Februar 2008, erste Hälfte:
Die dritte Short Cuts-Ausgabe in diesem Jahr präsentiert neue Alben von Xiu Xiu, Beach House, Rocky Votolato, Cass McCombs, Aidan John Moffat und - tataaa! - die 25th-Anniversary-Editon von Michael Jacksons epochalem Album "Thriller". Thomas Backs und Christina Mohr lieferten sich einem Wechselbad der Gefühle aus.
Michael Jackson:
Thriller 25th Anniversary
(Epic/SonyBMG)
Über Sinn und Unsinn dieser Jubiläumsausgabe anläßlich des 25. Jahrestags der Veröffentlichung von Michael Jacksons epochalem Album „Thriller“ streitet sich die Amazon-Community die Köpfe heiß (die meisten Bewerter referieren Jacksons Laufbahn und weisen auf den Klassikerstatus von „Thriller“ hin – das langweilt andere Bewerter, die daraufhin ebenso langweilige Tiraden loslassen, wie unsinnig diese Re-Re-Release ist, wo es doch vor zwei oder drei Jahren „Thriller“ als komplett remasterte Edition gab... die gesamte Bewerter-Call-and-Response-Schleife besitzt gewissen Unterhaltungswert, bringt aber niemanden wirklich weiter). Natürlich besitzen geschätzte vier Fünftel der Weltbevölkerung diese Platte und neuseeländische Schafe kriegen die Choreographie von „Beat It“ genauso hin wie der Modern-HipHop-Dance-Kurs der Volkshochschule Klein-Auheim. Und doch: „Thriller“, produziert von Quincy Jones, ist – egal ob auf BASF-Cassette von 1983 oder im High-End-Anniversary-Paket – essentieller Stoff. Vorbildlich kompakt: zehn Songs, jeder davon ein Hit (wobei man für die Jubiläumsausgabe unter Bezugnahme auf die internationalen Menschenrechtsvereinbarungen das Duett mit old Paule McCartney „The Girl is Mine“ ruhig hätte löschen können), „Thriller“, „Beat It“ und „Billie Jean“ direkt hintereinander weg, also bitte, wo gibt/gab es denn sowas schon? Nein, wir fangen an dieser Stelle nicht damit an, dass MJ nach „Thriller“ ziemlich durchgedreht ist, dass er im 15-minütigen Horrorvideo zum Titelsong als Zombie verkleidet menschlicher aussah als heute, etc.pp. Geschenkt. Wer „Thriller“ tatsächlich noch nicht zu Hause hat, kann sich die Anschaffung jetzt ja nochmal überlegen: die 25th-Anniversary-Edition kommt als Rundum-Glücklich-Package mit DVD (mit den Videos beziehungsweise Kurzfilmen zu „Thriller“, „Beat It“ und „Billie Jean“), plus Remixen/Neuaufnahmen von Fergie, will.i.am, Akon und Kanye West.
Aidan John Moffat:
I Can Hear Your Heart
(Chemical Underground/Rough Trade)
Über zehn Jahre war Aidan John Moffat eine Hälfte des schottischen Indie-Folkpopduos Arab Strap. Moffat war „der mit dem Bart“ und der Vorliebe für drastische, explizite Lyrics. Als er und sein Kollege Michael Middleton vor knapp zwei Jahren das Projekt Arab Strap für beendet erklärten, war die Trauer unter den Fans groß. Doch sowohl Middleton als auch Moffat hatten schon während ihrer Arab Strap-Zeit an verschiedenen Nebenprojekten gearbeitet, Moffat hatte unter dem Pseudonym Lucky Pierre respektive L. Pierre bereits drei Soloplatten veröffentlicht. Unter seinem „bürgerlichen“ Namen bringt der 34jährige Glasgower jetzt das Album „I Can Hear Your Heart“ (erschienen auf Chemical Underground, wie auch die Arab Strap-Alben) heraus, das vom Presseinfo als „audio novel“ bezeichnet wird. Tatsächlich spielt die Musik eine eher untergeordnete Rolle; die Soundcollagen, dezenten Klavier-, Elektro- und Filmmusiksnippets dienen einzig dazu, Moffats mit starkem schottischen Akzent vorgetragenen Gedichte und Kurzgeschichten zu akzentuieren. Moffats Poeme haben es in sich, bis auf wenige Ausnahmen (eine wunderbar trunkene Coverversion von Bruce Springsteens „Hungry Heart“ und ein Gedicht von Dorothy Parker) geht es ausschließlich um ein Thema: Sex. Moffat widmet sich seinem Sujet dringlich, drastisch, bittersüß und humorvoll, bei aller Derbheit und Intimität offenbart sich stets der Romantiker und leidenschaftliche Liebhaber. Möchte man dieses spoken word/Gedichtalbum in Gesellschaft anhören, sollte man den/diejenigen unbedingt gut kennen und es sollte klar sein, was nach dem Anhören passieren kann (oder auch auf keinen Fall passieren wird). Vergleichbar mit Michael Winterbottoms Film „Nine Songs“, den würde man ja auch nicht gleich beim ersten Date anschauen.
