Dezember 2007, erste Hälfte:
Favez:
Bigger Mountains Higher Flags
(Gentlemen Records/ Alive)
Jede Band hat ihr Referenzalbum, an dem sich alle anderen Veröffentlichungen messen lassen müssen. Bei Coldplay war es „Parachutes“, Jimmy Eat World erlangten mit „Clarity“ Ruhm und Weezer hatten ein blaues Album. Die Hammer-Platte von Favez aus Lausanne, Switzerland hiess „Gentlemen, Start Your Engines“. Ein emotionales und packendes Werk. Nach mehreren qualitativ hochwertigen Alben brachten Favez 2005 „Old Strong In The Modern Times“ heraus, und viele ältere Fans fühlten sich vor den Kopf gestossen. Auch mir ging es so. Ich vermisse bei diesem Album immer noch alles, wofür Favez standen. Groovige Melodien inklusive leidenden Gitarren und diesem ganzen emotionalen Zeugs. Nicht dieses auf-dicke-Hose-machende Rockding. Ob Favez selbst mit dem Ergebnis zufrieden waren, kann man nur vermuten. Zwei Jahre Pause bis zum neuen Album sprechen für sich. Zwei Jahre, die auch dazu genutzt wurden, um die Bandmitglieder von vier auf sechs aufzustocken. Neu dabei: Jef Albelda (Rhodes, Piano) und Maude Oswald (Hammond).
Aber genug zurückgeblickt, schauen wir lieber nach vorn. Dort am Horizont erscheint mit „Bigger Mountains Higher Flags“ das sechste Album der Band. Gemischte Gefühle beim ersten Durchlauf. Die ersten Klänge, na ja, nichts verändert seit dem letzten Album. Und dann funzt es auf einmal doch: „The Highways Are Deserted“ ist wie „When We Were Kings“ ein astreiner Wüstensong, staubtrocken und wuchtig. Der erste Höhepunkt des Albums: „She Wakes Up Every Night„. Ein gefühlvoller Song mit Herzschmerzfeeling und Hymnencharakter. „Naked And Gasoline“ leicht treibend und rockig, schön eingängig. „Here, We’re Nothing“ und „The Goodbye Song“ wieder mit Wüstencharakter. „The Torch Song“ beinhaltet einen flockig lockeren Touch und dürfte live zum Schwitzen animieren. „And We Dance“ dagegen etwas langsamer, aber ein absoluter Hit zum mitsingen und -tanzen, auch wenn diesem Lied ein melancholischer Unterton nicht fehlt, biegt er trotzdem euphorisch um die Ecke.. „If I Didn’t Come For Forgiveness“ lädt zum Träumen ein, „White Limousine“ packt noch mal die Gitarrenwand aus, ehe man mit „We Used To Fight A Lot“ einen würdigen und gefühlvollen Abschluss findet. Gerade dieser Song zeigt sehr deutlich, welchen Einfluss die neuen Mitstreiter auf „Bigger Mountains Higher Flags“ haben.
Es gibt also nichts Schlechtes von Favez zu berichten. Ein Stein fällt mir vom Herzen. Und wenn es beim ersten Mal nicht klappen sollte mit „Bigger Mountains Higher Flags“: Zeit geben. Denn dieses Album rockt fett ab, ohne überspitzt da zu stehen. Die Melodien haben Groove, zwei Gitarren brettern richtig ab und Chris singt sich die Seele aus dem Leib. Die neuen Instrumente stehen der Band sehr gut und verpassen Favez ein neues Antlitz. Der Patient hat sich erholt und zeigt neue und altbekannte Klasse. Fein. [Thomas Stein]
New Young Pony Club:
Fantastic Playroom
(Modular Recordings / Universal)
New Young Pony Club aus London gründeten sich 2006 und veröffentlicheten beim Winz-Label Tirk Records zwei Singles, die international für Furore sorgten: „The Get Go“ und „Ice Cream“ begeisterten durch die distanziert-kühlen Vocals von Tahita Bulmer, die über smartem, basslastigen Discowave Texte hauchte wie „I can give you what you like / I can make your mouth run dry / Drink me like a liquor / Come on and dip your dipper“. Kein Wunder, dass die Computerfirma Intel zugriff und den Song als Werbemelodie verwendete. Für ihr erstes Album „Fantastic Playroom“ wechselten NYPC noch in 2006 zu Modular Recordings, die auch den Yeah Yeah Yeahs und Wolfmother eine Heimstatt bieten. Der New Musical Express schickte NYPC gemeinsam mit Cansei de Ser Sexi, Klaxons und The Sunshine Underground auf die sogenannte „Indie Rave Tour“, das Label „New Rave“ mag aber zu NYPC nur bedingt passen (in wie weit es zu den anderen Bands paßt, sei dahingestellt), denn die fünfköpfige Band verwendet zwar durchweg tanzbare Beats, orientiert sich aber sonst an Wavebands wie Delta 5, den B-52's, auch Reminiszenzen an Blondie schimmern hier und dort durch. Die zehn Songs sind weniger knallig, als es das an Achtzigerjahre-Ästhetik erinnernde Cover vermuten läßt, manche Stücke brauchen zwei, drei Durchgänge, bis sie sich im Ohr festsetzen: „Hiding on the Staircase“ spielt mit Sambarhythmen, das spartanische „Jerk Me“ baut auf einem einfachen Beat auf, bis die fiepende Synthiefanfare ins Spiel kommt. Die Singlehits „The Get Go“ und „Ice Cream“ befinden sich auch auf „Fantastic Playroom“ und runden dieses charmante Debütalbum ab, das zwischen vielen Stilen und Epochen oszilliert.
