Buchmesse Leipzig
Ein musikliterarisches Resümée
Leipzig is over – also die Leipziger Buchmesse, die vom 13. - 16. März in äh, Leipzig stattfand. Die Leipziger unterscheidet sich von der Frankfurter Buchmesse vor allem dadurch, dass es keinerlei Reglementierungen gibt wie zum Beispiel sogenannte „Fachbesuchertage“, die das enorme Interesse der lesenden Bevölkerung bremsen könnten. In diesem Jahr fiel den aus dem Westen angereisten Besuchern schon am Bahnhof die ungewöhnlich starke Präsenz von Polizisten auf – galten Messebesucher neuerdings als besonders gefährlich? Die erste abendliche Taxifahrt sorgte für Aufklärung: unser geschäftstüchtiger besorgter Fahrer unterhielt uns mit Horrorgeschichten über die aktuellen Ereignisse in Leipzig. So war am vorherigen Wochenende der „Discokrieg“ ausgebrochen, der bislang ein Todesopfer forderte – ob es ein Unfall oder geplanter Mord war, liess sich noch nicht aufklären. Inzwischen hatten sich die Hell's Angels in den „Krieg“ eingemischt und prophezeiten für den Messesamstag ein „Discomassaker“. Ausserdem war für den Samstag eine NPD-Kundgebung angekündigt (die abgesagt wurde) und dazu kam noch die Fünftliga-Fußballbegegnung zwischen Lokomotive Leipzig und dem 1. FC Leipzig – kein Wunder, dass die sächsische Polizei rotierte und sogar Kavallerie einsetzte, was für pittoreske Eindrücke innerhalb der städtischen Grünanlagen sorgte.
Das Messegelände, weit ausserhalb der Leipziger Innenstadt angesiedelt, bot Schutz vor derlei unschönen urbanen Unbilden. Aber die Messehallen waren nicht nur wegen ihrer Herbergsfunktion voll, voll, voll. Die Leute wollten lesen und Promis gucken – in dem ganzen Rummel konnten auch Verfasser anthroposophischer Lyrik gewiss sein, bei Lesungen grosse Zuhörerscharen vorzufinden, schon allein deshalb, weil man sich ja zwischendurch mal hinsetzen musste. satt.org stürzte sich ins Getümmel und hat kein einziges Foto mitgebracht: keine Bilder von den Millionen Cos-Playern (Jugendliche in durchgeknallter Manga-, Fantasy- und Comic-Kostümierung), keine von Martin Walser, Charlotte Roche, Rainer Langhans, Kathrin Passig, Winfried Glatzeder und anderen Megastars der Lit-Scene und auch keins von satt.org/Literatur-Chef, Vordenker und Autor Marc Degens, der seinen Roman „Hier keine Kunst“ auf der Leseinsel der jungen Verlage vorstellte. Wer Fotos gucken will, muss auf Seite drei im Internet nachschlagen oder auf die Steinzeitmedien Fernsehen und Zeitung zurückgreifen. Wir konzentrierten uns komplett auf die Inhalte und stellen im Folgenden eine Auswahl neuer Bücher vor, die in unterschiedlicher Ausprägung etwas mit Musik zu tun haben. Apropos Musik: der Trend zum von Musikern geschriebenen Buch ist ungebrochen. Die Presseveranstaltung von Wir sind Helden anlässlich der Veröffentlichung ihrer Tourtagebücher geriet zum gigantischen Happening im grössten Saal des Congress Centers. Frank Apunkt Schneider diskutierte mit Bert Papenfuß und Alfred Hilsberg über Punk in BRD und DDR; PeterLicht konnte gleich bei mehreren Veranstaltungen seine Erfolge des letzten Jahres wiederholen, gar übertreffen und Peter Hein las am Messesamstag in der überfüllten Connewitzer naTo vor einem Publikum, das getrost als „zwischen acht und achtzig“ bezeichnet werden darf. Ein so strammes Programm kann schon mal zu Verwechslungen führen: Beim Draussenrauchen nach Heins Lesung belauschte ich ein Paar, das Peter Hein für den Sänger von Geier Sturzflug hielt: „ach das war der, der 'Bruttosozialprodukt' gesungen hat!“
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Christiane Rösinger liest aus ihrem Buch "Das schöne Leben" :
- Do 10.04.2008
Hamburg - Golden Pudel Club
- Fr 11.04.2008
Lübeck - Filmhaus Lübeck
- Sa 12.04.2008
Bremen - Stauerei
- Mo 14.04.2008
Düsseldorf-Zakk
- Di 15.04.2008
Stuttgart - Schocken
- Do 17.04.2008
Wien - WUK
- Fr 18.04.2008
München - Kranhalle
- Di 13.05.2008
