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März 2008
Ronald Klein
für satt.org

Short Cuts-Logo
März 2008, Folge 1½


Paranoia: 1984
(Major Label / Rundling)

Paranoia, 1984

Zum Thema “Punk in der DDR” erschien in den letzten Jahren eine wahre Veröffentlichungsflut in Form von Zeitschriftenartikeln und Büchern. Nach und nach erleben auch die Kassetten-Aufnahmen aus den Achtzigern als CDs einen zweiten Frühling. Paranoia aus Dresden trieben zwischen 1983 und 1985 ihr Unwesen. Die vier Musiker besaßen keine Spielgenehmigung („Einstufung“) und traten daher nur auf illegalen Veranstaltungen oder bei Privatpartys auf. Ende 1984 nahm die Formation in einem kleinen Studio die vorliegenden Songs „in einem Ritt, an einem Tag, ohne Overdubs“ auf. Die 18 Tracks klingen trotzdem unheimlich frisch: Musikalisch rotzig, aber nicht verschrammelt. Auch textlich grenzten sich die Sachsen von Punk-Plattitüden ab: setzen Mode-Punks mit Kleinbürgern gleich („Echt zum Kotzen“), wenden sich gegen destruktive Punk-Gemütlichkeit mit sich immer wiederholenden Ritualen („Good bye Annaki“) oder beschreiben den gesellschaftlichen Stillstand, der die Menschen apathisch werden ließ: „[...] Keine Lust zu gehen, keine Lust zu bleiben / Keine Lust zu schlafen in dieser Nacht / Keine Lust zu lachen, keine Lust zu lieben / Denn das, was ihr Liebe nennt / Hat mich kaputt gemacht“ („Nachts in den Straßen“). Letzterer Song und der Titel „Karriere“ hielten Einzug in das Repertoire der 1986 gegründeten Band Kaltfront, einer weiteren Ausnahmeformation der kleinen, aber feinen Szene Dresdens.


Joris J:
Ochrana Birth
(Tosom)

Der Berliner Noise-Shooting-Star Joris J veröffentlichte Ende 2007 eine Split-CD mit N.Stahle.N. Nur kurze Zeit später legt der Mitzwanziger mit „Ochrana Birth“ eine ebenso hochwertige Scheibe nach. Als wäre er mit dem Komponieren nicht ausgelastet genug, zeichnet Joris J auch für die Covergestaltung verantwortlich. Dem besonderen Format einer Mini-DVD beigelegt sind Bilder auf Fotopapier mit verrätselten Botschaften wie „kordial korrupt luzid“ oder „Versorgungsbehörden meldet Kriegsgewinnler“. Auch die drei Songs mit einer Gesamtspiellänge von 20 Minuten nehmen den Hörer auf eine faszinierende Reise in mehrdimensionale Klangwelten mit. Vollkommen rhythmusfrei zaubert Joris J Klänge, die zwischen bizarrer Fremdartigkeit und dem gekonnten Umschmeicheln des Trommelfells liegen.


» myspace.com/harshjorisj



Birch Book:
Fortune & Folly
(Helmet Room)

Die US-Formation “In Gowan Ring” begeistert seit mehr als einer Dekade ihre Anhänger mit fragilem und psychedelischen Folk, der quasi eine Reminiszenz an Formationen wie The Incredible String Band darstellt, ohne diese zu kopieren. „Birch Book“ ist das Soloprojekt des Frontmanns B’eirth, einem modernen Troubadour, einem Reisenden, dessen einzige Mission darin besteht, Kompositionen von Ort zu Ort zu tragen. Die mittlerweile zweite Veröffentlichung klingt nach modernem Folk mit ausgereiften Melodiebögen, die eine Wanderung begleiten, die eine knappe dreiviertel Stunde dauert. Songs wie „The Wandering Boy“ oder „The Trip Goes On“ unterstreichen das Motiv der Reise ohne Ziel, der Heimatlosigkeit auch textlich. Birch Book beschreibt die Perspektive des Außenseiters besonders deutlich in „Young Souls“: „There Will Be Some Folks That Never Will Agree / With The Majority / About What Is Real And What Is Fantasy“. Mit “Fortune & Folly” verblasst die vermeintliche Realität zu einem merkwürdig anmutenden Konstrukt. Was kann schon das Bruttoinlandsprodukt gegen Poesie verrichten?

» myspace.com/birchbook
» www.birchbook.com