Als Alan Wilder noch Keyboarder von Depeche Mode war, galt er als der ernste introvertierte Tüftler, der sich ausschliesslich für Musik interessierte und keinerlei Superstarambitionen hegte. Das kollidierte sehr häufig mit der Haltung seiner Bandkollegen, die ihren Ruhm in vollen Zügen genossen und sich dem hedonistischen Popstardasein hingaben. Feiern war für Dave Gahan, Martin Gore und Andrew Fletcher in dieser Zeit meistens wichtiger als die künstlerische Weiterentwicklung - 1995 zog Wilder die für sich einzig logische Konsequenz und verliess am 1. Juni, seinem 36. Geburtstag, die Band. Schon Ende der achtziger Jahre hatte Wilder sein Nebenprojekt Recoil ins Leben gerufen, mit dem er elektronische Experimente düsterer Färbung aufnahm. Auch bei Recoil blieb er gern im Hintergrund, drehte die Regler und lud GastsängerInnen wie Diamanda Galas, Sonja Madden (Echobelly) oder Douglas McCarthy (Nitzer Ebb) ein, die den Recoil-Tracks ihre Stimmen liehen. Dazu arbeitete er für befreundete Bands wie Nitzer Ebb als Produzent (zum Beispiel für das Ebb-Album „Ebbhead“). 1994 zog sich Wilder ins Private zurück: er heiratete Hepzibah Sessa, ehemalige Sängerin von Miranda Sex Garden, die an allen Recoil-Projekten beteiligt ist. Das Paar hat zwei Kinder und lebt zurückgezogen in Sussex.
Sieben Jahre zogen seit der letzten Recoil-Platte „Liquid“ ins Land, jetzt endlich gibt es ein neues Album: „SubHuman“ heisst es und negiert alle Gesetze leicht verdaulicher Popmusik. Wilder hat den Blues entdeckt und zwar den schweren, düsteren Louisiana-Blues, in dem es um nichts weniger als Leben und Tod, Sünde, Schuld und die Unmöglichkeit der Erlösung geht.
Die sieben Tracks sind episch lang, „Intruders“ bringt es auf gut 12 Minuten, das gospelähnliche „Allelujah“ auf neuneinhalb. Der Opener „Prey“ wummert verstörenden Elektroblues aus den Boxen, dazu erklingt die von einem schweren Erdendasein gezeichnete Stimme des Bluessängers Joe Richardson, den Alan Wilder im Internet ausfindig machte. Die Zusammenarbeit erwies sich als Glücksgriff: Richardson, der noch nie mit elektronischer Musik in Berührung gekommen war, zeigte sich sehr interessiert an Wilders Arbeit und sagte sofort zu, als dieser ihn bat, auf seinem Album zu singen. Als weiblichen Gegenpol lud Wilder die Sängerin Carla Trevasky ein, die schon mit Apollo 440 und Portishead gearbeitet hat. Beide Stimmen passen grossartig zu den dunklen elektronischen Klängen, die der „stille Tüftler“ Alan Wilder im Studio zusammengebastelt hat. Die Texte prangern Gedankenlosigkeit und Selbstsucht der Menschen an, so heisst es in „5000 Years“: „You only feel the pain you deal and deal and deal / and your world's still crumblin' down / Peace can't be known, that dove has flown / and your world's still crumblin' down“. Harter Stoff, Optimismus klingt anders.
Am 23.5.2007, es ist der Abend des Champions League-Finales (Mailand : Liverpool), darf satt.org mit Alan Wilder telefonieren - der sich als charmanter, aufgeräumter und extrem freundlicher Gesprächspartner erweist, dem man die Weltverdrossenheit von „SubHuman“ gar nicht zutrauen mag …
CM: Hallo Alan, wie gefällt's dir in Berlin? Wie ist dein Hotel?
AW: Berlin ist eine tolle Stadt, ich bin sehr gerne hier! Das Hotel, in dem ich wohne, ist wirklich cool – ein bisschen sehr cool, wenn du weisst, was ich meine …(Alan Wilder und Hepzibah Sessa residieren im Q Hotel/Hackescher Markt)
CM: Warum hat' s so lange gedauert mit der neuen Platte? Das letzte Recoil-Album ist sieben Jahre alt ….
AW: Das war bisher bei jedem Interview die Einstiegsfrage!
CM: Oh, Entschuldigung …
AW: Kein Problem, ich habe ja auch wirklich ein ganz schlechtes Gewissen! Es war auf keinen Fall meine Absicht, mir so lange Zeit zu lassen. Andererseits hatte ich nicht das Gefühl, nichts zu tun, weil ich kontinuierlich an Tracks und Sounds arbeite, ganz ohne Druck. Dabei habe ich allerdings vergessen, mich um moderne Technik zu kümmern (lacht), ich musste erstmal mein gesamtes Equipment auf den neuesten Stand bringen, als wir mit den Aufnahmen zu „SubHuman“ begonnen haben.
