos für befreundete Bands wie Kante drehen; ausserdem hat Einhoff einen Lehrauftrag für Aesthetische Praxis an der Universität der Künste/Berlin, Kunst und Musik gehen bei Ragazzi also Hand in Hand. Das Ausprobieren verschiedener Stile, die Wechselwirkung zwischen optischer Gestaltung und musikalischem Experiment schliesst sich nicht aus, sondern bedingt einander. Ein Textauszug aus „Not Exactly“ vom neuen Album mag helfen, das künstlerische Konzept von Ragazzi zu entschlüsseln:

A simple way is what's preferred
an open field with missing fence
a simple tale with open end
a simple plan in open space
a simple aim at open pace

CM: Ihr tretet nachher gemeinsam mit Kissogram auf, die wie Ihr auf Englisch texten – wollt Ihr Internationalität demonstrieren, gerade jetzt, da jede Band meint, deutsch singen zu müssen?


Ragazzi live:
21. Juni 2007, Kassel, A.R.M., Documenta
13. Juli 2007, Gräfenhainichen, Melt-Festival
20. Juli 2007, Bang Bang Club, Berlin
ME: Englische Texte fallen mir sehr leicht, weil meine Mutter Engländerin ist. Ich bin zweisprachig aufgewachsen und muss nicht „umschalten“, wenn ich einen englischen Text schreibe. Ich denke sozusagen in beiden Sprachen. Englisch gibt einer Band mehr Freiheiten - auch wenn wir nicht nach internationalem Erfolg schielen, finden wir es sehr gut, nicht nur auf einen Markt beschränkt zu sein. Wobei wir natürlich nicht in „Marktdimensionen“ denken, das ist ein blöder Begriff. Aber man kann potentiell mehr Aufmerksamkeit erreichen.

CM: Apropos Aufmerksamkeit: Ihr seid auch bei myspace zu finden, hilft euch das Netz?
ME: Klar, schon. Wobei ich aber das „Freunde“-Getue bei myspace mit Vorsicht betrachte. Dieses „darf-ich-euer-freund-sein-added-ihr-mich“ bedeutet nichts, man added sich gegenseitig und trifft sich im echten Leben meistens doch nicht. Das bedeutet nicht wirklich etwas.

CM: Euer neues Album erscheint bei Staatsakt, wie kam die Zusammenarbeit zustande?
ME: Unser Musikverlag hat mögliche Labels ausgesucht, die für Ragazzi in Frage kommen könnten. Mit Maurice (Summen) von Staatsakt haben wir uns gleich super verstanden: wir haben ähnliche Ziele und Ideen, und im Staatsakt-Umfeld fühlen wir uns sehr gut aufgehoben.

CM: Um nochmal auf Eure Tourkollegen Kissogram zurückzukommen: Kissogram gelten gerade als Berlin-Boheme-Vorzeigeband – seht Ihr Euch auch als Teil einer Boheme?
ME: Nein, dieses Gefühl habe ich wirklich nicht. Wir sehen uns keinesfalls als Bohemiens, zumal wir sowieso nicht von der Musik leben können, sondern Jobs nebenbei haben. In meinem Fall (Superschool, siehe oben, Anm. cm) verlasse ich mein Interessengebiet nicht, es wäre schon anders, wenn ich an einer Supermarktkasse sitzen würde, um das Geld für die Miete zu verdienen. Und Berlin bietet natürlich gewisse Vorteile, gerade für Künstler. Das ist hier in Frankfurt bestimmt viel schwieriger, weil alles so teuer ist. In Berlin sind die Mieten billig, es gibt viele Auftrittsmöglichkeiten für unterschiedliche Szenen, die Bands und Musiker kennen sich untereinander und unterstützen sich gegenseitig. Unser Produzent Christian Uhe a.k.a. Krite arbeitet sonst viel mit Masha Qrella zusammen, mit der wir auch gut befreundet sind – so bilden sich Communities, von einer „Boheme“ würde ich in unserem Fall aber nicht reden.



» www.ragazziworld.de
» www.staatsakt.de
» myspace.com/ragazziland
» www.superschool.de