Rummel, Rummel - Mors, Mors
„Hundert pro Deutsch“ heisst eine Sendung, die alle paar Monate vom Hessischen Rundfunk ausgestrahlt wird – für die geplagten Hörer bedeutet das 21 (!) Stunden non-stop BAP, Purple Schulz, Geier Sturzflug, Herbert Grönemeyer, Nena, plus ein paar übliche Verdächtige jüngeren Geburtsdatums wie Clueso, Rosenstolz und Laith Al-Deen. Den gleichen subtil-geschmackvollen Titel wie die Sendung tragen mittlerweile zwei CDs, die vom Hessischen Rundfunk zusammengestellt wurden und deren Tracklistings das gesendete Elend für die Ewigkeit dokumentieren.
Wir stellen hier einige neue deutschsprachige Alben vor, die garantiert nie in einer Sendung wie „Hundert pro Deutsch“ gespielt werden – ob das überhaupt wünschenswert ist, mag jeder selbst entscheiden.
Rummelsnuff: Halt Durch!
(What's so funny About/ZickZack)
Allen voran Rummelsnuff alias Roger Baptist, der mit Abstand spektakulärste, widersprüchlichste, fragwürdigste und anrührendste Act dieses Frühjahrs, vielleicht sogar des Jahres – ein gefundenes Fressen für die Presse allemal. Linus Volkmann schreibt im Intro sehr treffend, dass man „ein ziemlicher Spieler“ sein müsse, wenn man es sich leisten könne, Rummelsnuff zu ignorieren oder gar zu verpassen. Schon die Biographie des 42-jährigen Baptist/Rummelsnuff wirkt wie von einer sehr phantasievollen Seele ausgedacht: Roger Baptist wird 1966 in Grossenhain bei Dresden geboren, die Eltern Renate und Peter sind angesehene Musiker in der DDR, sein Vater leitet die Peter-Baptist-Combo. Der junge Roger lernt Fagott und spielt im Gemeinschaftsorchester Riesa-Grossenhain. In den späten achtziger Jahren gründet er seine erste Band Kein Mitleid, 1989 wird er Keyboarder der Freunde der italienischen Oper, einer legendären Dresdner Undergroundformation, die zwei Platten auf ZickZack veröffentlichten. Nachdem sich die Freunde aufgelöst hatten, gründet er das Industrial-Elektronikduo Automatic Noir. Doch die Lebensdauer von Automatic Noir ist kurz, Baptist wendet sich vorerst vom Musikmachen ab, heuert als Matrose auf einem Handelsschiff an und bereist fünf Jahre lang die Weltmeere von Sansibar bis Hammerfest. Wieder an Land, widmet sich Roger dem Bodybuilding und macht sich mit einem eigenen Studio selbstständig. Anlässlich des 40. Geburtstags seines Freunde der italienischen Oper-Kollegen Ray von Zeschau und dem mit den Feierlichkeiten einhergehenden Reunion-Konzerts schnuppert Baptist im Jahr 2004 wieder Bühnenluft und reanimiert daraufhin seine eingestaubten Korg-Synthesizer, Sampler und sonstigen Geräte. Kurz darauf bittet der norwegische Maler Bjarne Melgaard Baptist um musikalische Untermalung seiner Ausstellung – Rummelsnuff wird geboren.