Und ich habe es während der letzten Jahre sehr genossen, mehr Zeit mit meiner Familie, den Kindern zu verbringen. Irgendwie gingen die Jahre sehr schnell vorbei ….
CM: Wie alt sind deine Kinder?
AW: Meine Tochter ist zwölf, mein Sohn sechs Jahre alt.
CM: Welche Musik mögen die beiden?
AW: Meine Tochter steht auf Gwen Stefani und Avril Lavigne, der Kleine mag sehr gern (ruft in den Hintergrund zu seiner Frau: „Wie heisst diese amerikanische Band?“, Hepzibah Sessa antwortet: Green Day!)
AW: Ja genau, Green Day hört er sehr gerne. Und er trommelt wie ein Irrer auf meinem Schlagzeug herum!
CM: „SubHuman“ ist sehr düster geraten, drückt das Album deine Sicht auf die Welt aus?
AW: Ich schätze, das ist wohl so … wann immer ich ins Studio gehe und anfange zu arbeiten, kommen sehr dunkle Tracks dabei heraus, ich kann gar nicht anders.
CM: „SubHuman“ ist ein krasser Titel für eine Platte – was meinst du mit diesem Begriff?
Discographie Recoil 1+2 (1986I Hydrology (1988) Bloodline (1992) Unsound Methods (1997) Liquid (2000) SubHuman (2007)
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AW: Es geht darum, dass Menschen andere Menschen unterdrücken, für ihre Interessen benutzen. Und je nachdem, auf welcher Seite man sich gerade befindet, ist man entweder „subhuman“ für jemanden, oder sieht andere Leute als untergeordnet an. Ich weiss, dass dieser Begriff gerade in Deutschland eine ganz besondere, sehr schwierige Bedeutung hat …. „SubHuman“ beschäftigt sich mit den essentiellen Dingen des Lebens und mit seinen dunklen Seiten.
CM: Bist du enttäuscht oder verärgert über das Verhalten der Menschheit?
AW: Oh ja, in der Tat, das bin ich oft. Es sieht so aus, als würden die Menschen einfach nicht klüger werden – egal, ob in Bezug auf globales Unglück wie Kriege und Umweltzerstörung oder im Privaten.
CM: Die Stücke auf „SubHuman“ sind alle sehr lang, zwischen sechs und zehn Minuten – das ist nicht sehr poppig …
AW: Ich weiss nicht, wie man Recoil-Musik nennen soll, Popmusik sicher nicht. Die Stücke werden deshalb immer so lang, weil ich alleine im Studio vor mich hin werkele und dann keinen Schluss finde. Ich muss mich an keine vorgefertigten Arrangements halten und zu Beginn gibt es ja auch noch keine Lyrics und Vocals – die folgen immer erst am Ende.
CM: Hast du Depeche Mode damals verlassen, weil sie dir zu poppig wurden?
AW: Ich habe ja gar nichts gegen Popmusik! Es war damals nur so, dass ich mit dem Bandkonzept nicht mehr zurecht kam. Ich wollte allein arbeiten, mich den Bandstrukturen nicht aussetzen. Bands entwickeln oft eine seltsame Dynamik, auf die ich mich nicht mehr länger einlassen konnte. Ich arbeite eben lieber als Solokünstler.
CM: Aergert es dich, dass du wahrscheinlich bis an dein Lebensende im Zusammenhang mit Depeche Mode erwähnt werden wirst? Auf der DeMo-Website wird dein neues Album angekündigt, als wärst du nicht vor zwölf Jahren schon ausgestiegen …
AW: Nein nein, das ärgert mich überhaupt nicht – im Gegenteil. Ich bin sehr dankbar für die Zeit mit Depeche Mode, ohne die Band hätte ich niemals auch nur annähernd solche Popularität erreichen können. Ich finde es grossartig, dass Depeche Mode auch heute solch riesigen Erfolg haben! Aber ich habe meinen Entschluss, die Band zu verlassen, niemals bereut.*
* Wer die ganze Geschichte von Depeche Mode mit und ohne Alan Wilder nachlesen will, ist mit der aktualisierten und überarbeiteten Biografie „Depeche Mode. Black Celebration“ von Steve Malins (Hannibal) sehr gut bedient.