Dresden - Scheune
- Mi 14.05.2008
Nürnberg-K4
- Do 15.05.2008
Köln - Gebäude 9
- 16.05.2008
Heidelberg - Karlstorbahnhof
- So 18.05.2008
Frankfurt a.M. - Brotfabrik
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Schnell weg, in Ilses Erika, wo Christiane Rösinger ihr Buch „Das schöne Leben“ vorstellte. Rösinger setzte ihre Lesebrille auf und erklärte den Zuschauern, dass sie quasi ein Testpublikum darstellten: richtig ernst würde es erst am 28.3. im Festsaal Kreuzberg in Berlin. Die Leipziger nahmen die charmante Schmähung locker und applaudierten freundlich und begeistert. Christiane nutzte alle Möglichkeiten moderner Technik für ihre Multimediashow: sie begann ihre Lesung mit einer Karaoke-Darbietung von Petula Clarks Evergreen „Downtown“, dem Song, der so wichtig für den Beginn ihrer Karriere war. Schon als Kleinkind sang sie, während ihre Verwandtschaft auf dem Acker Spargel stach oder Kartoffeln erntete, unermüdlich das einzige Lied, das sie kannte: „Downtown“ in kindlich ausgedachtem phonetischen Englisch – nicht immer zur Freude der Eltern, Tanten und Geschwister. „Downtown“ nährte in der kleinen Christiane schon früh die Gewissheit, dass sie Hügelsheim, ihr Heimatdorf, irgendwann verlassen musste. „Das schöne Leben“ erzählt von der Jugendzeit auf dem Lande, von brummeligen Vätern und schicksalhaft zusammenhaltenden Müttern, Kindern und Katzen (die, sofern sie schwarz waren, alle „Mohrle“ hiessen, oder etwas später, in Zeiten fortgeschrittener Amerikanisierung auch gern „Blacky“). Als junge Mutter verlässt Christiane dann tatsächlich die badische Provinz und zieht nach Berlin. Die autobiografischen Geschichten über Zusammenkünfte im „Fischbüro“, die Nächte im legendären ex&pop und schliesslich die Gründung der Lassie Singers und der selbst betriebenen Flittchenbar sind so melancholisch, warmherzig, lakonisch und doch tröstlich erzählt, dass niemals auch nur ein Hauch von Stilisierung aufkommt – und wer könnte sich ein bisschen Selbstbeweihräucherung mehr erlauben als Christiane Rösinger, deren Texte schon so vielen Menschen aktive Lebenshilfe leisteten. In ihrem Buch wird ausser dem Leben mit der Band vieles thematisiert, das über den reinen Popkontext hinausreicht: das Dasein als alleinerziehende Mutter zum Beispiel oder die Erkenntnis, dass die Menschen, die man abends beim Ausgehen trifft, ungleich interessanter scheinen als die Kommilitonen aus dem Germanistikseminar. Rösinger arbeitet die Diskrepanz zwischen depressiver Apathie (die meist tagsüber auftritt) versus unbändiger Ausgehlust (meist am späteren Abend zu beobachten) schlüssig heraus und macht ausserdem Vorschläge, wie man in Zeiten der fortschreitenden Prekarisierung immer weiterer Bevölkerungskreise dennoch am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann (zum Beispiel durch das akribische Studium von Fernsehserien wie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“). Sie erklärt die Krankenhauscafeteria zum „Club des Alters“ und macht schonungslos klar, dass, wer am Abend 23 Weissweinschorlen trinkt, nicht mehr wirklich zur Straight-Edge-Bewegung gezählt werden kann. Rösinger illustrierte ihren Vortrag mit Fotos aus dem privaten Nähkästchen, zur Geschichte „Die Frau mit der Tasche“ gab es sogar ein eigens gedrehtes Video zu sehen. Zum Schluss sang sie allein zur Gitarre ein paar Lassie Singers- und Britta-Songs, bis sie ein vertrautes Gesicht im Publikum erblickte: „Gerade ist ein begabter Jungmusiker aus Berlin eingetroffen – Jens, du kannst doch meine Lieder viel besser spielen als ich!“ Und schon stand Jens Friebe auf der winzigen Erika-Bühne und gab mit Christiane ein exklusives Mini-Konzert. In den nächsten Wochen ist Christiane Rösinger mit dem „schönen Leben“ auf Lesetour, unterstützt wird sie dann – nein, nicht von Jens Friebe - von Andreas Spechtl, Sänger und Gitarrist der Wiener Band Ja, Panik.
