Späte Schreie
Pioniere des Punk: Nach über 30 Jahren feierte in New York die amerikanische Garagenrockband The Sonics ihre Reunion – und zugleich ihre Weltpremiere.
Große Konzerte verlangen nach großen Hallen. Wenn aber Legenden auferstehen, darf der Ort bescheiden sein, Hauptsache er verfügt über Charakter - der Rest ist dann beinahe egal. So gesehen hätte der Ort kaum besser gewählt sein können. Im Warsaw, einem geräumigen Club am Rande des hippen Bezirks Williamsburg im New Yorker Stadtteil Brooklyn, hatten sich kürzlich einige hundert Fans aus mehreren Erdteilen versammelt. Der historische Anlass war gleichzeitig ein Paradoxon. Mit den Sonics stand die Urzelle des Garagenpunk seit 30 Jahren wieder auf einer Bühne. Und zum ersten Mal war es eine Bühne von überregionaler Bedeutung.
The Sonics: Der Name dieser Band lässt Kenner aller Herren Länder ehrfürchtig erschauern. Für die historische Wiedervereinigung in New York muss man Schlange stehen. Doch wer sich hier mit einem Bier in der Hand im Pulk vor der Bühne drängt, ist sich der historischen Dimension des Augenblicks voll bewusst. Die Lederjacken und Parkas im Publikum haben sichtlich Patina angesetzt, und manche scheinen sie eigens für diesen Abend wieder aus dem Schrank geholt zu haben. Aber auch die jungen Fashion-Punks sind pflichtbewusst zur Geschichtsstunde erschienen. Die Auferstehung selbst kündigt ein dramatisch in die Länge gedehnter Countdown an. Bei Schlag Null fällt der Vorhang und fünf ergraute Herren stehen im Rampenlicht. Frontmann Rob Lind trägt zur Bundfaltenhose ein auberginefarbenes Hemd. Eine denkbar unglamouröse Angestelltenkluft, mit der er auch als Filialleiter eines Büromöbelhandels in New Jersey durchgehen würde. Gerade so als wollte er sagen: Die Sonics brauchen sich nicht als Rockstars zu verkleiden. Sie sind schon welche.
Ur-Schrei des Rock'n'Roll
Ihren legendären Ruf als ultimative Garagenband begründeten die fünf Jungs aus Tacoma vor Jahrzehnten. 1960 hatte der Gitarrist Larry Parypa in einem Kaff nahe Seattle ein paar angehende Musiker mit spärlichen Erfahrungen in diversen Bands um sich versammelt, um die damals so angesagte Surfmusik im Stile der Ventures zu spielen. Nach drei Jahren stieß der Keyboarder Jerry Rosalie dazu. Die eigentliche Geburtsstunde der Sonics schlug erst Jahre nach ihrer formellen Gründung. Es war der Moment, an dem Rosalie das erste Mal den Mund auftat um zu singen. Genau genommen sang er gar nicht. Der Sechzehnjährige schrie seine Texte vielmehr heraus mit einer Stimme, die klang, als würde ein entfesselter Irrer in ein Megaphon hinein brüllen. Einige der besten Sonics-Stücke beginnen mit diesem Urschrei des Rock’n’Roll, einem schrillen, ekstatischen Kreischen oder einem fauchend herausgepressten „Wow!“. Diese Musik war primitiv, wild und roh. Sie entstand zwar nicht – wie es der Name des Genres eigentlich verlangt – in einer Garage, doch immerhin in einem Kellerraum.
Die Vorliebe der weißen Jungs aus dem Staate Washington galt dem schwarzem Rythm&Blues. Doch anders als die Blue-Eyed-Soul-Bands ihrer Zeit hielten sie sich nicht mit Imitaten auf. Sie schickten die Musik durch die Vorhölle eines Verstärkers und zerhackten sie dort zu Schreien und Geräuschen. Aus der Not machten sie eine Tugend: Weil sie nur billige Mikrophone aus Vaters Kassettenrekorder hatten, kultivierten sie den Lärm, integrierten Rückkoppelungen und Übersteuerung einfach in die Musik. Im Studio rissen sie das Dämmmaterial von der Wand und dem knüppelharten Neandertaler-Schlagzeug gönnten sie nur ein einziges Mikrophon – damit es besser scheppert.
