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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




10. August 2008
 

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August 2008, erster Teil:


  Nervous Nellie: Ego & The Id
Nervous Nellie:
Ego & The Id

(Hazelwood)
» hazelwood.de
» nervousnellie.com
» myspace

Nervous Nellie live: 22. August: Viertelfest, Bremen, 23. August: Viertelfest, Bremen, 24. August: Barkasse Heidi, Hamburg (mit The Audience)


Nervous Nellie: Ego & The Id

Das Leben in einer Villa Kunterbunt muss schön sein. Wenn dort so entspannt mit akustischer Gitarre, Banjo und Piano musiziert wird wie bei den Schweden Jonzon, Johnson und Johansson. Da entsteht dann im Stockholmer Umland so beschwingter Country-Pop wie bei „June“, dem Opener auf dem neuen Album „ego & the id“. „Growing older was a big mistake“, lassen sie uns hier wissen. Es scheint, als hätten sie sich hoch oben an der Ostsee nach dem Indierock ihres Debütalbums „Don't think feel“ (2005) an die US-amerikanische Westküste der 1960er Jahre geträumt. Henrik Jonzon und Magnus Johnson haben sich dabei Vollbärte wachsen lassen und eine Menge Songs geschrieben, die oft den späten Byrds und Beach Boys huldigen. So wie „Hopeless way to feel” und “In a month or two”, die von Magnus Johnson geschrieben worden sind. “Since I” stammt wie acht andere Titel hier von Henrik Jonzon und erinnert als einziger an die alten Helden Dinosaur Jr., hier dürfen die Gitarren auch mal krachen. Insgesamt elf melodieverliebte Songs bringen Jonzon, Johnson und die bartlosen Brüder Johansson auf „ego & the id“. Die relaxte Mischung aus Country, Folkrock und Sixitiespop liefert auch Ohrwürmer. Wie etwa „Best of Times“, das zu den Highlights auf einem Album gehört, das nach Sommer, Meer und Lagerfeuer klingt. „The lonely hearts will have the best of times/ Dancing free, not stuck in any lines/ And the lonely hearts can come and go, they'll see/ With a bit of luck it's never: you and me”, singt Henrik Jonzon hier. Wer sich für Sean O'Hagan und seine High Llamas begeistert hat, wird auch an Jonzon, Johnson und den Johanssons seine Freude haben. Der Ire O'Hagan entdeckte später die Welt der elektronischen Musik für sich und die High Llamas. Wir dürfen also gespannt sein, ob Syntheziser und Sampler auch mal einen Platz in der Villa Kunterbunt finden. Wenn die Schweden mal wieder zuhause sind und gemeinsam vom Sommer träumen. Wouldn't it be nice? (Thomas Backs)


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  Fleet Foxes
Fleet Foxes
(Bella Union / Cooperative
Music / Universal)
» myspace


Fleet Foxes

Auf der Debüt-EP, die Anfang des Jahres erschien, zeichnete sich bereits das Potential des Quintetts aus Seattle ab: sanfte Gospelanleihen treffen auf verspielte Weird-Folk-Zitate, flankiert von eingängigen Melodien und harmonischem Satzgesang. Die Fleet Foxes setzten die eigene Messlatte hoch an und übertreffen sogar alle Erwartungen an das erste Album. Sonnige Melodien, die Freudentränen in die Augen treiben – dargeboten in einer unbeschwerten Lässigkeit, die selbst die kalifornischen Beach Boys angestrengt agieren erscheinen lässt. Wobei die Vergleiche mit Vorsicht zu genießen sind. Denn im Gegensatz zu vielen Bands, die Retro huldigen und die eigene Originalität vernachlässigen, kreieren die Fleet Foxes ihren eigenen Klangkosmos, der weder nach 60er-Folk oder 70er-Pop und schon gar nicht nach eigener aktueller Rockmusik klingt. Statt dessen beweisen die elf Kompositions-Perlen eine zeitlose Klasse, die die Band als "baroque harmonic pop jams" betitelt und damit zweifelsohne eines der Alben des Jahres veröffentlichte. (Ronald Klein)


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  Arms: Kids Aflame
Arms: Kids Aflame
(Melodic)
» myspace


