Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




5. Juni 2008
 

Short Cuts-Logo
Juni 2008, erste Hälfte:


El Perro del Mar:
From the Valley to the Stars
(Memphis Industries/Coop)

“From the Valley to the Stars” ist das zweite Album der Schwedin Sarah Assbring, die seit einigen Jahren unter dem gendermäßig verwirrenden Alias El Perro del Mar Musik macht. Ihr Debüt von 2006 war im Grunde eine Compilation von EPs, die bis dahin nur im Netz erhältlich waren. Die Platte verhalf ihr aus dem Stand zu einer treuen Fangemeinde, zu der Bands wie TV on the Radio und Künstler wie Jose Gonzales gehörten, die Sarah/El Perro ohne Umschweife einluden, mit ihnen auf Tournee zu gehen. Hört man sich “From the Valley to the Stars” an, kann man sich die Musik nur schwer auf einer Konzertbühne vorstellen – so zart, fragil und zum Teil entrückt klingen El Perro del Mars folkpoppige Songminiaturen. Ihre helle, engelsgleiche Stimme erinnert an Julee Cruise und evoziert spooky Stimmungen, fast wie in David Lynchs Filmen. Auf ihrem Debütalbum benutzte El Perro del Mar pompösere, an Phil Spector orientierte Arrangements. “From the Valley...” sollte reduzierter klingen, die Songstrukturen sollten nicht überdeckt werden. Die sechzehn Songs, allesamt recht kurz, scheinen zu flirren, berühren nie den Boden, sondern schweben in einer unwirklichen Atmosphäre. Die Grundstimmung ist melancholisch: “From the Valley...” ist kein echtes Konzeptalbum, verhandelt aber die großen Themen Leben und Tod. Mit Musikern des Gothenburger Symphonie-Orchesters produzierte Sarah in ihrem Homestudio federleichte Songgespinste wie “Glory to the World” oder das verträumt-verwunschene lullaby “Do Not Despair”, das mit dem nachfolgenden Swingstück “Somebody's Baby” aufs schönste kontrastiert. Songs wie “You Can't Steal a Gift” und “”How Did We Forget” entwickeln mit Piano, Trompeten und Flöten zartes Soulfeeling, das Instrumental “Inside the Golden Egg” scheint völlig aus der Zeit gefallen und könnte auch in einem Wiener Kaffeehaus zur Jahrhundertwende (19./20.) erklungen sein. El Perro del Mar paßt vielleicht nicht in einen lärmigen Club, dafür aber wunderbar zu den unwirklichen Stunden zwischen Mitternacht und Morgendämmerung.


» www.elperrodelmar.com



Al Green:
Lay It Down
(Blue Note)

Al Green muss ein glücklicher Mensch sein: er ist nicht nur seit Anfang der sechziger Jahre einer der einflussreichsten und besten Soulsänger, der der Menschheit Evergreens wie “Let's Stay Together” schenkte. Er beweist auch, wie man im Popgeschäft würdevoll altert (er feiert im Juli seinen 60. Geburtstag) und wie man mit jungen Künstlern zusammen arbeiten kann, ohne stilistisch auf Züge aufzuspringen, die längst abgefahren sind. Nachdem Green in den Siebzigern einige Schicksalsschläge hinnehmen mußte – seine Freundin verübte Selbstmord – und er nach einem Sturz von der Bühne kaum Verletzungen davontrug und das als ein Zeichen Gottes verstand, wandte er sich Religion und Gospelgesang zu und wurde Prediger. Mitte der achtziger Jahre bekam ihn die Popwelt zurück, Annie Lennox überredete ihn zu dem Duett “Put A Little Love In Your Heart”, 1989 nimmt er mit Al B'Sure “As Long As We're Together” auf und veröffentlicht wieder eigene Alben. Die Alben “Can't Stop” (2003) “Everything's Ok” (2005), die Al zusammen mit seinem bewährten Hitproduzenten Willie Mitchell aufnimmt, werden weltweit als großartiges Comeback gefeiert – Green und Mitchell gelingt es, den typischen Soulsound der Siebziger in die Nullerjahre zu überführen, Greens Stimme klingt so seidenweich wie eh und je. Das aktuelle Album “Lay It Down” ist nicht unter Mitchells Regie entstanden, dieses Mal durften junge R'n'B- und HipHopper wie Ahmir “?uestlove” Thompson und James Poyser ans Ruder. Die Youngster erstarrten zwar nicht in Ehrfurcht vor dem Altmeister, zwangen ihm aber auch kein modisches Korsett auf: Green schwelgt in Geigenhimmeln, die Songs changieren zwischen fröhlichem Uptempo-Soul und träumerischen Balladen, die GastvokalistInnen Corinne Bailey Rae, John Legend und Anthony Hamilton sind hörbar stolz, mit Al Green ins gleiche Mikrofon zu singen. Elf wunderschöne und zeitlose Songs, die Green in Hochform präsentieren.