Agressive Dilettanten: Das Prinzip Krach
Ihre Songs tauften sie auf möglichst dämonische Namen. Die erste Single, 1964 auf dem kleinen Platten-Label Etiquette erschienen, hieß „The Witch“, der Nachfolger „Psycho“. Der Erfolg war bescheiden: „Psycho“ wurde nach einem Konzert in der Tacoma’s Curtis High School ein regionaler Hit. Etliche Radiostationen weigerten sich Songs zu spielen, die unter anderem den Verzehr von Strychnin vorschlugen („Some folks like water, some folks like wine, but I like the taste of straight strychnine.“) Bei alledem waren die Sonics nicht etwa eine frühe Satanisten-Band, auch wenn das Stück „He’s comin’“ den Unaussprechlichen höchst selbst beschwört. Sie waren eine kraftvolle Spaßband, die den Rock’n’Roll wörtlich nahm, die Songs nach eigener Auskunft oft erst im Aufnahmestudio schrieb und an den Provinzkonzerten vor allem die Mädchen danach schätzte.
Nach zwei Langspielplatten und hinteren Platzierungen in den Hitparaden lokaler Radiostationen in Cleveland, Ohio, misslang der Versuch mit einem neuen Plattenvertrag die wilden Jungs zur massentauglichen Band zu zähmen. Die dritte LP „Introducing The Sonics“ floppte 1967, die Band zerstritt sich über Nichtigkeiten und löste sich auf, bevor sie irgendeine Bekanntheit erlangt hatte. Erst als im Jahr 1977 unter dem Begriff Punk eine nachwachsende Generation aggressiver Dilettanten die Saiten kreischen ließ, erinnerten sich manche daran, dass es all dies schon einmal gegeben hatte. Ihren späten Weltruhm erlangten die Sonics erst auf Release-Platten. Nicht wenige halten sie für die erste echte Punkband, Jimi Hendrix zählte sich ebenso zu ihren Fans wie Kurt Cobain und der Seattle-Sound wäre ohne das Erbe der Sonics vermutlich nicht denkbar.
Diese Bürde der Popgeschichte, der Ruf der lebenden Legende, lastet auch schwer auf dem New Yorker Konzert. Dem Vergleich mit ihren jüngeren Erben hält die ewig junge Musik locker stand. Die Sonics haben ein größeres Problem: Sie müssen sich an sich selber messen. Keine leichte Aufgabe, denn von der Originalbesetzung sind nur noch Gitarrist Larry Parypa, Saxophonist Rob Lind und der geniale Schreihals und Songschreiber Jerry Rosalie dabei, drei Musiker mussten ersetzt werden. Doch als der erste Akkord von „Boss Hoss“ aus dem Verstärker dröhnt, reißt es hunderte Arme in die Luft.
Ur- und Frühgeschichte des Punk: Dröhnsound aus der Vergangenheit
Rosalies Stimme ist noch stets ein Naturereignis. Der Fender-Bass ist noch der alte, auch der Sound klingt beinahe wie vom Vinyl. Richard Berrys mittlerweile durch eine Fernsehwerbung zum Hit aufgestiegener R&B-Mover „Have Love Will Travel“, von den Sonics in der schmutzigen Version von Paul Revere & The Raiders vorgetragen, bringt auch das Publikum in Brooklyn zum Stampfen. „I travel from Main to New York City“, aktualisiert Rosalie singend die Zeilen, wo es eigentlich „to Mexico“ heißen müsste – so viel Spaß muss sein. Am Ende eins atemlosen ersten Sets kommt mit „Night Time“ die erste Mid-Tempo-Nummer einer Erholung gleich. Die Technik ist mit dem Dröhnsound aus der Vergangenheit hörbar überfordert, irgendwann stürzt ein Boxenturm ins Publikum vor der Bühne. Genau so könnte es damals bei den Konzerten im Red Carpet oder im Spanish Castle Ballroom auch zugegangen sein.
Natürlich stehen hier keine Highschool-Kids mehr auf der Bühne, Rosalies frenetische Schreie fehlen. Im Publikum nimmt das niemand übel, der Mann hat bereits eine Herztransplantation und eine schwere Nierenoperation hinter sich. Über dem historischen Moment liegt daher eine gewisse Tragik. Das Problem der Band war niemals ihre Musik - sondern ihr Timing. Damals, in den Sechzigern waren die Sonics ihrer Zeit um mindestens zehn Jahre voraus. Heute, im 21. Jahrhundert, ist es für sie gut dreißig Jahre zu spät.
(Vom Autor erweiterte Fassung eines Artikels
aus der gedruckten taz vom 20. März 2008.)