Oktober 2007, erste Hälfte:
Harry Connick jr.:
My New Orleans
(SonyBMG)
Der Pianist Harry Connick jr. wurde einem größeren Publikum bekannt, als er 1989 (ja, so lange ist das schon her) den score zu Rob Reiners „When Harry Met Sally“ komponierte. Sein gutes Aussehen verhalf ihm dazu, selbst auf der Leinwand zu erscheinen, zum Beispiel 1990 in Jodie Fosters Film „Little Man Tate“ und 1999 an der Seite von Sandra Bullock in „Hope Flows“. Doch Connick war und ist in erster Linie ein enorm erfolgreicher Barjazzer, der weltweit die größten Hallen füllt und mehr als 20 Millionen Platten verkauft hat. Der Mann hat also alles erreicht und könnte sich zur Ruhe setzen – aber, so platt es klingt, die Liebe zur Musik läßt ihn immer weitermachen. Connick ist in New Orleans geboren und aufgewachsen, mit 18 zog er nach New York, blieb seiner Heimatstadt aber stets innig verbunden. Als Hurrikan Katrina im Sommer 2005 New Orleans heimsuchte, keimte in Harry Connick jr. die Idee, eine Hommage an „Nola“ aufzunehmen und so seinen Beitrag zum Wiederaufbau der Stadt zu leisten. 16 Songs suchte er für das Album „My New Orleans“aus, größtenteils traditionelle Jazz- und Swingstücke wie „Careless Love“, „Hello Dolly“ oder „Lazy Bones“, aber auch neue Eigenkompositionen wie „We Make a Lot of Love“. Connick alle Stücke spielte mit seiner Bigband ein, mit der er in Kürze auf Welttournee geht, um das Album vorzustellen. Harry Connick jr. erfindet weder den Jazz noch den Swing noch den Bigbandsound neu, seine sehr traditionellen, aber warmen und lässigen Interpretationen gehen aber jederzeit in Ordnung.
» www.harryconnickjr.com
Jonah Matranga: And
(Arctic Rod/Alive)
Mit Far und Gratitude hat er den Rock ausgelebt. Vor allem Far haben viele Bands beeinflusst, zum Beispiel die Deftones. Mit „New End Original“ hat er eine DER Emo-Scheiben produziert. (Als Emo noch kein Anti-Wort war) Onelinedrawing hieß sein Solo-Projekt, jetzt hat er erstmals ein offizielles Album unter eigenem Namen veröffentlicht. Die Rede ist von Jonah Matranga, der mittlerweile auf 15 Jahre Musikkarriere zurückblicken kann. Mit "And" scheint er jetzt seinen endgültigen Weg gefunden zu haben. Dass er ein begnadeter Songwriter ist, hat er mit früheren Aufnahmen schon bewiesen, nun gelingt ihm das Kunststück, die Intimität, die bei seinen Konzerten herrscht, auf einem Album zu verwirklichen. Wer Konzerte von ihm besucht hat, weiß was ich meine. Wer nicht, dem sei geraten, dies schnellstens nachzuholen. Die Live-Stimmung in Worten auszudrücken fällt schwer, da sie kaum greifbar ist. Von warm und positiv bis hin zur vollkommenen Glückseligkeit. Genauso stellt sich "And" dar. Bei den Aufnahmen haben ihm verschiedene Freunde zur Seite gestanden, Ian Love (in dessen Studio Rival Schools wurde das Album produziert) ist einer von ihnen, ebenso Sam Siegler (CIV). Wer glaubt, Songwriter müssten stets in die melancholisch-traurige Ecke abdriften, bekommt von Jonah Matranga das Gegenteil bewiesen. Dieses Album im Ohr und man hat das Gefühl, die Welt umarmen zu müssen. Nein, man kann die Welt umarmen. Auch wenn die Stücke insgesamt eher ruhig und akustisch gehalten sind, sorgen sie doch für ein fettes Grinsen im Gesicht. Manchmal unterstützt ihn ein Piano, dann wieder die Pedal-Steel. "So Long", das erste Stück auf "And", bereitet den Weg vor. Ein Song, der hängen bleibt und Hit-Potential besitzt. Trotz eines überaus traurigen Textes ("So Long, Bye Bye / So Long, So Long / Be Brave, Be Strong / Until Then, So Long /Something Is Gone, I'm Still Alive“) rührt die Melodie mittels ihrer instrumentalen Umsetzung Herz und Seele. Dazu Matrangas ergreifende Stimme … So geht es Song um Song, 37 Minuten lang. Manchmal wird es dramatisch wie bei "Get It Right", mal leicht folkig und trotzdem rockig ("I Want You To Be My Witness"). Doch selbst in den leidenden Momenten scheint Jonah Matranga die Glückseligkeit selbst zu sein. "And" ist mehr als nur eine Platte. "And" ist die Seele des Jonah Matranga nach außen gekehrt. Er lässt jeden teilhaben an seinem Inneren. Ein großes Dankeschön hierfür. Ich neige mein Haupt und freu mich schon auf den nächsten Durchlauf. [Thomas Stein]