Arms: Kids Aflame

Todd Goldstein aus Brooklyn wählte angeblich deshalb den Künstlernamen „Arms“, weil er von einem HipHopper namens „Ears“ gehört hatte. Mit HipHop haben die dreizehn Songs auf Goldsteins Debütalbum „Kids Aflame“ allerdings nichts zu tun. Goldstein/Arms zieht seine Inspiration aus der Musik von The Smiths, Aztec Camera, Neil Young oder Stephen Merritt – weißen Indie-Gitarrenpophelden also. Weil Goldstein in den letzten Jahren häufig umzog und seine Songs in vielen verschiedenen Manhattaner Apartements aufnahm, ist „Kids Aflame“ das musikgewordene Zeugnis seiner Odyssee durch New York. Wobei das Album zu keiner Sekunde so klingt, als habe ein zauselbärtiger Wohnzimmerfolkbarde sein deprimierendes Tagebuch vertont: Arms ist eine multiinstrumentale Lo-Fi-Oneman-Band, mit Betonung auf Band. Wunderbare Melodien hat sich Arms ausgedacht, mal euphorisch, mit countryeskem Flair oder Phil Spector-mäßiger Opulenz; dann wieder nachdenklich, minimalistisch und reduziert. Der Titeltrack lebt von Fingerschnipsen und flirrenden Ukulele-Klängen, beim ungestümen „Pocket“ wetteifern entfesselte Bläser und Schlaginstrumente in rock'n'rolliger Manier. Obwohl „Shitty Little Disco“ - der Titel suggeriert es – ein bitterböser Abgesang aufs Clubleben ist, will man zu diesem Track nichts anderes als tanzen. In „Eyeball“ gibt Arms den Crooner alter Schule und der Schlusssong „Ana M.“ ist ein verträumtes Lullaby. Die Eltern spielen eine große Rolle in Goldsteins Lyrics, in „Whirring“ heißt es „Listen to your fathers' advice, listen to signs, be very nice“, in „Tiger Tamer“: „Your daddy's on fire, your mommy's a liar“ - „Kids Aflame“ ist eine Platte, in der jugendlicher Überschwang auf den Schmerz des Erwachsenwerdens trifft. Melancholie und Unbeschwertheit halten sich die Waage – Collegepop für ältere Semester.


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  Jonathan Richman: Because Her Beauty Is Raw and Wild
Jonathan Richman: Because Her Beauty Is Raw and Wild
(Vapor Records)
» vaporrecords.com
» qikipedia


Jonathan Richman: Because Her Beauty Is Raw and Wild

Zu glauben, dass der 57-jährige Jonathan Richman ein Wegbereiter des amerikanischen Punkrock ist, fällt schwer angesichts der Platten, die er in den vergangenen Jahrzehnten aufgenommen hat. Auch auf seinem neuen Album „Because Her Beauty Is Raw and Wild“, dem fünften auf Neil Youngs Label Vapor, präsentiert sich Jonathan Richman als „quite possibly the friendliest artist on the face of the earth“, wie es im Presseinfo heißt. Sein grundpositives Weltbild, sein herzliches Wesen und die humorvoll-klaren Texte führen oft dazu, dass Richman als naiv und kindlich dargestellt wird, wobei er doch nur frei von Zynismus, Bitterkeit und anderen negativen Eigenschaften ist. Mit seiner Band The Modern Lovers spielte er in den siebziger Jahren einen minimalistisch-rauen Mix aus Rock'n'Roll, Beat und Pop; die Modern Lovers traten häufig mit den Ramones, Television und Blondie im legendären New Yorker Club CBGB's auf und schufen energiegeladene Prä-Punk-Hits wie „Roadrunner“ und „Egyptian Reggae“. Später – solo oder mit den Lovers – sang Richman über Maler wie Van Gogh und Picasso, über Dinosaurier, Eisverkäufer und den Yeti. Wild und gefährlich war das nicht, auch seine musikalischen Ausflüge in Richtung Doo-Wop, Country, spanischer Folklore und afrikanischer Palmweinmusik gerieten nie laut und anstrengend. Die vierzehn Songs auf „Because Her Beauty Is Raw and Wild“, die Jonathan nur mit der Unterstützung seines langjährigen Weggefährten, dem Drummer Tommy Larkins einspielte, sind weniger ambitionierte Experimente als ein freundliches „Hallo“. Man ist froh, mal wieder von Jonathan zu hören, ist er doch viel unterwegs und spielt in jedem erdenklichen Winkel der Erde. Er hat wieder einen Song über einen Maler im Gepäck, dieses Mal ist es Vermeer, Lieder über Liebe, Glaube, Hoffnung („We are covered with love and it comes from above“ singt er in „Time has been going by so fast“), auch ein Stück in spanischer Sprache und mit Flamenco-Gitarre gibt es zu hören. Richmans Punkroots hört man beim schrammeligen „Old World“ heraus, der Neuaufnahme eines älteren Songs, er covert Leonard Cohenw „Here it is“ und „When we refuse to suffer“ (gleich zwei Versionen dieses Songs sind auf der Platte) ist eine anarchisch-fröhliche Absage an alles Schlechte im Leben - „when we refuse to suffer, when we refuse to fear“ - man sollte gut hinhören, um zu erfahren, was dann alles passieren kann! So lange Jonathan Richman weiter den Globus bereist und Platten aufnimmt, kann die Welt kein so schlechter Ort sein – zumindest macht Jonathan sie ein bisschen erträglicher.


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  Conor Oberst
Conor Oberst
(V2/Cooperative)
» conoroberst.com

Conor Oberst & The Mystic Valley Band live: München/Backstage (7.9.08), Köln/Gloria (11.9.08), Mannheim/Alte Feuerwache (14.9.), Berlin/Columbia (15.9.)


