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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




30. Juni 2008
Christina Mohr
für satt.org

Musikbücherschau
Juni/Juli 2008

Die EM mit all ihren Begleiterscheinungen liegt hinter uns – was auch bedeutet, dass man sich endlich wieder mit einem „guten Buch“ zurückziehen kann, ohne als misanthropischer Sonderling abgestempelt zu werden. Die folgende Musikbuchauswahl läßt kaum Wünsche offen, vom präsentablen Hardcover mit Schutzumschlag über eine Spoken Word-CD bis zum biegsamen Taschenbuch (für die Schwimmbadtasche!!) ist alles dabei.

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Oliver Sacks: Der einarmige Pianist.
Über Musik und das Gehirn

Gebunden mit Schutzumschlag
Rowohlt, 352 Seiten, € 19,90
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Oliver Sacks: Der einarmige Pianist. Über Musik und das Gehirn

Dem 1933 in London geborenen und seit vielen Jahren in den USA lebenden Neurologen und Schriftsteller Oliver Sacks gelingt es mit seinem Buch „Der einarmige Pianist“ erneut, wissenschaftliche Erkenntnisse mit einem anschaulichen, plauderigen Erzählton zu verknüpfen und einem breiten Lesepublikum verständlich zu machen. Wie in den Bestsellern „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“, „Der Tag, an dem mein Bein fortging“ und „Eine Anthropologin auf dem Mars“ berichtet Sacks aus seiner Praxis und hebt besonders ungewöhnliche Fälle hervor, dieses Mal geht es um die Wirkung von Musik auf das Gehirn, ein äußerst spannendes Thema also. Sacks ist Mediziner, daher werden ausschliesslich Verletzungen und (vermeintliche) Defekte des Gehirns wie Tourette-, Alzheimer- und andere Syndrome untersucht und dargestellt. Der Leser erfährt, was es heißt, mit dem „absoluten Gehör“ gesegnet (oder verflucht, je nach Sichtweise) zu sein, wird von Sacks darüber aufgeklärt, dass der Begriff „Ohrwurm“ eigentlich in die Irre führt (genauer wäre die Bezeichnung „Hirnwurm“) und wie sich Musiktherapie auf demente Patienten auswirkt. Sacks' große Stärke liegt in der Beschreibung seiner Patienten: in Kapitel 12 stellt er den Savant Martin vor, dessen unheimliche Begabung (bei großen Einschränkungen in anderen Gebieten) darin besteht, über tausend Opern auswendig zu kennen – und zwar in Ton und Text. Martin ist außerdem in der Lage, ihm vorher unbekannte Musikstücke im Stil eines bestimmten Komponisten auf dem Klavier zu interpretieren, zum Beispiel à la Debussy. Weitere Beispiele erzählen davon, wie ein Mann nach einer Blitzverletzung seine kognitiven Fähigkeiten durch Klavierspielen wiedererlangte, oder wie der titelgebende Pianist Paul Wittgenstein, der im Ersten Weltkrieg seine rechte Hand verlor, weiterhin „beidhändig“ komponierte, weil sein Gehirn die Verbindungen zur Phantomhand nicht gekappt hatte. Der für Musikliebhaber schlimmstmögliche Hirndefekt, die Amusie wird auch beschrieben: Amusie ist die Unfähigkeit, trotz vorhandener und funktionstüchtiger Sinnesorgane, Tonfolgen zu erkennen und wiederzugeben. Der blanke Horror.... Die Fülle der Anmerkungen und Fußnoten in „Der einarmige Pianist“ verrät, dass Sacks über genügend Material für zehn weitere Bücher zu seinem erklärten Lieblingsthema verfügt – bleibt zu hoffen, dass Sacks die Energie für einen zweiten Teil des „Einarmigen Pianisten“ aufbringt, denn im vorliegenden Band wird „nur“ die Wirkung klassischer Musik berücksichtigt. Was ja an sich kein Mangel ist, dennoch wäre es interessant zu erfahren, wie sich Housemusic, Hardrock oder Jazz auf beschädigte Gehirne auswirken...

