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April 2008, zweite Hälfte:
2008 wird das Jahr der großen und überraschenden Comebacks: mit einem neuen Album von Portishead konnte man nicht mehr wirklich rechnen. Nun ist "Third" erschienen und es ist nichts weniger als überwältigend. Außerdem: neue Platten von Poney Express, Gonzales, The Ipanemas, Kristoffer Ragnstam und Quiet Village.
Portishead: Third
(Go! Discs/Island/Universal)
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Ein Buchstabe. Eine Zahl. Ein “P” und eine “3”, auf petrolfarbenem Grund ineinanderprojiziert, mehr ist nicht zu sehen auf dem Cover von “Third”, der lange angekündigten und kaum noch für möglich gehaltenen neuen Platte von Portishead. Zehn Jahre sind seit Erscheinen des Live-Albums “Roseland NYC” vergangen, die Veröffentlichung des zweiten und bisher letzten regulären Studioalbums “Portishead” liegt noch länger zurück. Immer wieder gab es vereinzelte Lebenszeichen der Bandmitglieder Beth Gibbons, Geoff Barrow und Adrian Utley, unter anderem Gibbons' vielbeachtetetes Album mit Rustin' Man, “Out of Season”, aber dass man nun tatsächlich ein neues Werk der wegweisenden Bristoler TripHop-Band neben Massive Attack in Händen hält, ist nichts weniger als eine Sensation. Portishead hätten es sich leicht machen können, hätten einfach dort anknüpfen können, womit sie 1997/98 aufgehört haben. Doch “leicht” und “einfach” sind keine Begriffe, die zu Portishead passen – weder, um ihren depressiven, schleppend-düsteren Sound, noch um die Arbeitsweise der Band beschreiben. Portishead machen es sich nicht leicht, mit dem ihnen aufgedrückten Label “TripHop” hatten sie stets Probleme und nannten ihre Musik selbst niemals so.
“Third” ist unverkennbar Portishead und doch Lichtjahre von TripHop und anderen Genrebezeichnungen entfernt: das Album beginnt wie ein Hörspiel mit portugiesischen Gesprächsfetzen, tribale, hypnotische Drums setzen ein, nach mehr als zwei Minuten erklingt Beth Gibbons vertraute, klagende Stimme – man betritt Portishead-Country. Wie in einem David-Lynch*-Film entfaltet sich eine fremde, seltsame Welt, zu der nicht alle Zugang finden. “Hunter”, der zweite Track, erinnert an eine Szene aus Lynchs TV-Serie “Twin Peaks”, als Julee Cruise engelsgleich in einer Bar steht und singt, während um sie herum eine wüste Prügelei im Gange ist.
* Lynch-Assoziationen ergeben sich offenbar schnell: auch die Spiegel-Rezension verweist auf Twin Peaks...
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Portishead experimentieren auf “Third” mit Blues-, Noise- und Free Jazz, Progrock und Psychedelic, Störgeräusche dekonstruieren vermeintliche Harmonie. Die Tracks fasern mal sanft aus oder enden mit einem unerwartet harten Schnitt; bei “We Carry On” stemmt sich ein Technobeat gegen Joy Division-ähnliche Gitarren, dunkel, voluminös und rau. “The Rip” wird mit zartem Folk-Gitarrengeplinker eingeleitet, bis sich ein dynamischer, regelrecht tanzbarer Beat Bahn bricht. Beth Gibbons singt dazu von weißen Pferden, die sie davontragen. Zerhackte Hubschraubergeräusche in “Plastic” verweisen auf “Apocalypse Now”, die kalten, harten Maschinenbeats, zerschredderten Samples und Gibbons' sirenenhafter, schutzloser Gesang auf der Single “Machine Gun” verbreiten eine mehr als verstörende Atmosphäre. Über die nervösen, technoiden Beats von “Nylon Smile” singt Gibbons, “I don't know what I did to deserve you / don't know what I do without you” - die Dialektik der Ausweglosigkeit gilt noch immer, auch viele Jahre nach Portisheads Debüt. “Threads”, das letzte Stück auf “Third”, endet mit brausenden, vibrierenden Cellostrichen. Die Welt ist nicht mehr die gleiche. Falls man zurückfindet.