Conor Oberst

Darauf kann man jetzt schon wetten: dass Conor Obersts zweites Soloalbum in den 2008-Jahrespolls ganz weit oben stehen wird. Auch wenn seine Hauptband Bright Eyes ja ebenfalls irgendwie ein Soloprojekt ist, fand Oberst, dass es mal wieder an der Zeit sei, eine Platte unter seinem Namen herauszubringen. Mit der Mystic Valley Band zog sich Conor nach Tepoztlán in Mexiko zurück, einen Ort, an dem aztekische Magie spürbar sein soll und von dem aus mehrere UFO-Sichtungen gemeldet wurden. (Interessant: Auch das letzte Bright Eyes-Album „Cassadaga“ bezieht sich auf einen mystisch-kultischen Ort.) Ob Conor und seine Kumpels in Tepoztlán Geister und UFOs sahen, entzieht sich unserer Kenntnis, in den Lyrics finden sich aber hier und da Verweise auf verschwundene Pilger („Sausalito“) oder religiös-christliche Themen („Lenders in the Temple“). Doch Mystik hin und Religion her, Conor Oberst gelingt ein höchst weltliches Wunder: die zwölf Songs deklinieren klassische Americana-Themen durch (Unterwegssein, Frauen, Einsamkeit, Straßen, Orte) und definieren sie neu. Von Line-Dance-Gassenhauern über Lagerfeuer-Blues und countryeskes Storytelling à la Kris Kristofferson spielen sich Conor und die Mystic Valley Band durch alle typisch US-amerikanischen Genres und klingen dabei keineswegs oll oder verstaubt. Im Gegenteil: Obersts melancholische, an den jungen Robert Smith erinnernde Stimme entledigt Country und Blues von jeglicher Altmänner-Anmutung. Conor, der es sich auch mit 28 Jahren noch gefallen lassen muss, das „musikalische Wunderkind aus Omaha“ genannt zu werden, huldigt auf dieser Platte seinem großen Vorbild Bob Dylan, besonders bei „Get-Well-Cards“ klingt er wie Mr. Zimmermans lang verschollener Sohn. Albernheit und Überschwang gibt es bei der Blues-Punk-Polka „I don't wanna die in the Hospital“ und der Dixie-Persiflage „NYC – Gone, Gone“, „Moab“ verkündet die ewiggültige Truckerweisheit „There's nothing that the road cannot heal“ und rundet ein wunderschönes Album ab, das in den Jahrespolls 08 ganz weit oben stehen wird... ach so, das erwähnte ich ja schon!


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  Elvis. The Complete '68 Comeback Special
Elvis. The Complete '68 Comeback Special
(Boxset / SonyBMG)


Elvis. The Complete '68 Comeback Special

Man vergegenwärtige sich die zeitlichen Dimensionen: vor vierzig Jahre feierte Elvis Presley sein Bühnen-Comeback. In den frühen und mittleren sechziger Jahren konzentrierte sich Elvis auf seine Schauspielkarriere, drehte nicht weniger als 31 Spiel- und zwei Dokumentarfilme. Liveauftritte gab es während dieser Zeit keine, musikalisch verlor der „King“ mehr und mehr an Bedeutung. Die am 3.12.1968 ausgestrahlte Show Elvis NBC TV-Special galt deshalb als großes Wagnis: würde es Elvis „noch bringen“? Und wie er es brachte, Elvis (in der legendären schwarzen Lederkluft) rockte wie zu seinen Anfangstagen, bewies stimmliche und performative Superklasse. Die beiden Showteile, Stand-up-Show und Sit-down-Show genannt, sind auch heute noch Sternstunden des Pop im TV. SonyBMG veröffentlicht zu Elvis' 31. Todestag am 16.8.1977 das komplette Programm plus vorher noch nie gehörten Aufnahmen von den Proben auf vier CDs mit 36-seitigem Booklet.


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  Lackthereof: Your Anchor
Lackthereof: Your Anchor
(City Slang / Universal)
» lackthereof.com
» myspace


Lackthereof: Your Anchor

„The new year is the old year again“ - mit diesen wenig aufmunternden Worten eröffnet Lackthereof, bürgerlich Danny Seim und hauptamtlich Drummer der Band Menomena, sein neuntes (!) Soloalbum „Your Anchor“. Auch über den anderen Songs schwebt eine fast greifbare Melancholie, die immer wieder durch trickreiche, anspruchsvolle Percussionparts durchbrochen wird. Seims Schlagzeugspiel ist für den besonderen Sound von Menomena verantwortlich, deren Album „Friend and Foe“ im vergangenen Jahr für viel Furore sorgte. Mit seinem Aliasnamen „Lackthereof“ unterstreicht Seim, dass ihm im Bandgefüge etwas fehlt – vielleicht sind ihm Menomena zu wild, zu ungestüm. Seims Solonummern wie „Fire Trial“, „Ask Permission“ oder „Fake Empire“ sind voller Selbstzweifel, klingen bei aller Melodiösität fragil und spröde. „Your Anchor“ ist ein Rettungsanker für Menschen, die Melancholie der Ausgelassenheit vorziehen.