Bücher Weihnachten 2007
Die letzte Bücherschau des Jahres 007 legt lesenswerte Romane, informative Sachbücher und einen ambitionierten Fotoband unter den Weihnachtsbaum: Robert Mießner und Christina Mohr testlasen Joe Boyds "White Bicycles", Michael Walkers "Laurel Canyon", "All that Jazz" von Michael Jacobs, Katja Ruges "fotoreportage23" und last but not least "Too much Future" von Boehlke/Gericke ...
Joe Boyd: White Bicycles.
Musik in den 60er Jahren
Antje Kunstmann, 360 Seiten, € 24,90
Wem das langersehnte Date mit der Angebeteten buchstäblich und leibhaftig von Bob Dylan durchkreuzt wird, der will nicht, der muss ein Buch schreiben. Joe Boyd, Tourmanager, Produzent und Gründer von Hannibal Records, mit einem Wort ein Impresario, er spricht lieber von "grauer Eminenz", hat es getan. Vorher hat er Geschichte geschrieben. Boyd war tatkräftig dabei, als das Newport Folk Festival 1965 sein Moment Punk erfuhr, als Bob Dylan zum Entsetzen seiner Anhänger zur elektrischen Gitarre griff. An seinem ersten Arbeitstag für Veranstalterlegende George Wein wurde Boyd von Thelonious Monk begrüßt. Er machte Schulden, konsumierte in moderaten Mengen Drogen und musste sich von Beamten darüber belehren lassen, dass sein Dealer ein "Agent der kommunistischen Weltverschwörung" sei. Wenn Boyd über die Musik der 60er Jahre (die bei ihm vom Sommer 1956 bis zum Herbst 1973 gehen) schreibt, dann schreibt er über Geschichte und Gesellschaft. Im von ihm in London gegründeten UFO-Club traten Pink Floyd und Soft Machine auf, wurde an der Weltenesche gesägt und Bewusstsein erweitert. Unter den Augen einer Öffentlichkeit, die mit konservativ freundlich beschrieben ist und deren Vertreter mehr als ein mal die uniformierte Staatsmacht losschickten.
Was sich unter ähnlichen Vorzeichen in Deutschland ereignete, soll ja, geht es nach der Analyse einiger Unterbeschäftigter, für so ziemlich alles von Alkoholismus im Jugendalter bis zur Zerstörung der Familie schuld sein. Um so neugieriger macht es, wenn jemand das Jahrzehnt, das die Popkultur endgültig zu einer solchen machte, aus der Sicht eines Amerikaners mit langjährigem Londoner Wohnsitz schildert. Boyd romantisiert dabei nicht. Er verhehlt keinesfalls, dass er als Spross der Mittelschicht Möglichkeiten hatte, die den Polizisten, die in seinem Club Razzien abhielten, nicht offenstanden. Gerade, wenn sich beim Lesen dieses amüsanten, anteilnehmenden und zum Ende hin traurigen Buches der Eindruck aufdrängen will, damals sei das Geschäft noch nicht Geschäft und nicht zynisch gewesen, berichtet er über Vertragsverhandlungen, treten gebrochene Künstler wie Nick Drake auf, wird von den Schattenseiten der Sinnsuche erzählt.
Legt man "White Bicycles" aus der Hand, in einem Jahrzehnt, in dem Karrierist leider kein Schimpfwort mehr ist, will man all die Alchimisten und Magier hören, für die Boyd endlos telefonierte, Pressetexte aufsetzte, tage- und nächtelang am Mischpult saß: Fairport Convention mit Sandy Denny und Richard Thompson, der später auch mit Fred Frith zusammenarbeitete, die südafrikanischen Jazzer Blue Notes, die in ihrer Heimat nicht bleiben konnten, in Europa nicht heimisch und bis auf Louis Moholo nicht alt wurden, die Incredible String Band, deren Cover zu "The Hangman’s Beautiful Daughter" auf "Earth Covers Earth" von Current 93 zitiert wird. Man möchte als Nachgeborener ganz hemmungslos nostalgisch werden. [Robert Mießner]
Michael Walker: Laurel Canyon
Rogner & Bernhard, 352 Seiten, € 19,90
Ebenfalls von der Musik der sechziger Jahre handelt „Laurel Canyon“, geschrieben vom amerikanischen Musikjournalisten Michael Walker. Im Gegensatz zu Boyd ist Walker kein direkter Zeitzeuge, sein Buch ist das Ergebnis sorgfältiger Recherchearbeit. Walker lebt seit 1991 selbst im Laurel Canyon, dem kleinen Tal innerhalb der Hügel Hollywoods, das in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Mittelpunkt einer mit „legendär“ nur unzureichend beschriebenen Musikszene war. In fast fußläufiger Entfernung zum Sunset Boulevard ließen sich im Canyon junge Musiker wie Joni Mitchell, Crosby, Stills & Nash nieder, prägten Carole King, die Byrds, Jackson Browne und viele mehr einen neuen Musikstil, der sich aus Folk, Country und Rock speiste und unvergängliche Hits wie „Turn, Turn, Turn“ hervorbrachte. Zu den wichtigsten Figuren, die die Legende des Canyon maßgeblich mitgestalteten, gehörte „Mama“ Cass Elliot, ein Viertel der Mamas & Papas, deren Haus zum Treffpunkt gestrandeter und zielloser junger Talente wurde. „Sie war furchtbar wichtig, nicht nur als Mensch und große Sängerin, als die sie übrigens kolossal unterschätzt wird, sondern auch weil sie wusste, wer für wen gut wäre, wer mit wem zusammenarbeiten oder singen sollte. Da hatte sie einfach einen tollen Instinkt.