Christiane Rösinger: Das schöne Leben
S.Fischer, 208 Seiten, € 8,95
» www.fischer-verlage.de
» www.flittchen.de
Kurz und knapp – weitere Musikbücher:
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Lee Hollis: Strategy for Victory
Ventil, 112 Seiten, € 9,90
Lee Hollis, seines Zeichens Sänger der legendären Punkbands Spermbirds und Steakknife, legt nach „Monsters“, einem Band mit Short Stories und dem Hörbuch „Selling the Ghetto“ ein neues Buch vor: „Strategy for Victory“ ist ein 100-seitiges Trommelfeuer, das eindeutig besser für Live-Spoken-Word-Performances geeignet ist als zur gemütlichen Lektüre auf dem Sofa. Hollis wettert über den Staat (USA und Deutschland), die deutsche Sprache, seinen Vater und andere Dummbeutel aller Art. Besonders lustig sind die Beschreibungen verschiedenster Drogenerfahrungen („... and suddenly I discovered the beauty of my HAND“), ausserdem geht es um Sex, Autofahren, Biertrinken auf der Straße und Drogen, Sex, Autos ... Eins-A-Jungsbuch eines immerhin auch schon 45-jährigen Jungs.
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Lydia Daher: Kein Tamtam für diesen Tag
Voland & Quist, 94 Seiten + CD, €12,80
Lydia Dahers beeindruckendes Debütalbum Auf der Suche nach einem Ton, der außen klingt wie innenhaben wir vor einiger Zeit ausführlich vorgestellt. Dahers eigentliche Profession ist – neben ihrem frisch entdeckten Talent als Musikerin – die Poesie, am besten live und in-your-face als Spoken-Word-Performance dargeboten. Daher ist eine Suchende, eine Fordernde, zornig, gefühlvoll, mit scharfem Blick und ebensolcher Zunge. Der Alltag dient als Materialsteinbruch, selbst der Gang zur Dönerbude wird zu Lyrik verarbeitet. Sie ist witzig, aber nie albern, intensiv, jedoch niemals kitschig. Das Ende einer Beziehung geht bei Lydia Daher so: mit einem schwungvollen / fuck you / signiere ich deine brust / und gehe / damit du mit mir mithältst („was bleibt“). Ihre Gedichte sind teils klassisch strukturiert oder als konkrete Poesie inszeniert – jedes Einzelne ist eine Entdeckung. Wie allen Voland & Quist-Büchern liegt auch diesem eine CD bei, auf der Lydia Daher ausgewählte Texte selbst liest, ohne Tamtam, dafür manchmal mit Musik.
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Susan Black: You Bitch! You Bastard!