» www.portishead.co.uk
» myspace.com/PORTISHEADALBUM3
Poney Express:
Daisy Street
(Atmospheric)
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Kontrastprogramm: das französische Duo Poney Express (Robin Feix of Louise-Attaque-fame und Anne Berthé) versprüht auf seinem Debütalbum “Daisy Express” so viel Charme und Leichtigkeit, dass man den in diesem Jahr schwer verspätet einsetzenden Frühling gar nicht mehr vermisst. Robin und Anne sind ein Paar – auf der Bühne und im echten Leben – und geht man von der Albumstimmung aus, herrscht bei Poney Express die pure Harmonie. Wie nebenbei wird das gute alte französische Chanson einer Frischzellenkur unterzogen (“La Loire”), Songs wie “Paris de Loin” oder “Le Petits Matins” kann man sofort mitpfeifen (pfeifen bietet sich besonders dann an, wenn man kein französisch spricht). “Le Complexe du Papillon” und “Nobody” sind getragenere, aber keineswegs schwerblütige Balladen, bei “Les Nerfs á Vif” zieht Westernatmosphäre ein, der Rhythmus galoppiert fröhlich nach vorn, im Hintergrund erklingen forsche “Hu-Ha!”-Rufe und man beginnt zu verstehen, aus wie vielen verschiedenen Einzelteilen sich der Poney-Kosmos zusammensetzt: von Sylvie Vartan über die Violent Femmes, Lee Hazlewood & Nancy Sinatra, Jonathan Richman bis Belle & Sebastian reichen die Einflüsse, die Anne und Robin elegant und intelligent zu einer hinreißenden Mixtur vermengen. Alle Songs wurden live und in einem Take aufgenommen; Folk, Pop und Chanson greifen bruchlos ineinander, die Instrumentierung ist stimmig und leicht. Geigen, Akkordeon, Glockenspiel und Banjo setzen zarte Akzente zu Gitarre und Gesang, Percussion wird nur sehr sparsam eingesetzt und die Gesamtanmutung ist angenehm zeitlos. Der Albumtitel erklärt sich übrigens so: Poney Express reisten für die Aufnahmen nach Cardiff (auf den Spuren der Young Marble Giants sozusagen), das Studio befand sich in der Daisy Street – voilá!
» myspace.com/poneyexpress
Kristoffer Ragnstam:
Sweet Bills
(Weekender Records)
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Wer sich für gutaussehende schwedische Singer/Songwriter vom Schlage eines Jens Lekman interessiert, wird mit Kristoffer Ragnstams Debütalbum “Sweet Bills” viel Freude haben. Ragnstam kommt aus Göteborg, spielt seit seinem 15. Lebensjahr Schlagzeug und Gitarre und begann schon als Teenager, eigene Songs zu schreiben. Später arbeitete er unter anderem als Toningenieur, komponierte Filmmusik und stand als Tourmusiker mit vielen berühmten Leuten auf der Bühne, zuletzt in den USA mit Debbie Harry. Doch Kristoffer mochte sich auf Dauer nicht damit begnügen, der begabte Jüngling im Hintergrund zu sein und produzierte die ersten Stücke für ein eigenes Album. Die mehr als freundlichen Reaktionen auf seine warm-up-Konzerte in Deutschland und Europa zeigten ihm, dass er bisher alles richtig gemacht hat: Ragnstam erweitert den üblichen Songwriter-Rahmen stark, er liebt Funk und Soul, Wave, Garagenrock und Elektropop, verwendet Bläser, Geigen, Rockgitarren und hat ein sicheres Händchen für catchy Melodien und witzige Texte. “# 1 Money Hunter” mit seinem wilden Piano könnte aus den Siebzigern stammen, der Titelsong ist eine minimalistisch instrumentierte Ballade mit unter-die-Haut-gehenden Vocals und dank fröhlicher Popperlen wie “Breakfast by the Mattress” und “Man Overboard” landet Ragnstam hoffentlich bald in der Heavy Rotation aller Radiosender. Das einzige, was man ihm vorwerfen könnte, ist, dass er die besten Songs an den Anfang des Albums gepackt hat und “Sweet Bills” gegen Ende ein wenig an Griffigkeit verliert. Aber selbst Kristoffer Ragnstam kann ja noch was lernen...