» www.algreenmusic.com



The Ting Tings: We Started Nothing

The Ting Tings:
We Started Nothing
(Columbia/SonyBMG)

Ob man mit einem Bandnamen wie The Ting Tings eine dauerhafte Weltkarriere starten kann, wage ich zu bezweifeln. Aber vielleicht wollen Jules de Martino und Katie White aus Wigan bei Manchester auch einfach nur ihre fünfzehn Minuten Ruhm haben, die Andy Warhol einst jedem Menschen prophezeite. Das Debütalbum der “Sonny & Cher der Gegenwart” (so das Presseinfo) ist das Ergebnis von vier Jahren gemeinsamer Arbeit, in denen Katie unter anderem das Werk der Smiths kennenlernte, von denen sie bis dato noch nie gehört hatte. Aber man muß ja nicht alles kennen und wissen, gerade bei der eigenen Bandgründung kann eine respektlos nassforsche Haltung hilfreich sein. Nassforsch, unbekümmert, dabei stilistisch variabel und very british klingen folgerichtig die zehn Tracks auf “We Started Nothing”. Im Geiste von Transvision Vamp, den Darling Buds, aber auch Abba und The Sweet tanzen The Ting Tings mitreißend, schnoddrig und leichtfüßig durch die Popgeschichte. Die Disco-House-Wave-Hybriden “Shut Up and Let Me Go” und “Impacilla Carpisung” führen direkt auf die Tanzfläche, “Traffic Light” basiert auf einem verträumten Walzerrhythmus, “Keep Your Head” zitiert ungeniert das prägnante Gitarrenthema von The Cures “Inbetween Days” und liefert so – mit Absicht oder nicht – eine Neudefinition des von Bands wie Cure erfundenen Indie-Wavepops. Die Urbesetzung der Ting Tings beinhaltete einen DJ namens Dear Eskiimo, dem möglicherweise der Opener “Dear DJ” gewidmet ist, “Imagine all the girls / and the boys / and the strings / and the drums, the drums....” heißt es zu arschcoolem Glampop. Die girls, boys und alle anderen werden damit klarkommen, dass The Ting Tings als Duo unterwegs sind, Dear Eskiimo wird es vielleicht bedauern, dass er auf seine fünfzehn Minuten noch warten muss.

» www.thetingtings.com
» myspace.com/thetingtings



Ladytron: Velocifero

Ladytron:
Velocifero
(Major Records)