» www.jonahmatranga.com
» myspace.com/jonahmatranga
Chaka Khan: Funk This
(Burgundy Records/SonyBMG)
Haben wir weiter oben mit Harry Connick jr. schon den Adult-Orientated-Markt bedient, geht es mit Chaka Khans neuem Studioalbum „Funk This“ in die gleiche Richtung. Chaka Khan ist eine Legende, ob man an ihre Zeit mit der Band Rufus denkt und das unsterbliche „Ain't Nobody (Loves Me Better)“ oder an ihre Solokarriere mit Hits wie „I'm Every Woman“ - bis heute gibt die 54-jährige Frau Khan ein kredibles Rolemodel für Heerscharen junger Soul- und R`n`B-Sängerinnen ab, Mary J. Blige, die im Song „Disrespectful“ als Duettpartnerin auftritt, würde bestimmt anders klingen, hätte sie in ihrem Mädchenzimmer keine Chaka-Khan-Platten gehört. „Funk This“ wurde von den Ex-The-Time-Musikern Jimmy Jam und Terry Lewis produziert und klingt so glatt und glossy, wie Chaka Khan auf dem Cover aussieht. Die 13 Tracks swingen bevorzugt im mid-tempo, die Gitarren jaulen nach US-amerikanischem Gusto, der Backgroundchor gospelt gediegen. Alles wunderschön und makellos, aber wenig charakteristisch – wäre da nicht die formidable, heisere, mächtige Stimme Chakas, die jedes Stück in himmlische Höhen heben kann. Auf „Funk This“ befinden sich Coverversionen von Klassikern wie Princes' „Sign O'The Times“, Joni Mitchells „Ladies Man“ und Jimi Hendrix' „Castles Made of Sand“, dazu einige Neukompositionen, die ihre Ewigkeitsansprüche schon im Titel tragen wie „Angel“, „Back in the Day“ oder „One for all Time“. Man wünscht sich ein paar dreckigere Grooves, einen deeperen Bass oder hier und da ein gewagteres Arrangement, um in den vollen Genuss Chaka Khans stimmlicher Möglichkeiten zu kommen – aber, auch wenn es schwerfällt zu akzeptieren, Chaka Khan muss niemandem mehr etwas beweisen.
» www.chakakhan.com
Bottom of the Hudson:
Fantastic Hawk
(Absolutely Kosher
Records /BB*Island)
Dieses Album entstand in einem zum Studio umgebauten alten Krämerladen in Virginia – angeblich teilten die Musiker von Bottom of the Hudson das Haus mit Geistern, die laut Sänger Eli Simon auf „Fantastic Hawk“ zu hören seien. Diese Einführung befördert Bemerkungen wie zum Beispiel, dass diese Platte „geisterhaft schön“ sei oder ähnliches. Weitaus weltlicher und griffiger ist es, in Bottom of the Hudson würdige Nachfahren von College- und Shoegazing-Indierockbands wie Sebadoh, Seesaw und den großen Guided by Voices zu sehen. Das Presseinfo nennt BOTHs Musik „mid-fi bedroom pop“, was eine gute und passende Beschreibung des variations- und detailreichen Anti-Macho-Sounds auf „Fantastic Hawk“ ist. Schon die ersten beiden Tracks („Fantastic Hawk“, „Bee Hive“) machen verliebt in diese Band, selbst wenn man ein technogestählter Elektrofreak ist, der seit Jahren keine Gitarrenmusik an seine Ohren kommen läßt. Überschwang und Zurückhaltung bilden bei BOTH eine intensive Symbiose, flirrende, verzerrte Gitarrenklänge untermalen phantasievolle Texte wie den von „Handwriting“, in dem das Mädchen mit der schönen Handschrift als „alley cat“ und „light bulb“ verehrt wird. BOTH spielen mit laut-leise-Effekten, mal dynamisch („Perfect Distillation“), mal eher ruhig („Rusty Zippers“) oder verbinden beide Pole mittels ungestümer Ausbrüche („Suffering Time“, „Over Engineered“). Bei „Hide and Seek“, einem schon jetzt zeitlosen Indierock-Klassiker mit luziden und energetischen Gitarrenläufen, wird hymnisch gerockt, dazu erklingt Elis helle, sanfte Stimme – ein toller Song, an dem vielleicht doch die Geister von Virginia beteiligt waren. Möglich wär's ….
