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Januar 2008
Christina Mohr
und Ronald Klein
für satt.org

Short Cuts-Logo
Januar 2008, erste Hälfte:


Die ersten Short Cuts des neuen Jahres präsentieren vier äußerst unterschiedliche Veröffentlichungen: Dubstep von Burial, Vocal Jazz von José James, elektronische Balladen von Raz Ohara & the Odd Orchestra und bösen, dunklen Hardrock von Darkthrone.

Burial: Untrue
(Hyperdub/Cargo)

Burial: Untrue

satt.org entdeckt Dubstep spät und zieht den Hut vor denen, die es vorher und besser wussten. Dubstep, der Sage nach zu Beginn der Nullerjahre im Südlondoner Club Forward entstanden, speist sich aus Garage-, 2-Step-, Drum'n'Bass- und Junglefragmenten und entwickelt aus deepen Basslinien und reduzierten Beats einen düsteren und genuin urbanen sonischen Sog. Mit Dubstep verwandt ist Grime mit M.I.A. als prominentester Akteurin, jedoch ist Grime wesentlich schneller, aggressiver und HipHop-beeinflusst. Als Dubstep-Pioniere gelten Producer und DJs wie Benga, Kode9 und Skream; eine bedeutende Rolle für die Popularität des Dubstep spielt BBC Radio-1-DJ Mary Anne Hobbs, die als erste regelmässig Dubstep-Platten vorstellte.

Der mysteriöse Londoner Produzent und Musiker Burial, dessen bürgerlicher Name ein Geheimnis ist und bleiben soll, schuf mit seinem Debütalbum aus dem Jahre 2006 ein Meisterwerk des Genres und auch seine zweite Platte „Burial“ wird in die Annalen des Dubstep eingehen. Weniger depressiv als das monolithische Erstlingswerk, aber noch immer dunkel im Grundton und melancholisch in der Gesamtwirkung ist „Untrue“; fragil und schwer zugleich klingen die dreizehn Tracks, von denen der letzte, „Raver“, der lebhafteste ist. Burial entwickelt aus verschleppten Beats und Bass, aus Hall und Dub anthrazitfarbene Soundscapes, in die sich vereinzelt Sonnenflecken mischen, weibliche Vocals bringen Soul und Hoffnung. Deutlich auf „Untrue“ wird der Songcharakter, der bei Burials erstem Album kaum von Bedeutung war; Stücke wie „Archangel“ oder das einprägsame „Ghost Hardware“ basieren auf nervösen clicks'n'cuts, verwoben mit hypnotischen Dubs und mysteriösen Stimmfetzen ergeben sich minimalistisch-narkotische, tja, Popsongs, wenn man sie so nennen will. Könnte man diese Musik überhaupt mit etwas anderem vergleichen, steht der epochale Specials-Song „Ghost Town“ atmosphärisch am nächsten, auch die düsteren Ambientplatten Photeks sprechen eine ähnliche Sprache wie Burial. Man kommt nicht umhin, Burials Klanggemälde als „Soundtrack“ zu bezeichnen, ein Soundtrack für einen Post-Post-Blade Runner, für einen Film, der gleichzeitig Euphorie und Erschöpfung, Einsamkeit und Entgrenzung zeigen will. „Untrue“ ist ein Album wie ein Elefant: grau, riesig, einschüchternd beim Erstkontakt; sensibel, weise und verletzlich beim genauen Hinschauen/-hören.


Raz Ohara and the Odd Orchestra
(Get Physical/RTD)

Raz Ohara and the Odd Orchestra

Der Däne Raz Ohara liebt die Abwechslung: er begann seine musikalische Laufbahn als HipHopper in Berlin, experimentierte mit Clubsounds, um sich dann ohne Umschweife die Indie-Gitarre umzuhängen. Sein neues Album, das er mit seinem Freund und Musikerkollegen Oliver Doerell a.k.a. the Odd Orchestra aufgenommen hat, erscheint beim renommierten Dancelabel Get Physical und hat doch nur wenig auf dem Dancefloor zu suchen. Die elf Tracks sind kammermusikalisch anmutende Songwriter-Pop-Miniaturen im Spannungsfeld zwischen Low-Fi und zartem Geräteklickern, sollten eher im Bett oder auf dem Sofa goutiert werden als inmitten einer quirligen Menschenmenge. Raz' charakteristische, brüchig-heisere Stimme singt/spricht von vergangener und neu entstehender Liebe, von Enttäuschung, Trauer, Wehmut, aber auch Hoffnung. Oharas elektronische Balladen sind von einer aparten, einlullenden Schönheit, die gerade jetzt, in der kalten Jahreszeit, zu guten Freunden werden. Wenn sie auch manchmal kleine Rätsel aufgeben: Zirpen auf „Love For Mrs. Rhodes“ reale Vögel oder wird mimikrymäßig an den Knöpfchen gedreht? Der Soundtrack welches Hollywoodschinkens in Cinemascope wird in „Wondering“ zitiert? Zum verhalten dynamischen „Kisses“ wird es Remixe von Pantha du Prince, Philip Bader und Apparat geben – Ohara und sein verrücktes Orchester finden also doch noch den Weg in die Clubs!