For further reading: das noch nicht ins Deutsche übersetzte Buch „This Is Your Brain on Music“ des amerikanischen Psychologen Daniel J. Levitin, aus dem Sacks häufig zitiert (Dutton/Penguin Group, 2006)

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Sabine Müller, Max Nuscheler (Hg.):
Kopfhörer. Kritik der ungehörten Platten

Salon Alter Hammer, TB, 184 Seiten, € 11,90
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Sabine Müller, Max Nuscheler (Hg.): Kopfhörer. Kritik der ungehörten Platten

Prima Idee, mittelprima Ausführung: schon in den frühen siebziger Jahren verfaßte Ober-Gonzo-Journalist Lester Bangs Rezensionen von Platten, die er gar nicht kannte. Seine Kritiken waren brilliant und böse und entlarvten das eitle Getue der Rolling Stone-Schreiberlinge, die sich für unantastbare Halbgötter hielten. Denn natürlich kann Kritik auch Kunst sein, aber oft stellt sich bei den Lesern der Eindruck „das kann ich auch“ ein, was dank Internet ja mittlerweile glücklicherweise sofort in die Tat umgesetzt werden kann. Wie auch immer, die Idee, sich über Dinge auszulassen, über die man wenig bis nichts weiß, ist eine reizvolle Herausforderung, die selbst bei wenig kreativen Menschen zu erstaunlichen Ergebnissen führen kann. Die HerausgeberInnen von „Kopfhörer“ sprachen knapp 50 Autoren und Autorinnen an, darunter Sonja Eismann, Oliver Uschmann, Radiolegende Klaus Fiehe, Ventil- und testcard-Chef Martin Büsser, Harald „Sack“ Ziegler und viele mehr. Trotz einiger Highlights wie zum Beispiel Linus Volkmanns furioses Fertigmachen des Red Hot Chili Peppers-Erfolgsalbums „Blood Sugar Sex Magik“ (bei gleichzeitigem Geständnis, „Californication“ großartig zu finden), Jan Offs punkiger Abgesang auf Blumfelds „Verbotene Früchte“ und Klaus Walters poetische Fantasie, Christian Wulff und Heinz-Rudolf Kunze mit Mark E. Smith zu quälen, bleiben viele Texte im Schulaufsatzstil stecken. Ausserdem fehlt häufig das Reibungspotenzial, denn es ist wenig revolutionär und wagemutig, Rammstein zweifelhaft zu finden oder Andrew Lloyd Webbers „Jesus Christ Superstar“ zu verteufeln. Fazit: Idee aufgreifen und selbermachen, vielleicht auf der nächsten Party als Karaoke-Ersatz.

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Martin Schäfer: Johnny Cash
Suhrkamp, TB, 160 Seiten, € 7,90
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Martin Schäfer: Johnny Cash

Der Suhrkamp Verlag rief vor kurzem die Reihe Suhrkamp BasisBiographie ins Leben, die – vergleichbar mit den legendären Rowohlt-Monographien – Leben und Werk bedeutender MusikerInnen, SchriftstellerInnen oder PhilosophInnen in komprimierter Form darstellt. Titel über Frida Kahlo, Mahatma Gandhi, Rosa Luxemburg, Klaus Kinski und viele andere sind bereits erschienen, jetzt hat der Medienwissenschaftler Martin Schäfer die Reihe um einen Band über Johnny Cash erweitert. Trotz des äußerst knappen Umfangs (inklusive Anhang, Zeitleiste, Register umfassen die BasisBiographien nur 160 Seiten) schafft es Schäfer, ein nahezu lückenloses Bild Johnny Cashs zu zeichnen. Von seiner Kindheit in Arkansas über die Soldatenzeit in Deutschland und Cashs erste Gehversuche im Musikbusiness skizziert Schäfer die wechselhafte Karriere und das bewegende Privatleben Johnny Cashs, bis hin zu den letzten Aufnahmen, den „American Recordings“ unter Rick Rubins Regie. Auch „Walk the Line“, der Erfolgsfilm über Cashs Leben mit Joaquin Phoenix und Reese Witherspoon fand Aufnahme in die BasisBiographie, die zudem eine umfangreiche Bibliographie beinhaltet, wenn man sein Wissen über Johnny Cash weiter vertiefen möchte.