» www.bottomofthehudson.com
Beachfield: Brighton Bothways
(tuition/BB*Island)
„Brighton Bothways“ ist eine dieser Platten, die nur im Herbst erscheinen können: ein Album, das von kühlen Tagen kündet, aber noch die wärmenden Sonnenstrahlen des Sommers in sich trägt, die dabei helfen, durch den Winter zu kommen. Beachfield a.k.a. Glenn Thompson ist der ehemalige Schlagzeuger der Go-Betweens – die Lücke, die Grant McLennans Tod im letzten Jahr gerissen hat, ist noch nicht verschmerzt und wird auch nie wirklich gefüllt werden können. Beachfield spendet Trost und Hoffnung: mit „Brighton Bothways“ führt er das Go-Betweens-Erbe würdig weiter. Thompson/Beachfield konnte erst dann als Solokünstler reüssieren, nachdem die Go-Betweens Geschichte waren, weil das Songwriter-Paar McLennan/Forster keinen dritten, gleichwertigen Composer neben sich sehen wollte. Doch Thompsons Kompositionen sind so traumhaft schön und eigenständig, dass man ihm an keiner Stelle den Vorwurf machen kann, ein Abziehbild seiner früheren Band zu sein. Beachfield legt Spuren zu Smokie (oh ja!), zu Aztec Camera und Orange Juice – großer Pop also, den man zu hören bekommt. Man hört und fühlt seine GB-Vergangenheit durchaus, bei manchen Arrangements und Melodieführungen, auch daran, wie Thompson zuweilen – ähnlich wie Robert Forster - eine Silbe ausklingen läßt oder Strophen verbindet (zum Beispiel bei „Come Down“ und „Mandy“). Die Songs klingen melancholisch, aber im Grundton optimistisch, auch wenn ein Song wie „Suburban Life“ das Leben eines jungen Paars in der Vororthölle thematisiert. „Freight Trains“, einer der schönsten Stücke des Albums, verbindet Wehmut und Schönheit ohne Kitsch und hätte gut auf eine Go-Betweens-Platte gepaßt. „Surfin' Magazines“ schwingt hier leise mit und man meint, Grant McLennan von seiner Wolke herunterlächeln zu sehen … alles wird gut, „Brighton Bothways“ hilft dabei.
A.R.E. Weapons: Modern Mayhem
(Defend Music/Groove Attack)
„Modern Mayhem“ beginnt mit einem Urschrei und Hopsern, als hätte der CD-Spieler Schluckauf – was ist das? Oldschool-Punkrock oder schlicht und einfach The Sound of New York City? Die Legende besagt, dass eines Tages Thurston Moore bei Brain McPeck, Sänger der damals hauptsächlich Experimental-Free-Jazz spielenden A.R.E. Weapons anrief: „it was like God calling … so we moved to New York.“ Die Band stammt aus Washington, DC, Hochburg des Hardcore-Punkrocks (Black Flag, Dag Nasty, Minor Threat), doch tatsächlich scheinen A.R.E. Weapons, die in ihrem Booklet aussehen wie eine Neubesetzung des A-Teams, fabelhaft zu New York zu passen. Mc Peck, Matt McAuley (Gitarre), Erik Rapin (Schlagzeug) und Paul Sevigny (Bruder von Chloé; Synthesizer) packen Post-Punk á la Sonic Youth mit No-Wave- und Freejazz-Elementen zusammen, die an Bands wie Massacre und MX 80 erinnern. Dazu mixen sie eine veritable Menge Elektrosounds und klingen so wild und energiegeladen, dass man sich auf eventuelle Liveauftritte hierzulande wirklich freuen kann – oder ein bisschen davor fürchten. „Let's go to Times Square“ klaut ein bisschen bei den Violent Femmes; „Just a Crush“ featuret eine jangly Orgel, wie man sie von ganz frühen Blondie-Platten kennt, allerdings bekommt man hier keinen lieblichen Girl-Pop zu hören, sondern atemlosen Highspeed-Punkrock. „Hey Joey“ verbindet Elektrogebratze mit Pigbag-Trompeten, „Heartbeat“ ist ein lässiger, funky Urban-Street-Dance und „Sweet Jesus“ mit seinem frickelnden, voluminösen Basslauf klingt so, wie die Red Hot Chili Peppers klingen könnten, hätten sie nicht ihre Seelen an den Mainstream verkauft. Hit der Platte ist „Fuck What You Like“ (auf dem Cover steht selbstverständlich nur „F***“, schließlich handelt es sich um ein amerikanisches Produkt), der mit seinem Computerpiepsen eine offensichtliche Hommage an Suicide ist, nur ist Selbstmord hier wirklich kein Thema, eher das Gegenteil (ok, was ist das Gegenteil von Selbstmord?). „Modern Mayhem“ ist energetisches, organisiertes Chaos, das schmutzigen, derben Punkrock mit höchst anspruchsvollem Jazzgefrickel verbindet. Hört sich unglaublich an? Ist es auch!