» myspace.com/newyoungponyclub
» www.wearepony.com
The Wombats: A Guide to
Love, Loss and Desperation
(rykodisc/Rough Trade)
Eigentlich dachte ich, ich sei fertig mit all den immer gleichförmiger klingenden Gitarrenrockbands – nichts konnte mich in den letzten Monaten weniger hinter dem Ofen hervorlocken als ein Album einer vierköpfigen Jungsband, die sich laut Presseinfo auf die Libertines oder alte Helden wie The Clash bezogen. Gähn.
Aber dann kamen die Wombats and it felt like the first time. Also mal ehrlich, wer bei „Let's Dance to Joy Division“, dem Singlehit der drei Liverpooler, nicht sofort auf die Tanzfläche stürmt und dabei abgeht wie einst zu den Toy Dolls oder ähnlichem, ist ziemlich sicher bereits tot oder riecht wenigstens komisch. Dabei sind Sänger und Gitarrist Matthew „Murph“ Murphy, Drummer Dan Haggis und Bassist Tord Knudsen gar keine ausgemachten Partyhelden, die Texte auf „A Guide...“ erzählen von Verzweiflung, Selbsthass, geplatzten und verpatzten Dates. In „Backfire At the Disco“ geht es um eine unbedachte Bemerkung, die den Abend, der so schön begonnen hatte, im Handstreich zerstört: „she slapped me at the disco / I made a move that was well out of context...“ Wer könnte dabei nicht mitfühlen? Die Wombats schreiben aber nicht nur klasse Texte über die Befindlichkeit irritierter Twentysomethings, sondern bieten knackigen, tanzbaren Wavebeat mit tief perlendem Bass, der zuweilen an Franz Ferdinand erinnert, ohne FF dabei zu imitieren. Die Wombats leisten sich versierte Spielereien wie den verschleppten Walzer von „Party in a Forest (Where's Laura?)“ und Murphs Stimme klingt, als hätte der jüngere Bruder von Robert Smith einen Cocktail aus Speed und Bier zu sich genommen (will sagen: aufgedreht und melancholisch gleichzeitig). Wer hätte gedacht, dass sich so kurz vor Toresschluß/Jahresende noch eine Platte findet, auf die sich alle einigen können? Ich am allerwenigsten, bin dafür sehr begeistert!
» www.thewombats.co.uk
» myspace.com/thewombatsuk
Grizzly Bear: Friend
(Warp/Rough Trade)
Warum ein 10-Track-Album als „EP“ bezeichnet wird, ist mir schleierhaft. Was bedeutet das für spätere Aufnahmen? 20 Songs oder 30? Aber solche Fragen sind Formalkram und damit soll man sich gar nicht erst aufhalten. Die vierköpfige Band Grizzly Bear aus Brooklyn hat jede Menge Freunde eingeladen, um diese Kollektion aus Coverversionen, Neu-Interpretationen und bisher unveröffentlichten Tracks einzuspielen. Grizzly Bear sind mit ihrem ambitionierten Choir-Vocals-Album „Yellow House“ (ebenfalls bei Warp erschienen) zu einigem Ruhm gekommen, Parallelen zu Arcade Fire sind augen- und ohrenfällig. „Friend“ verbindet Psychedelika, Folk, Pop und Beach-Boys-Harmonien zu einem bezaubernden großen Ganzen. Beim Opener „Alligator“ ist Zach Condon/Beirut zu hören, Grizzly Bear entfalten eine regelrechte Minioper in Cinemascope. Sie covern „He Hit Me“ von den Crystals und verpacken den Song in ein spartanisches Lo-Fi-Arrangement, das im größtmöglichen Kontrast zum Original der von Phil Spector produzierten 60's-Girlgroup steht und den bizarren Text „He Hit Me – and it felt like a Kiss“ besonders hervorhebt. (Nebenbemerkung: Auch Courtney Love fand „He Hit Me“ bemerkenswert und spielte ihn live mit der Bemerkung: „this is a sick song.“) Die brasilianischen Discopunks Cansei de Ser Sexi covern den Grizzly-Bear-Song „Knife“, das Countryduo Band of Horses interpretiert ebenfalls einen Grizzly-Song ( „Plans“). So entsteht ein buntes, aber durchaus homogenes Potpourri – wie ein „Freunde“-Poesiealbum. Sorry, Poesie-EP.
» www.grizzly-bear.net