Rummelsnuff live:
- Dresden, Scheune (Record Release Party): 29.3.08
- Berlin, Berghain Kantine (Record Release): 4.4.08
- Hamburg, Uebel und gefaehrlich: 25.4.08
- Jena, Rosenkeller: 15.5.08
- Cottbus, Glad House: 16.5.08
- Sandersleben: 14.6.08
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Der Name Rummelsnuff setzt sich zusammen aus dem Berliner Stadtteil Rummelsburg, in dem Baptist bis heute wohnt und Melgaards Begeisterung für Snuff-Movies (wobei Rummelsnuff mit phonetisch „deutschem“ u ausgesprochen wird, also nicht Rammelsnaff). Erste Auftritte und der Track „Halt Durch!“ auf dem ZickZack-/What's so Funny About-Sampler (2007) festigen Rummelsnuffs Ruhm – ein Album musste her! „Halt Durch!“ erscheint selbstverständlich auf Hilsbergs legendärem Label und ist eine Herausforderung für alle vermeintlich geschmackssicheren Connaisseure des Pop. Rummelsnuff erschüttert und verwirrt, schon allein durch seine physische Präsenz, die mit „monströs“ nur unzureichend beschrieben ist. Baptist/Rummelsnuff ist ein comichafter Michelinmann mit steroidgefütterten Muskeln und melancholischem Babygesicht und vereint Hulk, Popeye und Shrek in einem einzigen Körper (der CD liegt ein Pin-up-Poster bei). Er tritt am liebsten halbnackt auf, trägt Kapitänsmütze oder eine Latexhaube, die ihn wie eine überdimensionierte Mickey Mouse aussehen lässt. Rummelsnuff überlässt die Entscheidung, ob er eine Kunstfigur sei oder nicht, salomonisch dem Betrachter – und wer Böses dabei denkt, ist selber schuld. Die 13 Songs (+ Bonustrack) auf „Halt Durch!“ trampeln auf allen nur denkbaren heiklen Stellen herum und sind thematisch derart unzeitgemäss, dass es eine wahre Freude ist. Bei Rummelsnuff werden Altherrenwerte wie Prügeleien („Fett in die Fresse“), Seefahrt („Hammerfest“, La Rochelle“), Suff („Sliwowitz“) und Bergbau („Kumpel, Glück auf!“) ganz unironisch hochgehalten, die Single „Der Hund“ ist eine Lobeshymne auf des Menschen besten Freund im Surfsound-Gewand. Rummelsnuffs „derbe Strommusik“ speist sich aus Einflüssen wie Laibach, Hans Albers, Trio, Freddy Quinn, DAF und Devo (siehe/höre auch die Coverversion von Devos „Mongoloid“), dazu lässt der „Rummelkäpt'n“ mit verschwitzter, kampferprobter, aber auch irgendwie zarter Stimme Texte los wie
„Das kann doch nicht das Ende sein / Bleib am Segel, du Kampfnatur! / Soll'n Herbstorkane mächtig droh'n / ein Fels wie du, der widersteht!“ („Halt durch!“)
oder
„Du ein Mann, ich ein Mann / beiden juckt das Fell / Zum Ringen auf die Matte jetzt / Zum Kampfe, aber schnell“ („Ringen“)
Hm. Wer gerne vorschnell urteilt, wird sich rasch und angewidert wegdrehen. Aber: was oberflächlich betrachtet ein unschönes Bild abgibt, entpuppt sich auf den zweiten Blick/Höreindruck als Puzzle aus lauter Einzelteilen, die nicht zusammenpassen. So wird durch den Einsatz von trashigen Cheapo-Synthies jegliche herrenmenschige Rammstein-Donnerhall-Anmutung zunichte gemacht; der vermeintlich faschistoide Kraftkerl-Körperkult zerbröselt unter des Käpt'ns lächerlicher Latex-Öhrchenmütze; die Jungs-Fightclub-Atmosphäre wird durch Gitarristin Stephanie Mai und Auftritte in Berlins Skandalclub Berghain und Schwulenbars Lügen gestraft. Den Vorwurf der Deutschtümelei kann man erst recht stecken lassen, Rummelsnuffs Live- und Album-Duettpartner heisst Roman Shamov und ist Libanese. Ausserdem ist Rummelsnuff qua Label Kollege von Jens Friebe, Klotz+Dabeler, Katze und Knarf Rellöm. So, noch Fragen? Ah, jede Menge also... da hilft nur, den Rummelkäpt'n in Form seines Albums nach Hause einzuladen und beim Hören eine Flasche Sliwowitz zu trinken.
» www.rummelsnuff.com
» www.whatssofunnyabout.de
» myspace.com/rummelsnuff
In puncto Spektakularität wird den Rummelkäpt'n in diesem Frühjahr kaum jemand ein- oder überholen, die im folgenden kurz vorgestellten Platten verdienen dennoch das wohlwollende Interesse einer möglichst grossen Öffentlichkeit:
Die Radierer:
Der andalusische Bär
(WSFA/ZickZack)
Völlig unpeinliches Comebackalbum einer NDW-Band allererster Stunde, deren Debütalbum „Eisbären & Zitronen“ 1981 bei ZickZack erschien. Auch im Jahr 2008 segeln Die Radierer aus Limburg wieder unter Hilsberg'scher Flagge und haben auf ihre Platte „Der andalusische Bär“ 15 zickig-wavige und experimentelle Tracks gepackt, die schöne Titel wie „Pommesbudenmädchen“, „Der schnellste Leichenwagen“ oder „Zerbrecht alle Platten“ tragen. Klingt keine Sekunde nach „guter alter Zeit“ sondern überraschend wild und frisch nach hier, jetzt und heute. Die Original-Radierer Christian Bodenstein und Jürgen Beuth werden von den Neumitgliedern Mitchiko Tsubaki, Lilith Winter und Manfred Masal unterstützt; Gäste im Studio (unter anderen): Matthias Hill von der Rockformation Diskokugel am Bass und Cellist Christopher Herrmann.