» myspace.com/areweapons
Drone: Colourformoney
(My Kungfu/Rough Trade)
„Colourformoney“, das Debütalbum des aus West-Wales stammenden Cassidy Phillips alias Drone, besticht zunächst durch das Artwork mit den entzückenden Zeichnungen von Liz Price (lizsite.co.uk) – ein gutes Beispiel dafür, dass das physische Album inklusive Cover und Booklet noch lange nicht tot ist. Jedenfalls nicht, so lange noch so schöne Sachen zum Anfassen und Angucken hergestellt werden. Das Anhören dieser CD lohnt ausserdem: Drone ist die personifizierte Verbindung von Elektro und Folk, die elf Stücke auf „Colourformoney“ bilden eine midtempo-low-fi-Elektronikcollage, ich hoffe, das klingt nicht allzu verworren. Phillips' Tracks summen und schweben auf einem durchgängigen Moll-Bett, dem „drone“, der alles zusammenhält. Das warme, vordergründig ruhige Brummen wird immer wieder von vielerlei „Störern“ aufgebrochen; Drone läßt Grooves aus Fingerschnipsen und Zungenschnalzen entstehen, bastelt Streicher und Vocals an Stellen hinein, an denen man solche Elemente am wenigsten erwarten würde. Drones Maschinen klingen organisch (wie beim Opener „Waterlilies“) oder verstolpert wie bei „Hopscotch“ und „Ninny“, dort erklingen ausserdem eine verzerrte Sitar und hektische Jungle-Breakbeats. Keine Platte zum Nebenbeihören, auch wenn sie am Anfang ganz harmlos klingt.
PJ Harvey: White Chalk
(Island/Universal)
PJ Harvey, geboren vor 37 Jahren als Polly Jean Harvey, ist eine der ungreifbarsten und beeindruckendsten Musikerinnen der Gegenwart – schon mit ihrem ersten Album „Dry“ wurde sie zur Indie-Ikone, die Schmerz und Leid in oftmals selbstquälerischer Weise nach außen trug, den Blues auf höchst eigene Weise interpretierte. Häufig wird sie mit Patti Smith verlichen, was sich musikalisch kaum belegen läßt, aber die expressive, leidenschaftliche Herangehensweise an Musik und Texte ist bei beiden Künstlerinnen durchaus vergleichbar. Auch zieht sich PJ Harvey wie Patti Smith gern zurück, meidet die Öffentlichkeit und große Bühnen. „White Chalk“ entstand in Dorset, wo PJ Harvey geboren wurde und auch jetzt wieder – nach Aufenthalten in Los Angeles und London – wieder lebt. Die charakteristischen weißen Kreidefelsen Dorsets standen Pate für dieses Album, das so sanft und zurückgenommen klingt wie keine Harvey-Platte zuvor. Ihre Stimme hört sich zart und zerbrechlich an, keine hysterischen Schrei-Ausbrüche wie auf älteren Aufnahmen. Neben Banjo, Mundharmonika und einer Zither steht das Piano im Mittelpunkt, bewußt ausgewählt, weil PJ Harvey es nicht beherrscht – klingt paradox, ergibt für sie selbst aber Sinn. Früher war die elektronische Gitarre ihr bevorzugtes Ausdrucksmedium, für die neue Platte stellte sie sich neue Aufgaben, mußte lange probieren (vier Jahre dauerten die Aufnahmen, so lange wie noch nie), bis sie den gewünschten Klang gefunden hatte. Und so überrascht „White Chalk“ mit 34 Minuten ätherischem, kammermusikalischem Minimalismus. Unterstützt wurde PJ Harvey von alten Wegbegleitern wie John Parish und Flood, Produzent von unter anderen Depeche Mode und Nick Cave.
» www.pjharvey.net