» www.aidanmoffat.co.uk
Rocky Votolato:
The Brag & Cuss
(Barsuk Records/Rough Trade)
“no one else was ever half this beautiful, no two hearts were ever half what ours was whole / desperate like the rain on your midnight window sill / I said I love you and I know that's what you meant / I know that's what you meant“ Das sind die Lyrics im Refrain von „Your darkest eyes“, einem von elf wunderschönen, relaxten Country-Songs auf dem neuen Album „The Brag & Cuss“ von Rocky Votolato aus Seattle, USA. Prahlereien und Schimpfwörter, also, die Votolato gemeinsam mit Co-Produzent Casey Foubert und einer Band innerhalb von sechs Wochen aufgenommen hat. Zu den mitwirkenden Musikern gehören Schlagzeuger James McAllister (Sufjan Stevens), Bassist Bill Herzog (Jesse Sykes & The Sweet Hereafter), Casey Foubert (Pedro the Lion) an Gitarre, Banjo, Mandoline und Percussion sowie Rick Steff (Cat Power, Hank Williams Jr. etc.) mit Hammond Orgel, Piano und Akkordeon. Zu hören gibt es eine sehr ausgereifte, wunderbar instrumentierte Sammlung von Songs, die alle während der langen USA-Tournee zum Vorgängeralbum „Makers“ (2006) entstanden sind. Sie sprechen von Einsamkeit, langen und einsamen Nächten auf Highways und in Bars mit viel Whiskey und Zigaretten. Rocky Votolato (29), der in einer Kleinstadt bei Dallas aufgewachsen ist und dann die Indie- und Punk-Szene in Seattle kennen lernte, war dabei weit weg von seiner Frau und den gemeinsamen Kindern. Was er dabei gefühlt hat, lässt sich beim Hören von Songs wie „Postcard from Kentucky“ oder „Whiskey Straight“ erahnen. Der Soundtrack seiner Jugend klingt auch mit: Den schrieben unter anderem Willie Nelson, Steve Earle, Lynyrd Skynyrd und Johnny Cash. Vom 11. bis zum 24. Februar ist Rocky Votolato wieder weit weg von Zuhause: Dann ist er auf Tour in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich und in den Niederlanden.
[Thomas Backs]
Rocky Votolato live - Europe February 2008:
11.02.08 Germany - Berlin, Bassy; 12.02.08 Germany - Köln, Rex am Ring Kino (seated); 13.02.08 Germany - Münster, Gleis 22 (SOLD OUT!); 14.02.08 Germany - Bremen, Spedition (NEW VENUE!); 15.02.08 Germany - Erlangen, E-Werk; 16.02.08 Germany - München, Orangehouse @ Feierwerk; 17.02.08 Austria - Wien, B72; 18.02.08 Switzerland - Zürich, Abart Music Club (NEW VENUE!); 19.02.08 Germany - Karlsruhe, Cafe Nun; 20.02.08 France - Paris, Mains d'Oeuvres; 21.02.08 Belgium - Antwerpen, Trix; 22.02.08 Germany - Giessen, MuK; 23.02.08 Germany - Braunschweig, Nexus; 24.02.08 Netherlands - Rotterdam, Rotown
» www.rockyvotolato.com
» myspace.com/rockyvotolato
Cass McCombs:
Dropping the Wit
(Domino)
Manchmal ist es gut, wenn über einen Künstler wenig bis nichts bekannt ist – so besteht die Chance, dass etwaige Eskapaden, ulkige Hobbys, berühmte Eltern oder BettgefährtInnen nicht den Blick auf das Werk verstellen. Im Falle Cass McCombs' ist das so, über den Frühdreissiger aus Kalifornien gibt es kaum Infos, Gerüchte schon gar nicht. Seine beiden ersten Alben, „A“ von 2003 und „PREfection“ (2005) erhielten freundliche, aber verhaltene Rezeption. Das könnte sich mit „Dropping the Wit“ ändern: die zehn Songs der Platte sind von erstaunlicher Vollkommenheit und bestechender Schönheit, die sich bei oberflächlicher Betrachtung unter Folk einsortieren liessen. Doch nach intensiverer Beschäftigung offenbaren sich so viele Facetten und Details, dass man McCombs unmöglich die Beschränkung eines einziges Genres zumuten mag. Mit heller, fester Stimme, die viele an Jeff Buckley erinnern wird, erzählt er skurrile, traurige und sarkastische Geschichten, die er – wie bei „Full Moon Or Infinity“ und „Windfall“ - tatsächlich in ein an die Sixties erinnerndes Folkgewand kleidet. McCombs flirtet auch mit Teenage-Opera-Schmacht („Deseret“) und zeigt bei „Crick in My Neck“ seine große Liebe für Shoegazer- respektive New-Pop-Bands wie Orange Juice und deren Adepten. „Petrified Forest“ ist Singer/Songwriter-Pop at its Best, das leichtfüssig swingende „Pregnant Pause“ und „That's That“, das man am Treffendsten als „Soft'n'Roll“ bezeichnen könnte, zeigen Cass McCombs als begnadeten Komponisten, der sich vor großen Vorbildern nicht verstecken muss. Und hoffentlich wird der Opener „Lionkiller“ ein Hit – der energetische Song über einen Löwenbändiger in spe („I was called Scorpio / I ought to kill a lion some day / I was encouraged to sing / yes, I was a privileged son“) ist so zwingend, dass man sich wünscht, man wüsste ein wenig mehr über den Schöpfer Cass McCombs...
