Erika Stucky ist eine Ausnahmekünstlerin im besten Wortsinn: geboren als Tochter Schweizer Eltern in San Francisco in der Früh-Hippie-Ära, in den siebziger Jahren mit der Familie in die Schweiz zurückgekehrt, im kleinen Dorf im Oberwallis den ersten heftigen Kulturschock überstanden. Der Kontrast zwischen der amerikanischen Westküste und dem Schweizer Gebirge hätte nicht größer sein können. Das Kind Stucky ist verwirrt. Musik hilft, die Verwirrung aufzulösen, Erika Stucky entwickelt sich zur Multiinstrumentalistin und einer der wagemutigsten und unerschrockensten Musikerinnen – sie verehrt amerikanische Blues- und Rockikonen wie Bob Dylan und Jimi Hendrix, covert immer wieder deren Songs, aber nicht, ohne sie auf ihre ganz eigene Weise zu interpretieren. Sie bringt clowneske Elemente in ihre Musik ein und erschafft ein eigenwilliges, eigenständiges Klanguniversum, das viele - vielleicht aus Definitionsnot – Jazz nennen. Für ihr neues Album ist Erika Stucky zu ihren Schweizer Wurzeln zurückgekehrt, sie hat das Jodeln (wieder)entdeckt und überrascht mit unglaublichen Variationen, die so gar nichts mit Musikantenstadl und anderen Senioren-TV-Sendungen zu tun haben. „Jodeln ist der Schweizer Blues“, heißt es, doch Erika Stucky läßt den Yodel auch rocken und soulen. Auf der Platte befinden sich neben Eigenkompositionen auch wieder einige Coverversionen wie zum Beispiel Patsy Clines „Crazy“, das durch Fats Domino zum Welthit gewordene „Blueberry Hill“ und „All I Really Want to Do“ von Stuckys ewigem Helden Bob Dylan. Auf „Suicidal Yodels“ gibt es keine Grenzen zwischen amerikanischer und schweizer Volks- beziehungsweise Countrymusik, Stucky bringt die Schweiz nach San Francisco und umgekehrt. Alle Tracks wurden draußen aufgenommen, echte „field recordings“ – den Yodel kann man nicht ins Studio sperren, meint Erika Stucky. Die Linernotes zu „Suicidal Yodels“ stammen vom amerikanischen Autor und Radio-DJ Bart Plantenga, der 2004 das Buch „Yodel-Ay-Ee-Oooo“ veröffentlichte, in dem er auch Erika Stucky porträtiert. Lest hier ein etwas atemloses E-Mail-Interview, das Erika Stucky aufschrieb, bevor sie zum Flughafen eilte, um schnell mal wieder ein paar Grenzen zu überwinden …
Foto: Erika Stucky
|
CM: Stimmt es tatsächlich, dass die Suizidrate in der Schweiz so hoch ist? Woran könnte das liegen?
Erika Stucky: Wenn man "Suizidrate Schweiz" googelt, hagelt es Berichte wie: "Vier Suizide pro Tag", "zweithöchste Jugendsuizidrate Europas" - ach was weiss ich schon, ich denk' es ist eine Kombination von Älplermentalität und Wohlstand.
CM: Dein Album „Suicidal Yodels“ vermischt amerikanische und schweizer Volksmusik so
sehr, dass man keine Abgrenzungen mehr heraushören kann (das geht mir jedenfalls so) - ist das Deine Absicht?
ES: Nicht Absicht - aber Realität. Meine! Ich bin selber so ein Gemisch, dass sich das unweigerlich in der Musik spiegelt. Und man kann ja nur ehrlich sein, wenn man man selbst ist.
CM: Die meisten Stücke auf dem Album sind "field recordings" - nimmst du nicht gerne im Studio auf oder hast du nach möglichst unvorhersehbaren Eindrücken gesucht? Also insofern, dass die Musik einen improvisierten, zufälligen Charakter bekommt?
ES: Im Studio zu jodeln ist wie im Flugsimulator zu fliegen. Das geht nicht. Nicht richtig. Ich musste mit den Songs an die Luft.
CM: Was begeistert dich am Jodeln? Kann man Jodeln lernen oder braucht man eine angeborene Begabung (die Schweizer vielleicht haben)?
ES: Jodeln ist lernbar wie alles andere auch … nur hört man immer, wie bei Akzenten oder
Sprachen, woher jemand kommt beziehungsweise, was angelernt ist und was "akzentfrei" rüberkommt.
CM: Kann man manche Dinge durch Jodeln besser ausdrücken als durch Text?
ES: Ja, ich schon (siehe meine Kurzantworten) :-)
CM: Wie reagiert ein nicht-schweizerisches Publikum auf die Jodel-Songs?
ES: Belustigt, befremdet
CM: Du kennst beide Länder und Lebensweisen sehr gut - wie stark unterscheiden sich die Schweiz und die USA? Und wo gibt es Überschneidungen?
Foto: Felix Streuli
|
ES: Och …da müsst ich reden können - beim Gedanken, Unterschiede aufzutippen, wird mir
schwindlig.
CM: Welches Land empfindest du als "freier"? Wo lebst du lieber?
ES: Egal, in welchem Land man ist - man lebt ja schlussendlich in "sich selber". Meine eigenen Grenzen spür ich dort, wie hier. Und je älter desto freier - wär das Ziel. Nicht wahr? Aber wenn schon wählen, dann San Francisco beziehungsweise das Wallis!.. :-)
CM: Du arbeitst genreübergreifend, machst Musik, Theater, Film …worauf könntest du am wenigsten verzichten?
ES: Aufs Licht. Hm … aufs Reden …
CM: Wenn man über die Musikerin Stucky spricht, wird deine Musik meist als Jazz bezeichnet – nennst du deine Musik auch so, oder glaubst du, der Begriff "Jazz" wird verwendet, wenn man nicht weiss, wie man einen Stil beschreiben soll?
ES: Ja ich weiss, meine Gegenfrage: wo gehört ein Tom Waits hin? Eine Laurie Anderson? Ich werd nicht depressiv, wenn ich meine CDs im Jazzregal finde.
CM: Du beziehst dich oft auf (meist männliche) legendäre Musiker wie Prince, Jimi Hendrix, Bob Dylan und coverst ihre Stücke - welcher beeinflusst dich am meisten?
ES: Im Moment schau ich mir Dylans Interviews auf DVD an. Very inspiring! Ehrlich und doch schlitzohrig.
Mehr beeindruckende stimmliche Experimente gibt es in Stefan Schwieterts Film „Heimatklänge“ zu bestaunen – der Soundtrack erscheint bei Traumton Records, featuring Erika Stucky, Jazzsängerin Sina, Noldi Alder, Stimmhorn-Musiker Christian Zehnder, Huun Huur Tu und anderen. Very weird und ebenfalls kein Musikantenstadl.
» www.erikastucky.ch