» myspace.com/razohara



José James: The Dreamer
(Brownswood Recordings/V2/Cooperative Music)

José James: The Dreamer

Der 28jährige José James ist das aktuellste Signing auf Brownswood Recordings, dem Label des Londoner Acid-Jazz-Pioniers Gilles Peterson. James stammt aus Prince-Town Minneapolis und wuchs als Sohn musikbegeisterter Eltern auf, die ihm schon im zartesten Kindesalter Jazzgrössen wie Duke Ellington, Louis Armstrong und Charlie Parker vorspielten. Als Teenager entdeckte er Nat King Cole, Charles Mingus und Thelonious Monk und begann, inspiriert durch den afroamerikanischen Poeten und Musiker Louis Alemayehu, erste eigene Texte zu schreiben. Kein Wunder also, dass „The Dreamer“, José James' Debütalbum, ein im Garn gefärbtes Jazzalbum ist, wie man es von einem jungen Musiker wie James nicht unbedingt erwarten würde. Dabei waren seine Anfänge als Jazzvocalist alles andere als verheissungsvoll: als er im Jahr 2000 in New York versuchte, Kontakte zu knüpfen und Auftritte zu ergattern, scheiterte er kläglich. Selbst seine Freundin glaubte nicht daran, dass ihm einst eine Karriere als Sänger vergönnt sein würde. José stellte seine Versuche fürs erste ein, konzentrierte sich aufs Schreiben und zog zurück nach Minneapolis. Dort wurde seine ehemalige Highschool-Lehrerin auf ihn und sein enormes Talent aufmerksam, sie ermunterte ihn, weiter zu machen und wieder nach NYC zu gehen. Dieses Mal hatte er mehr Glück, er traf die richtigen Leute, stellte eine Band zusammen und begann, in kleinen Clubs aufzutreten. Inzwischen hatte er eine Reihe eigener Songs geschrieben, die – alle live erprobt – auf „The Dreamer“ zu hören sind. Im Gegensatz zu anderen Jazzsänger greift James nur stilistisch auf alte Vorbilder zurück, spielt aber ausschliesslich eigenes Material. Sein rauchiger, samtzarter Bariton schwebt über den meist traditionell arrangierten Songs, die Gestern und Heute bruchlos verbinden. Im schlicht „Love“ betitelten Opener flackern Breakbeats, die die Verbindung zu Labelchef Petersons Leidenschaft herstellen; auf „Red“ flirrt und schwirrt ein Barpiano, der Titeltrack featuret eins der prägnantesten Trompetensolos der letzten Jahre und die Ballade „Desire“ dürfte endgültig klarmachen, dass hier der Hoffnungsträger des Vocal Jazz zu hören ist.


» myspace.com/josejamesquartet
» www.brownswoodrecordings.com



Darkthrone: NWOBHM
(New Wave of Black Heavy Metal)

Darkthrone: NWOBHM

Musikgrenres gehen in der Regel auf die Erfindung von Journalisten zurück. Die Schublade des New Wave of British Heavy Metal zog Ende der 70er Jahre der Engländer Neal Kay auf, um Bands zu beschreiben, die, offensichtlich von Black Sabbath beeinflusst, mit der Energie von Punk agierten. Das norwegische Black-Metal-Urgestein Darkthrone nutzt das Wortspiel auf ihrer neuen EP, um auf die eigenen Punk-Wurzeln zu verweisen. Das scheint nicht besonders originell, Mainstream-Headbanger wie Metallica und Slayer praktizierten es bereits vor etlichen Jahren. Doch nimmt man es der Osloer Truppe um Nocturno Culto und Fenriz ohne Zögern ab. Wer sich ihr 1991er Meisterwerk „A Blaze in the Northern Sky“ genau anhörte, bemerkte, dass die Jungs nicht nur im Gehörnten, sondern auch in britischen Punk- und amerikanischen Garagen-Bands ihre(n) Meister gefunden hatten. Selbst das Markenzeichen der Band, fertige Aufnahmen besonders schlecht abzumischen, um so Proberaumsound zu erzeugen, klingt mehr nach Punk als Metal. Der grottige Sound gehört jedoch der Vergangenheit an. Der Opener „Wisdom of the Dead“ klingt nach modernem skandinavischem Metal mit 70er-Jahre-Progressive-Einschlag. Es folgt mit „Canadian Metal“ und Fenriz am Mikrophon eine nostalgische Trash-Hymne, die den Plastik-Kapellen selbstironisch den Kampf ansagt. Das auf Norwegisch vorgetragene „Hedninger Fra Helvete“ stellt vielleicht noch am ehesten das Bindeglied zu den alten Darkthrone dar. Die Rhythmus-Fraktion rumpelt herrlich gemütlich zum hasserfüllten Gesang. Der perfekte Soundtrack zur Grabschändung. An „Bad Attitude“ hingegen werden sich die Geister scheiden. Coverten Darkthrone mit Siouxsie & The Banshees zuletzt eine britische Punk-Combo, so ist mit The Testors diesmal ein amerikanisches Aequivalent dran. Die Band um Sonny Vincent machte zwischen 1975 und 1979 kleine Clubs wie das CBGB?s unsicher, aber erlangte nie die Popularität der Ramones oder Dead Boys. „Bad Attitude“ ist mit 1:47 Minuten wirklich lässig hingerotzt und klingt trotzdem authentischer als moderne Bands mit Strubbelhaaren. [Ronald Klein]


» www.darkthrone.no
» www.peaceville.com