“ Das sagt Gary Burden über Mama Cass, der wie viele andere von ihrem Instinkt profitieren sollte: Burden war Architekt, verheiratet und hatte zwei Kinder und – kreuzunglücklich. Als er über Freunde Cass kennenlernte, entdeckte sie schnell sein Talent als Zeichner und schlug ihm vor, das Cover des Debütalbums von Crosby, Stills & Nash zu gestalten. Er hing seinen Architektenjob an den Nagel und wurde einer der berühmtesten Covergrafiker der Popgeschichte, entwarf Plattenhüllen für die Doors, die Eagles und unzählige mehr. Die füllige Mama Cass hingegen litt sehr darunter, dass sich die öffentliche Wahrnehmung hauptsächlich auf ihre Bandkollegin „the pretty one“ Michelle Philips richtete und verließ The Mamas & the Papas, um eine Solokarriere zu starten. Mit nur 30 Jahren starb Cass Elliot an Herzversagen und erstickte nicht, wie von der Klatschpresse gerne behauptet, an einem Schinkensandwich. Nur kurz im Canyon lebte Frank Zappa mit seiner Frau Gail und der damals gerade geborenen Tochter Moon Unit: die Familie bezog das Haus des Stummfilmstars Tom Mix, und obwohl es der Zappa-Clan nur wenige Monate im Canyon aushielt, erinnern sich viele Musiker und Groupies ehrfürchtig an diese Zeit, in der „Uncle Frank's Cabin“ magischer Ort und Freakhotel in einem war. Im Hause Zappa ein und aus ging Pamela Des Barres, notorisches Groupie und Moon Units Kindermädchen. Ihre Erinnerungen hat Des Barres in einem eigenen Buch verewigt (mit David Navarro, „I'm With the Band: Confessions of a Groupie“, Chicago Review Press, 2005), sie spielt aber auch in Michael Walkers Buch eine wichtige Rolle. Ihre Versessenheit auf Musiker (ihre „Karriere“ begann damit, dass sie sich in Chris Hillman, Bassist der Byrds und der Flying Burrito Brothers verliebte) machte sie bald so berühmt wie ihre Lieblinge selbst, sie war der „Darling of the Canyon.“ Walker berichtet aber nicht nur von der sorglosen Flower-Power-Hochzeit. Er beschreibt anschaulich den Verfall des Hippieparadieses, in dem heute, vierzig Jahre nachdem der erste langhaarige Folkie sein Häuschen am Hang bezog, noch immer ein klein wenig „magic in the air“ zu spüren ist. [Christina Mohr]
» www.rogner-bernhard.de
» www.laurelcanyonthebook.com
Michael Jacobs: All that Jazz.
Die Geschichte einer Musik
Reclam, 472 Seiten, € 9,90
Wer war Jelly Roll Morton? Ende der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts lief ein Mann dieses Namens durch die Straßen von Harlem und erzählte allen, die es hören wollten (und auch allen anderen), dass er den Jazz erfunden habe. Die Musik, die Nacht für Nacht in den New Yorker Clubs und Bars gespielt wurde, sei seine Musik. Ganz unrecht hatte Morton nicht, schließlich war der in New Orleans geborene und aufgewachsene Kreole einer der ersten, der die Musik der afrikanischen Sklaven für ein breiteres und tanzwütiges Publikum zugänglich machte. Von Jelly Roll gibt es keine Tondokumente, doch es gilt als historisch verbürgt, dass er bereits 1902/03 auf seinem Piano erste Jazz- und Ragtimestücke spielte und viele, später zu Klassikern avancierte „Rags“ komponierte. In der mittlerweile dritten erweiterten und aktualisierten Ausgabe von „All that Jazz“ gibt es viele solcher Anekdoten – einige sind zum Schmunzeln, andere tragisch und bewegend. Die Geschichte des Jazz kann nicht erzählt werden, ohne von Unterdrückung, Diskriminierung, Ausbeutung der Schwarzen in den USA zu berichten. So ist der Jazz – wie der Blues – als genuin schwarze Musik zuallererst eine Musik der Befreiung, der Emanzipation. Ob in Chicago, New Orleans oder New York, ob Swing, Ragtime, Cooljazz, Be- oder Hardbop, fast immer waren es Schwarze, die durch die Musik ihre Würde wiederfanden, etwas Neues schufen. Viele weiße Musiker waren vom „syncopated beat“ so begeistert, dass sie den Jazz – wie später den Rock'n'Roll – adaptierten. Benny Goodman, Bix Beiderbecke und Mezz Mezzrow sind nur einige der weißen Jazz- und Bigbandgrößen, die in „All that Jazz“ vorgestellt werden. Der Schwerpunkt des Buches liegt auf der Jazz-Historie, Autor Michael Jacobs spannt den Bogen von den frühesten Anfängen in den Südstaaten des frühen 20. Jahrhunderts bis zum Höhepunkt im New York der fünfziger Jahre, als visionäre Musiker wie Charlie Parker, Miles Davis, Chet Baker und Charles Mingus zum Lebensstil erkoren, den Jazz der rein musikalischen Rezeption enthoben. In der aktualisierten Ausgabe von „All that Jazz“ werden erstmals auch die neuen Spielweisen des Jazz berücksichtigt. Jacobs porträtiert Musiker wie John Zorn, Joe Zawinul, Steve Cole und das schwedische Esbjörn Svenson Trio, am Ende des Buches gibt es ausführliche Hörempfehlungen. Zu kurz kommen die Jazzerinnen: „klassische“ Sängerinnen wie Bessie Smith, Ella Fitzgerald und Billie Holiday werden vorgestellt, jüngere Musikerinnen aber zum Großteil ausgespart, Koryphäen wie Alice Coltrane gar komplett übersehen. Das ist schade, aber die nächste Ausgabe von „All that Jazz“ kommt bestimmt! [Christina Mohr]
Michael Boehlke, Henryk Gericke (Hrsg.):
Too Much Future – Punk in der DDR
(Verbrecher Verlag, 224 Seiten€ 16,80)
Hartnäckig hält sich das Gerücht, die DDR habe der Bürgerlichkeit den Garaus gemacht. Das traurige Gegenteil war der Fall. Langeweile und Wohlanständigkeit bildeten eine Internationale für sich. Michael "Pankow" Boehlke erinnert sich, wie sein ganzer Wohnblock am Fenster stand, wenn er das Haus verließ: Gewandet in einem aus der Jugendmode geklauten Sakko, das unverzichtbare Anarchiezeichen drauf gesprüht, darunter ein zerissenes T-Shirt. Punk sein hieß, bewundert und bespuckt zu werden. Insgeheim bewundert für das, was man sich herausnahm, öffentlich bespuckt aus denselben Gründen. Nicht selten von ein und denselben Leuten. Das subversive Zeichensystem, der Schock und das befreiende Gelächter provozierte im Osten nicht anders als im Westen. Die Entscheidung dafür fiel aber vor einem gänzlich anderen Hintergrund.
Boehlke, Henryk Gericke, beides Aktivisten der ersten Generation von DDR-Punks (1979-1984, davon wird noch zu reden sein) und diejenigen ihrer Mitstreiter, die sich noch erinnern können oder wollen, beleuchten ihn auf anarchisch gestalteten, kurzweiligen 200 Seiten, lassen die Suche, den Suff und den Sound plastisch werden. Bernd-Michael Lade, der Schauspieler, Regisseur und Tatort-Kommissar, von 1980 bis 1983 Mitglied der Ost-Berliner Punkband Planlos, bringt es auf den Punkt: "Anders als in England gab es keine sozialen Gründe, Punk zu werden. In der DDR gab es keine Armut. Da waren es ausschließlich Mode oder Musik. Die war ganz einfach strukturiert, aber mit Kraft und Aggression und mit einer großen Traurigkeit. Und dann kamen natürlich politische Gründe dazu." Ostpunk wies das staatliche Glücksversprechen zurück, bestand auf dem Recht auf Unglück und verweigerte die abgezirkelte Zukunft.
"Too Much Future" korrigiert beliebte Mythen. Zum einen: Punk hat im Osten nicht etwa mit einiger Verspätung, sondern bereits kurz nach seinem britischen Vorbild in den späten Siebzigern begonnen. Dann verlassen die Beiträge den Berliner Horizont. Zum anderen: Ostpunk-Bands der zweiten Generation traten nicht mehr nur in Kirchen und Irrenanstalten, sondern schon mal, vom Verfasser dieser Zeilen offenen Mundes erlebt, auf der Freilichtbühne Weißensee auf. Dass sie es tun konnten, war ohne Vorarbeit undenkbar. Eine, die für die Pioniere nicht ohne Folgen blieb. Im Westen konnte Punk zu einem Plattenvertrag, oder mit weniger Erfolg, einem Sitzplatz in der Fußgängerzone führen. Auf die im Buch Porträtierten warteten Spießer mit geballter Faust, Armee, Ausreise oder Knast. Zu beschönigen gibt es dabei nichts. Bequem ließe sich jetzt in einen der Kardinalsfehler verfallen, wann immer an Opposition und Subkultur in der DDR erinnert wird, in den der spezifischen Weinerlichkeit. "Too Much Future" bedient nun gerade nicht den sattsam bekannten, anklagenden Tonfall, sondern hat das Tempo der Ramones und die Kantigkeit der Swell Maps. (Erstveröffentlichung in: junge Welt vom 10.10.2007, Beilage literatur. Für satt.org gekürzt.) [Robert Mießner]
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