Kristoffer Ragnstam live:
Hamburg, Prinzenbar – 30.4.08
» myspace.com/ragnstam
» www.ragnstam.se
The Ipanemas:
Call of the Gods
(Far Out / Rough Trade)
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Wie schön: Musiker, die niemandem mehr etwas beweisen müssen, sondern nur sich und der Welt zur Freude aufspielen! The Ipanemas bestehen im Kern aus Wilson Das Neves (Percussion) und Neco (Akustikgitarre) und sind so etwas wie der Buena Vista Social Club des brasilianischen Bossa Nova. Das Neves und Neco sind alt, richtig alt: ihre erste gemeinsame, mittlerweile kultisch verehrte Platte “Os Ipanemas” veröffentlichten sie 1962 und ließen sich für das Nachfolgealbum “The Return of the Ipanemas”ganze vierzig Jahre Zeit. In diesen vierzig Jahren waren die beiden keineswegs untätig, arbeiteten mit berühmten Musikern wie Tom Jobim oder Elza Soares zusammen und sind auf vielen Bossa- und Samba-Aufnahmen zu hören. Wilson Das Neves gilt zum Beispiel als einer der inspiriertesten Schlagzeuger Brasiliens und konnte sich deshalb über fehlende Kooperationsangebote nie beklagen. Für das fünfte Ipanemas-Album “Call of the Gods” spielten Das Neves und Neco die Gastgeber und luden eine Handvoll Musiker ins Studio Verde nach Rio de Janeiro ein, um sich an Flügelhorn, Piano, Saxofon und traditionellen brasilianischen Instrumenten wie Atabaques-Trommeln unterstützen zu lassen. Die Produzenten Joe Davis und Ivan Conti (Azymuth) sorgten für entspannte Studioatmosphäre. Herausgekommen sind zehn lässige, wunderbar unmodische Bossa-Tracks voller Sonne und Wärme, mit locker eingearbeiteten Elementen aus Samba und afro-brasilianischer Musik, auch Jazz- und Reggaeeinflüsse sind herauszuhören. Ganz besondere Momente entstehen dann, wenn Wilson Das Neves zum Mikrophon greift und auf portugiesisch singt – man wünscht sich sehr, dass die Musikgötter die Ipanemas noch lange nicht zu sich rufen!
The Ipanemas sind Ende April auf großer Tournee – leider nur in England und Holland.