Die Radierer live: 28.3.08 Wiesbaden, Kulturhaus Kreml;
29.3.08 Frankfurt, Das Bett (Record-Release-Party!);
3.4.08 Erlangen, Transfer;
4.4.08 Frankfurt/Höchst, Hausboot Venus;
16.4.08 Bremen, No-Ok
» www.die-radierer.de
» www.whatssofunnyabout.de>
» myspace.com/radierer
Bernd Begemann
& Die Befreiung:
Glanz
(Begafon)
Unser Lieblingsbernd hat 20 seiner Evergreens frisch aufgebügelt, mit Schleifchen und Pailletten verziert, und ihnen so eine Anmutung verliehen, die im rauhen Ambiente des Livekonzerts nicht richtig zur Geltung käme. Zehn Songs wurden zusammen mit seiner Band Die Befreiung (Achim Erz, Ben Schadow, Kai Dorenkamp) neu aufgenommen, zehn weitere werden als „historische Aufnahmen aus über 20 Jahren Bernd Begemann“ gelistet. Weil Lieder wie „Fernsehen mit deiner Schwester“, „Bleib zuhause im Sommer“, „Oh, St. Pauli“, „Unten am Hafen“, „Judith, mach deinen Abschluss“ und „Wir werden tanzen“ drauf sind, geht „Glanz“ auch als Quasi-Greatest-Hits-Album für diejenigen durch, die bis jetzt keine Platte von BB gekauft haben, weil er ja sowieso bald wieder in der Stadt ist.
Bernd Begemann & Die Befreiung live:
07. März, Hamburg;
14. März, Köln;
15. März, Hannover;
16. März, Weinböhla;
17. März, Frankfurt
» www.bernd-begemann.de
Sternbuschweg:
Mein Herz schlägt
weiter jeden Tag
(Tumbleweed)
Sternbuschweg aus Berlin sind keine wirklichen Neulinge: bereits seit 2002 arbeiten Wolfgang Müller-Molenar, Sebastian Schiller, Dennis Kather und Benjamin Erbig zusammen und spielten sich durch konstantes Touren in die Herzen vieler Menschen. Jetzt erscheint bei Tumbleweed endlich ihr erstes Album „Mein Herz schlägt weiter jeden Tag“, das elf sehr feine, leidenschaftliche Gitarrenpopsongs versammelt. Beeinflusst von Brit-Bands wie den Smiths und Stone Roses lassen Sternbuschweg wohltemperierte Gitarrenwände erklingen, dazu singt Müller-Molenar kluge, oft wehmütige Lyrics über die Liebe, die entweder vorbei ist oder noch nicht richtig angefangen hat.
Sternbuschweg sind ab Anfang März auf großer Deutschlandtour, Termine auf der Bandseite:
» www.sternbuschweg.de
» myspace.com/sternbuschweg
The Aim of Design
is to Define Space:
Aimthusiasm
(Haute Area)
Schulzly, Mart, Jeanz, Kuc und Greg, die fünf Noise-Experimental-Rocker aus Gosen und Erkner (Brandenburg) legen mit ihrem neuen Album „Aimthusiasm“ wieder einen schwer verdaulichen, intellektuell anspruchsvollen Brocken vor – Songs wie „Mein See hat viele Ufer“, „Im Osten nichts neues“ oder „Marlon Brando Impersonator“ sind nichts für den schnellen Kick zwischendurch, sondern erfordern Konzentration von Band und Hörern. Das Backcover ziert ein Zitat von Coco Chanel („There is a time for work and time for love. That leaves no other time“).
» www.aimofdesign.de
» myspace.com/aimofdesign
» www.hauteareal.de