» www.cassmccombs.com
» myspace.com/cassmccombs
Beach House: Devotion
(Bella Union/Universal/Cooperative Music)
Ein Album, wie geschaffen für das jahreszeitbedingte Zwielicht, die uneindeutigen, verheissungsvollen Stimmungen, die den dunklen Winter verabschieden und den Frühling begrüßen. Alex Scally und Victoria Legrand, zusammen Beach House, perfektionieren mit ihrer zweiten Platte „Devotion“ den sanft schwebenden angefolkten Pop, mit dem sie schon auf ihrem Debütalbum bezauberten. Als Referenzbands werden häufig Galaxie 500, My Bloody Valentine, Mazzy Star, Cat Power oder Spiritualized genannt – was nicht ganz falsch ist, doch Beach House sind fast vollkommen frei von Melancholie und Schmerz, was bei den oben angeführten Bands eine wesentlich größere Rolle spielt. Die Musik von Beach House ist einlullend und träumerisch-langsam, dabei heiter, leicht, umarmend. Dämonen haben keinen Platz im Strandhaus. Lieber wird bei „Holy Dances“ ein angedeuteter Walzer getanzt, bei „Wedding Bell“, „Darling“ und „You Came to Me“ den Beach Boys und The Mamas and the Papas gehuldigt. Überhaupt sind Beach House den friedlichen Hippies der sechziger Jahre näher als desillusionierten Depressiven der frühen Neunziger. Legrands Stimme klingt fragil, ist aber voller Sonne und Wärme; die Instrumentierung ist zurückgenommen, keine Synkope stört die Harmonie. Zarteste elektronische Beats und Schellenkränze sorgen für luftige, federleichte Strukturen, die Platz für dezente Orgel-, Glöckchen- und Gitarrensounds bieten. Am Schluss des Albums befindet sich „Some Things Last a Long Time“, Coverversion eines Daniel-Johnston-Songs, den Beach House aller Johnston-Grantelei entledigen – was bleibt, sind Spuren im Sand.
» www.bellaunion.com
» www.beachhousemusic.net
» myspace.com/beachhousemusic
Xiu Xiu: Women as Lovers
(Kill Rock Stars/Soulfood)
Ganz anders Xiu Xiu: Jamie Stewart, Gründer und einziges festes Mitglied des Projekts Xiu Xiu beschwört auf dem neuen Album „Women as Lovers“ seine Dämonen, treibt sie gleichzeitig aus und ein. Wenn man Xiu Xius Musik überhaupt im weitesten Sinn als Pop bezeichnen kann, läßt sich zu „Women...“ sagen, dass es „hörbarer“, goutierbarer geraten ist als „La Forêt“ von 2005 oder „Fabulous Muscles“ (2004). Stewart arbeitet weiterhin mit Versatzstücken aus klassischer Musik, Noise und Industrial, läßt warmes Glockenspiel auf schneidende Synthiesounds folgen, bildet mit Vibraphon, Kastagnetten und Mandoline so etwas wie Harmonie. Dramatische Akzente (im Booklet steht unter den Lyrics zu „White Nerd“: Caralee McElroy: heart clogging screamzzzz!!) und theatralische Arrangements machen Xiu Xiu zur düsteren Geschwisterband von Divine Comedy – nur sind Stewarts Lyrics weitaus verstörender als Neil Hannons Dandyismen. Ob Irakkrieg („Guantanamo canto“), Homosexualiät („Master of the bump“), Sex überhaupt („In lust you can hear the axe fall“, „You are pregnant, you are dead“) oder Kindesmißbrauch („Child at Arms“), Xiu Xiu gehen dort hin, wo es weh tut und stochern nochmal extra in der Wunde. Nicht aus Sadismus, sondern um Realitäten zu zeigen. Überraschung bei Track sechs: Stewart und Gastsänger Michael Gira covern „Under Pressure“, den Hit von Queen & David Bowie aus dem Jahr 1981. Die Xiu Xiu-Version mit ihrem dekonstruktivistischen Saxophon-Solo von Howard Wiley verkörpert den eigentlichen Inhalt des Songs (Zerrissenheit, Druck, Entfremdung) tausendmal eindringlicher als die damaligen Larger-than-life-Superduperstars Bowie und Mercury. Eine Coverversion, die das Original wie einen netten Versuch klingen läßt.
» www.xiuxiu.org
» myspace.com/xiuxiuband