» myspace.com/theipanemas
Gonzales: Soft Power
(Mercury/Universal)
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Jason Beck alias Chilly G. alias Gonzales, der Mann mit den vielen Gesichtern, der Piano-Wizard und Lounge Lizard, kann alles und darf alles: so verwundert es kaum, dass Gonzales nach dem klassisch inspirierten Album „Solo Piano“ von 2004 mit „Soft Power“ eine Zeit- und Stilreise in die späten siebziger Jahre unternimmt. Genauer gesagt direkt nach 1978: im Booklet sind alle Grammy-Awardträger dieses Jahres aufgelistet, zum Beispiel die Bee Gees, deren „Saturday Night Fever“ als bestes Album ausgezeichnet wurde, oder Barry Manilows epochaler Evergreen „Copacabana“, der ebenfalls mit einem Grammy gekrönt wurde. Gonzales ist inzwischen ein gestandener Enddreißiger, der sich noch gut an die Lieder erinnern dürfte, die in seinen Kindertagen aus dem Radio schallten. Ob er ein Album wie „Soft Power“ schon im Kopf hatte, als er vor einigen Jahren gemeinsam mit Peaches von Kanada nach Berlin zog, kann man nur mutmaßen. Die zehn Songs auf „Soft Power“ sind jedenfalls so perfekt, so stilecht arrangiert, dass man das Gefühl bekommt, Gonzales habe unveröffentlichte Aufnahmen von Al Stewart, Elton John, Queen, Billy Joel, Gerry Rafferty oder eben Barry Manilow ausgegraben. Gonzales hat keine Scheu vor großen Gesten, vor plüschigen Pianoparts und orchestraler Inszenierung – gefühllose Menschen nennen das wahrscheinlich Kitsch. Gonzo fährt alles auf, was den Hörern Dauerwellen und riesige Hemdkragen wachsen lässt: Harfen, Saxofone, Himmel voller Geigen, schmachtende Backgroundchöre (beim funky „Let's Ride“ singt übrigens eine hoffnungsvolle kanadische Nachwuchssängerin namens Leslie Feist mit, beim Opener „Working Together“ ist Jamie Lidells Stimme zu hören – so schließt sich der kanadische Familienkreis).
Ganz nebenbei: unser junger Freund Mika hat ja zur Zeit mit nur minimal modernisierter Seventies-Musik einen veritablen Lauf. Aus Mr. Becks erwachsen-markanter Kehle klingt solch softer „adult orientated“ Pop ungleich augenzwinkernder, ironischer, cheesiger – und wenn er in der Ballade „Apology“ croont, „I don't want to be the Asshole that I am“ und der letzte Song einfach nur „Singing Something“ heißt, ist eh’ klar, dass Gonzales alles kann und alles darf ...
» www.gonzpiration.com
» myspace.com/gonzpiration
Quiet Village:
Silent Movie
(!K7)
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“Quiet Village” ist der Name einer Komposition von Lex Baxter, die 1959 in der Version des Pianisten Martin Denny bekannt wurde und als “Exotica Jazz” bezeichnet wird – Vogelgezwitscher und Froschquaken sind selbstverständliche Teile dieser Musik, Naturgeräusche werden wie Instrumente eingesetzt. Auf diese damals sehr avantgardistische Musik verweisen die beiden Producer und Remixer Matt Edwards (alias Radio Slave) und Joel Martin mit ihrem Projekt Quiet Village und dem Album “Silent Movie”. Die zwölf Tracks sind nach gängigen Mustern schwer einzuordnen, Filmmusik! ruft es aus der einen Ecke, Trance! und Ambient! aus der anderen. Und doch ist alles ganz anders, wenn man sich mit Martin und Edwards auf den gut einstündigen Trip begibt, der “Silent Movie” heißt. Man hört an Andreas Vollenweider erinnernde Harfen, Meeresrauschen, gepfiffene Melodiefetzen, dann wieder geht es beinah P-Funk-mäßig zur Sache oder eine Soulsängerin gemahnt an beste Motown-Zeiten. Auch sleazy Softporno-Soundtracks á la “Vampyros Lesbos” scheinen sich in der immensen Vinylsammlung Joel Martins zu befinden, ebenso wie Balearic Beats und die Beach Boys. Dann schmust sich ein softig groovender Loungetrack wie “Pilllow Talk” heran, eine schmockrockige Gitarre schraubt die chillige Stimmung in unbekannte Sphären. Bei “Can't Be Beat” wird sehr herzhaft der charakteristische Violinwirbel aus David McWilliams' “The Days of Pearly Spencer” zitiert und das Ganze mit Stolperbeats, spukigen Vocals und Synthieloops unterlegt– ach, das liest sich so verwirrend und zersplittert, dabei ist “Silent Movie” eine so angenehme Überraschung, eine Clubplatte, zu der man nicht tanzen kann.... sehr avantgarde und exotisch, auch fünfzig Jahre nach Martin Dennys “Quiet Village”.