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CM: Wie bist du auf die beiden Gastsänger – Bluessänger Joe Richardson und Sängerin Carla Trevaskis – gestossen? Stand zuerst der Entschluss, die beiden Stimmen aufzunehmen oder war die Musik zuerst fertig?
AW: Als ich mit den Aufnahmen zu „SubHuman“ begann, stellte sich bald heraus, dass die Grundstimmung sehr bluesbetont ist – eine sehr interessante Mischung aus Elektro und Swampblues. Dafür wünschte ich mir einen intensiven, authentischen Bluessänger und begann, im Internet zu suchen. Irgendwann stiess ich auf Joe Richardson aus New Orleans und wusste gleich, dass er perfekt ist! Zum Glück hatte er Lust, sich auf die Platte einzulassen – Joe hat noch niemals vorher mit elektronischer Musik experimentiert. Aber es hat sofort funktioniert! Aber mir wurde ebenfalls klar, dass die Platte zu stark bluesgeprägt werden würde, wenn ausschliesslich Joe singen würde. Er ist wirklich ein sehr ausgeprägter, unverwechselbarer Charakter, was sich natürlich in seiner Art zu singen niederschlägt. Also suchte ich nach einer Art Gegenpart, den ich mit der wunderbaren Stimme von Carla Trevaskis zum Glück auch gefunden habe!
Aber zuerst kam die Musik, der elektronische Blues, die Idee, zwei unterschiedliche Stimmen hinzuzufügen, folgte erst im Lauf der Zeit.
CM: Werdet Ihr in dieser Formation auch live auftreten?
AW: Nein, das ist nicht geplant – Recoil sind noch nie live aufgetreten, das wird wahrscheinlich auch in Zukunft nicht passieren.
CM: Welche Kollaborationen und Experimente lässt das Format Recoil noch zu?
AW: Recoil erlaubt jede Menge Experimente – da gibt es keine Einschränkungen. Elektronische Musik bietet so viele Entwicklungsmöglichkeiten, sogar Blues, wie wir eben schon besprochen haben. Da auch auf den früheren Recoil-Alben immer verschiedene Gastsänger und -musiker beteiligt waren, war das Konzept schon immer nach vielen Seiten offen. Aber wahrscheinlich wird Recoil immer etwas düster und getragen klingen.
CM: Welches Stück auf „SubHuman“ war am Schwierigsten?
AW: Hmmmm …. lass mich überlegen … „Intruders“ entpuppte sich als etwas tricky. Ich hatte eine Grundidee, aber das klangliche Ergebnis hat mich lange nicht überzeugt. Zuerst sollte Joe auf diesem Track singen, aber dann haben wir uns für Carlas Stimme entschieden.
CM: Wenn David Lynch dich bitten würde, einen Soundtrack für ihn zu komponieren, würdest du zusagen?
AW: Oh ja, das wäre eine grosse Ehre! Ich mag sowohl seine Filme als auch die Filmmusik von Angelo Badalamenti. Besonders Badalamentis Soundtrack für „Twin Peaks“ finde ich unglaublich beeindruckend und einzigartig. Hast du den neuen Lynch-Film, „Inland Empire“ schon gesehen? Ich noch nicht.
CM: Ja, den hab ich schon gesehen – wenn man andere Lynch-Filme kennt, wird man diesen nicht für seinen Besten halten. Wer noch nie einen Lynch-Film gesehen hat, wird natürlich hochgradig verstört sein (Sessa aus dem Hintergrund: „Das finde ich auch“)
CM: Welche Musik magst du noch?
AW: Au weia …wo soll ich anfangen?
CM: Nur eine Platte …
AW: Das ist erst recht unmöglich – also wenn ich jetzt aufzählen müsste, was mich als Teenager sehr begeistert hat, wäre das auf jeden Fall das White Album der Beatles, „Berlin“ von Lou Reed, die ersten Bowie-Platten … ich mochte auch Talk Talk sehr gerne, die haben wunderbare Alben gemacht, nicht nur Hits wie „It's a Shame.“ Leider werden Talk Talk heute oft vergessen, wenn es um die achtziger Jahre geht.
CM: Leider ist unsere Zeit schon um – vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg mit dem neuen Album! Ach ja, eine Frage noch: ich habe gehört, du bist grosser Fussballfan und willst nachher noch das Champions-League-Finale ansehen – wer gewinnt?
AW: Ja, wir suchen uns nachher noch eine Bar mit einer grossen Fernsehleinwand! Mailand gewinnt, da bin ich sicher! (Alan hat recht behalten: Mailand gewann gegen Liverpool 2:1)
» www.recoil.co.uk
» myspace.com/recoil
» wikipedia
» joerichardsonexpress.com
» myspace.com/carlatrevaskis