Ein Velocifero ist ein italienischer Scooter, in den fünfziger Jahren designt, genießt der kleine Flitzer heute Kultstatus. Die Liverpooler Elektropopband Ladytron verbindet auf den ersten Blick (und auch auf den zweiten) nicht viel mit dem motorisierten Untersatz, laut Aussage des Ladytron-Mitglieds Reuben Wu ist im Falle des Albumtitels auch mehr die wörtliche Übersetzung, nämlich “Tempobringer, Beschleuniger” gemeint. Dass Ladytron musikalisch durchaus in der Vergangenheit rühren, läßt sich nicht leugnen: Die Band (Mira Aroyo, Helena Marnie, Reuben Wu, Daniel Hunt) benannte sich nach einem Song der ersten Roxy Music-LP und hat sich dem “klassischen” Elektropop der frühen und mittleren achtziger Jahre verschrieben. Human League, Visage, Depeche Mode, aber auch die Überväter Kraftwerk hört man als deutliche Vorbilder aus dem Ladytron-Sound heraus. Die Band arbeitet vornehmlich mit analogen Geräten wie Moog-Synthesizern, auf der Bühne sieht man schon mal “echte” Gitarren und altertümliche Keyboards. Die Mischung aus dunklen, atmosphärischen Synthiesounds und kühl-distanzierten weiblichen Vocals läßt Vergleiche mit Client zu, die sich wie Ladytron gern unnahbar und sexy inszenieren. Als Ladytron vor sieben Jahren die Single “Playgirl” veröffentlichten, eroberten sie die Elektropopgemeinde im Handstreich. Die folgenden Veröffentlichungen gelangen Ladytron mal mehr, mal weniger stringent, die Liebe der Fans blieb ihnen jedoch jederzeit gewiß. 2007 wurden Ladytron von Nine Inch Nails als Supportact eingeladen, was der Beginn einer fruchtbaren Verbindung war: NiN-Keyboarder Alessandro Cortini ist auf mehreren Songs von “Velocifero” zu hören. Sehr viel weiter reicht der Einfluss von Nine Inch Nails aber nicht, “Velocifero” ist unverkennbar Ladytron, wenngleich der Sound hier und da durch rockigere Gitarren angereichert wurde. Bei “The Lovers” kommen die Gitarren besonders prägnant und temporeich zum Einsatz und unterstreichen nochmal, warum das Album “Velocifero” heißt. Der Opener “Black Cat” und “Kletva” sind komplett in bulgarischer Sprache gesungen, eine Referenz an die Herkunft Mira Aroyos. “Burning Up” entwickelt hypnotische Sogwirkung, auf den Stimmen liegt viel Hall und Echo – ein klarer Hit. Ladytron erfinden mit “Velocifero” weder sich noch den Elektropop neu, aber für bittersüße Dancetracks wie “Season of Illusions”, “Burning Up” und “I'm Not Scared” muß man sie lieben.


» myspace.com/ladytron



Gisbert zu Knyphausen

Gisbert zu Knyphausen
(Pias/Rough Trade)