Illustrationen von Jana Komarkova
Schwarzkopf & Schwarzkopf, 210 Seiten, € 14,90;
Abteilung „Bücher, die die Welt – eigentlich – nicht braucht“. „Eigentlich“ deshalb, weil es die Menschheit natürlich nicht wirklich weiterbringt, wenn man weiß, daß Paul Weller gesagt hat, er „würde eher (m)seine eigene Scheiße fressen, als ein Duett mit James Blunt zu singen“ oder daß Lemmy Bandproben mit Motörhead haßt. Andererseits kann man auf jeder Party punkten, wenn man peinliche Redepausen mit Zitaten aus diesem Buch überbrückt, die zum grossen Teil die Ahnung nähren, dass es vielleicht doch ganz gut ist, nicht berühmt zu sein. Nehmen wir an, auf besagter Rumsteh-Party ist Alkohol im Spiel, der dazu führt, dass man Dinge sagt wie: „Es gibt viele todkranke Kinder auf der Welt, deren letzter Wunsch es ist, mich zu treffen.“ Ist man ein unbekannter No-Name, dem ausser umstehenden Freunden ohnehin niemand zuhört, verschwindet ein solcher Satz bald im Nirvana des Vergessens. Heisst man aber David Hasselhoff, wird diese Peinlichkeit notiert, landet in einem Buch wie „You Bitch! You Bastard!“ und erfreut LeserInnen wie dich und mich. Ferner kann man die Zickenkriege zwischen Posh Spice und Britney Spears, Madonna und Courtney Love und anderen nachlesen oder es einfach mit den Worten des weisen Mark E. Smith gut sein lassen: „Meiner Meinung nach haben alle anderen eine Schraube locker.“
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Lucy O'Brien: Madonna. Like an Icon
Goldmann, 510 Seiten, € 14,-
Wer noch nicht mitbekommen hat, dass Madonna Louise Ciccone-Ritchie in diesem Jahr ihren 50. Geburtstag feiert, lebt entweder auf dem Mars oder in der Oberpfalz. Anlässlich dieses Ereignisses werden 2008 gewiss verschiedene Bücher über Madonna erscheinen, der 500 Seiten dicke Goldmann-Wälzer (unschlagbares Preis-Leistungsverhältnis) macht den Anfang. Die Autorin Lucy O'Brien erschrieb sich bereits durch zwei Standardwerke über Frauen im Pop („She Bop“ I & II) einen Namen. Als Madonna-Biografin kann sie die Bewunderung für ihr Objekt nicht verhehlen (in ihrer Einleitung schreibt sie von den Parallelen zwischen ihrem und Madonnas Leben), verfällt aber an keiner Stelle in unreflektierte Lobhudeleien. Sie erzählt aus Madonnas schwieriger Jugend, zeichnet ihren Weg als (über)ambitionierte Tänzerin in New York nach, bis hin zu ihrer heutigen Persona als mehrfache Mutter und treue Gattin. Jede Zeile verrät Madonnas unbändigen Willen, ganz nach oben zu kommen – und wer würde behaupten, Madonna habe nicht alles erreicht, was sie sich einst vorgenommen hatte. O'Brien verschweigt weder Madonnas dunkle Momente noch ihre – unbestrittenen – Erfolge. „Like an Icon“ wird dem Phänomen Madonna mehr als gerecht und liest sich trotz des enormen Umfangs weg wie nix.
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Testcard # 17: Sex
Ventil, € 14,50
Die siebzehnte testcard-Ausgabe widmet sich dem ergiebigen Thema Sex, selbstverständlich nicht auf schmierig-pornoeske Weise, sondern im testcard-typischen, kritischen und antimachistischen Stil. So reflektiert Kimiko Leibniz unter der fragenden Überschrift „Anything Goes?“ über die Verschiebung (sexueller) Tabugrenzen im Film und anderen Medien; Klaus Walter interviewt die Literaturwissenschaftlerin Brigitte Weingart zum Thema „Sprechen über Aids“, Ventil-Autorin Michaela Wünsch („Female HipHop“) schreibt über die Lebenswirklichkeit von Sexarbeiterinnen, Cordula Thym berichtet von einer Sexparty während eines Ladyfests und Mike Schulz referiert Dr. Sommers Sexberatung in der BRAVO. Links zur (Pop)Musik ergibt sich durch verschiedene Interviews, zum Beispiel mit den queeren Bands Kids on TV und Lesbians on Ecstasy und der/des ehemaligen Sängers/Sängerin von Tribe8, Lynn Breedlove. Chris Wilpert sucht nach Sex im deutschsprachigen Indie-Pop und Punk; Jens Thomas forscht nach Homophobie im deutschen HipHop. testcard sucht die anti-patriarchalische, neufeministische Diskussion über Sex und bietet eine Fülle neuer Ansätze, die rein gar nichts mit der Darstellung von Sex und Körpern zu tun haben, wie man sie von Playboy und Praline vorgesetzt bekommt.