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Jürgen Wölfer: Jazz in Deutschland.
Das Lexikon. Alle Musiker und
Plattenfirmen von 1920 bis heute

Hannibal, Gebunden, 503 Seiten, € 29,90
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Henning Dedekind: Krautrock.
Underground, LSD und kosmische Kuriere

Hannibal, geb., 311 Seiten, € 24,90
» www.dedekind.de
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Jürgen Wölfer: Jazz in Deutschland Henning Dedekind: Krautrock. Underground, LSD und kosmische Kuriere

Gleich zwei neue Veröffentlichungen von Hannibal haben das Zeug zum Standardwerk: sowohl Jürgen Wölfers 500 Seiten starkes Lexikon über Jazz in Deutschland als auch Henning Dedekinds Buch „Krautrock“ widmen sich ihrem jeweiligen Objekt mit bisher ungekannter Akribie und Detailgenauigkeit. Das Jazz-Lexikon ist – wie der Name schon sagt – ein waschechtes Lexikon mit hunderten von Namens- und Begriffseinträgen, einem umfangreichen Anhang mit einer Auflistung wichtiger Labels und Literaturempfehlungen. Wölfer, der bereits Biografien über Dizzy Gillespie und Johnny Richards verfaßt hat, beginnt seine Recherchen in den frühen zwanziger Jahren und schlägt einen Bogen bis zu aktuelleren Strömungen: Till Brönner findet sich ebenso im Lexikon wie die Jazzerlegenden Albert Mangelsdorff und Klaus Doldinger. Wölfer beschränkt sich nicht auf die bekannten Namen, er führt auch weniger prominenter KünstlerInnen wie Ute Kannenberg oder Christoph Stiefel auf, was den positiven Eindruck relativer Lückenlosigkeit verstärkt. Zudem gibt es ein gesonderte Abhandlung über Jazz in der DDR und das Amiga-Label, die es in dieser Form bisher nicht zu lesen gab.

Henning Dedekind ist Jahrgang '68, also ungefähr so alt wie die Musikrichtung, die er der geneigten Leserschaft auf gut 300 Seiten nahebringt. „Krautrock“ entstand als Begriff in den späten sechziger Jahren und sollte deutsche Bands wie Kraan, Faust, Guru Guru oder Amon Düül unter einen Hut bringen. Bei allen Unterschieden im musikalischen Konzept einte diese Gruppen die Liebe zum psychedelischen Experiment und Improvisation, bei gleichzeitger Ablehnung des angloamerikanisch geprägten Rock'n'Roll. Die Bandbreite erstreckte sich von elektronischer Pionierarbeit (Tangerine Dream, Can) über marihuanalastigen Hippiesound á la Guru Guru und Ash Ra Tempel und Ausflüge in Jazz und ja, doch so etwas wie Rock (Embryo, Birth Control). Auch explizit politische Protestbands wie Ton Steine Scherben gelten als Krautrock, weisen aber schon in eine andere, weit weniger psychedelisch dominierte Richtung. Krautrock galt und gilt international als genuin deutsches Kuriosum, der Einfluss von Bands wie Can auf -zig Bands ist bis heute immens. Henning Dedekind ordnet die Krautrockbands ins politische Zeitgeschehen ein, beschreibt Werde – und Niedergang der wichtigsten Vertreter, bleibt aber nicht im Nacherzählen einer längst vergangenen Epoche hängen: er interviewte viele zeitgenössische Musiker wie zum Beispiel Nick McCarthy von Franz Ferdinand, der sich in seiner Arbeit explizit auf Krautrockbands bezieht. Viele lustige Bart- und Haarfotos runden Dedekinds mehr als überfälliges Werk ab.

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Patti Smith & Kevin Shields: The Coral Sea
2 CDs/Hörbuch, Pask Records/Cargo
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Patti Smith & Kevin Shields: The Coral Sea

Als der Fotograf Robert Mapplethorpe 1989 an den Folgen von AIDS starb, beschloss Patti Smith, ihrem Freund und künstlerischen Wegbegleiter ein Denkmal besonderer Art zu setzen. Sie schrieb „The Coral Sea“, ein zorniges Requiem, das 1996 als Buch veröffentlicht wurde. Viele Jahre sah sie sich außerstande, den gesamten Text öffentlich zu lesen, zu schmerzhaft war die Erinnerung an den mit nur 43 Jahren verstorbenen Freund, zu groß die Wut über die noch immer unbesiegbare Krankheit. 2005 tat sich Smith mit dem Gitarristen ihrer erklärten Lieblingsband, Kevin Shields von My Bloody Valentine zusammen, um in der Londoner Queen Elizabeth Hall „The Coral Sea“ zu performen – als Kombination aus Spoken Word und eindringlichen Gitarrenparts. Das beeindruckende und bewegende Ergebnis erscheint nun als Doppel-CD-Album auf Patti Smiths eigenem, extra für „The Coral Sea“ gegründeten Label PASK, Cargo übernimmt den deutschen Vertrieb.