In einem Lebensabschnitt, in der Zeit ein flüchtiger Moment ist, da der Zeitraffer den Tagesablauf bestimmt, kann die Pause-Taste die Rettung sein. Eine Reihe schöner Momente bietet das Debütalbum des Wahlhamburgers und Omaha-Records-Chef Gisbert zu Knyphausen. Er spricht so manchem aus dem Herzen, wenn er erkennt: „Ich bin schon lang nicht mehr auf der Suche nach dem Sinn, denn er wird sich immer verändern. Ich weiß ziemlich genau, was ich bin, aber nicht wo das hin will“. So nimmt er den Druck, die Last von den Schultern, wenn er dies „gar nicht so schlimm“ findet und einfach nur an den richtigen Stellen lachen will. Kein Lachen, aber ein deutliches Schmunzeln huscht übers Gesicht, wenn es „so schön, so schön, so schön“ ist, ein Cowboy zu sein, der immer unterwegs ist, aber am Ende meint: „es ist so schön zuhause zu sein, ich will kein Cowboy mehr sein“. Der Ex-Rheingauer spielt mit drastischen Bildern, ohne peinlich zu werden. Er singt davon, wie ein Opa auf die Wiese kotzt, von dessen Kriegsgeilheit und vom Kacken, ohne „Fremdschämen“ zu provozieren. Eher fühlt man sich berührt von so viel unverblümter Ehrlichkeit, er rüttelt uns an den Schultern, wenn wir wieder zuviel jammern und uns selbst klein machen. Dabei spricht er von ganz normalen Ängsten, vom Mut für das Alltägliche, von Freundschaft, in der man auch schweigend reden kann, und dass er sich nicht über Herzschmerz beschweren will an einem schönen Sommertag. Auch Gisbert ist träge, glaubt, dass er zu leise ist und seine Lieder dann lauthals in den Wind schreit, „doch viel viel lauter sind die, die nichts zu sagen haben“ und wenn das stimmt, will er lieber seinen Mund halten. Niemals wirken seine Worte aufgesetzt, immer authentisch und begleitet von wunderbaren Gitarrenklängen, die manchmal an die Melancholie Element of Crimes erinnern. Zu Kniphausens Melancholie jedoch öffnet kein Loch, in das man fallen möchte, sondern zeigt mit musikalischer Leidenschaft, was Leiden schafft und wie man diesem mit Selbstironie entgehen kann. Die Pause-Taste ist noch immer gedrückt: „Unsere Ohren empfangen alles in Reimform und ich hör dich noch sagen klar und deutlich’. Durch die Straßen fegen wir den kalten Wind, wie die Kinder ihre Phantasie. Und wir atmen die Musik, so gut wie heute ging es uns selten oder vielleicht auch nie“ Alles gewinnt in diesen Momenten an Bedeutung und auch mir wachsen endlich wieder „wundervolle Flausen aus dem Kopf“. (Maria Sonnek)


» www.gisbertzuknyphausen.de



No Age: Nouns

No Age: Nouns
(Sub Pop/Cargo)

Zwei Männer machen zusammen Musik. Dass dabei auch etwas anderes als die Brücke über reißendes Gewässer heraus kommen kann zeigen No Age. Nämlich abwechslungsreicher Noise mit unverkennbarem Popeinschlag. Dean Spunt (Schlagzeug/Gesang) und Randy Randall (Gitarre) aus Los Angeles arbeiten dabei mit übereinander gelegten Gitarrenschichten, die als Klangteppich und Melodiegeber fungieren. Endloses Gefrickel wird dem Hörer dabei dankenswerter Weise erspart – die Songs sind bis auf zwei Ausnahmen um die zwei Minuten lang.
Beeinflusst sieht sich No Age von Thurston Moores experimentellem Ansatz und einer ausgeprägten Do-it-Yourself-Attitüde, mit dem Grundverständnis, Kunst als entscheidenden Teil des täglichen Lebens anzusehen.. „No Age is more than a band to us. It is an umbrella.” Unter diesem Schirm haben neben der Musik auch Kunstausstellungen, Design, Video- und Magazinherstellung ihren Platz. Das 68-seitige Booklet gibt davon Kunde. Dies aber, wie gesagt, mit Fokus auf das tägliche Leben: kein verkopftes Kunstding - Spaß versteht die Band als Antriebsfeder dafür, Musik zu machen. Um ihre Musik in den Alltag der Menschen zu transportieren, brechen No Age den traditionellen Konzertrahmen auf und spielen auch in Buchhandlungen, Restaurants oder Freizeitparks. Die Songs sollen dabei auf der Bühne genauso wie zuhause funktionieren. Ein Verständnis, das sich auch in der Entstehungsphase von nouns widerspiegelt: aufgenommen wurde in Studios in L.A. und London und bei No Ages zu Hause. Nach mehreren Singles ist nun bei Sub Pop dieser Langspieler erschienen. Allen, die mit My Bloody Valentine, Daydream Nation oder Flaming Lips etwas anfangen können, sei er ans Herz gelegt. Anspieltip: „Here should be my home“. In einer gerechten Welt wäre dies der Sommerhit 2008. (Ralf Pfeifer)


» myspace.com/nonoage