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Nick Johnstone (Hg.): The Clash Talking
übersetzt von Thorsten Wortmann,
Schwarzkopf & Schwarzkopf,
geb., 181 Seiten, € 14,90
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Helen Donlon (Hg.): David Lynch Talking
übersetzt von Thorsten Wortmann,
Schwarzkopf & Schwarzkopf,
geb., 173 Seiten, € 14,90
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Nick Johnstone (Hg.): The Clash Talking Helen Donlon (Hg.): David Lynch Talking

Nicht bei allen Druckerzeugnissen, die das Licht der Buchhandlungen erblicken, erschließt sich der Nutzwert sofort. So auch bei den Titeln der „Talking“-Reihe von Schwarzkopf & Schwarzkopf. Welchen Sinn es hat, nur mit einem Vorwort, nicht aber tiefergehenden Erläuterungen versehene Zitatsammlungen ausgewählter Künstler zu veröffentlichen, bleibt weitgehend im Dunkeln. Es ist natürlich sehr amüsant zu erfahren, dass David Lynch 1997 den Satz sprach „Ich öffne Türen, die sonst verschlossen bleiben würden.“ oder dass man Joe Strummer die Aussage „Als ich 16 war, hörte ich ein Jahr lang nichts anderes als Trout Mask Replica von Captain Beefheart.“ zuschreibt (1976). Ansonsten liefern die aus jeglichem Zusammenhang gerissenen Zitate nur wenig wirkliche Erkenntnisse über die zweifelsohne interessanten und wichtigen Künstler. Vielleicht ist die „Talking“-Reihe ja als Fundus für Poesiealbumsprüche konzipiert worden. Das wiederum wäre wirklich lustig, wenn Klein-Dennis in Klein-Leonies Album schriebe „Ich fühle mich, als würde ich in Angst, Dunkelheit und Verwirrung leben... Aber ich fühle auch noch etwas ganz anderes, und zwar, dass es so viele positive Dinge gibt.“ (David Lynch, 1997).

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Diedrich Diederichsen: Eigenblutdoping.
Selbstverwertung, Künstlerromantik, Partizipation

KiWi, 256 Seiten, € 9,90
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Diedrich Diederichsen: Eigenblutdoping. Selbstverwertung, Künstlerromantik, Partizipation

Eigentlich hier nicht ganz an der richtigen Stelle, wegen einiger Berührungspunkte mit Popmusik dann aber doch: Diedrich Diederichsens neue Textsammlung „Eigenblutdoping“. Die vorliegenden Artikel sind die Verschriftlichung einer Vortragsreihe, die Diederichsen vom Sommer 2006 bis Sommer 2007 im Hamburger Kunstverein hielt. Der Leiter des Kunstvereins, Yilmaz Dziewior, beauftragte Diederichsen, monatlich einen Vortrag über ein Thema seiner Wahl zu halten. DD konzipierte vier Teile zu je drei Vorträgen (Subjektivität, Vorgeschichte, Kunstbetrieb, Sound) und zog sich für eine Weile nach Saint Louis/Missouri zurück, um zu schreiben. Die große Klammer: Künstler, Kunst und Kunstmarkt. DD geht der Frage nach, wann und warum der derzeitige Hype um Kunst aller Art begann und wie die Mechanismen eines Marktes funktionieren, der eigentlich kein Markt sein will. Als Beispiele führt er Zeitgenossen wie Damien Hirst, René Pollesch und Bob Dylan an, geht aber auch weiter zurück und philosophiert über die RAF, Charles Manson, Andy Warhol oder Georg Büchner. „Eigenblutdoping“ ist ein rasantes Buch über das unbekannte Wesen namens Popkultur – DD erreicht wie gewohnt zweierlei: Verwirrung und Belehrung.