»HELDEN«
Tobias Rüther: Helden
Interessante Idee: FAZ-Redakteur Tobias Rüther widmet ein ganzes Buch einer relativ kurzen, aber bedeutenden Episode im Leben David Bowies. Bowie, Mitte der siebziger Jahre ausgebrannt, drogenkrank und künstlerisch orientierungslos, entscheidet sich 1976, nach Berlin zu ziehen. Die geteilte Stadt zieht ihn magisch an: inspiriert durch Christopher Isherwoods Roman „Goodbye to Berlin“, Vorlage für den Film „Cabaret“, hat sich in Bowies Hirn ein Bild vom glamourös-abgewrackten Berlin der zwanziger Jahre festgesetzt, auf dessen Spuren er sich begeben will. Im Hirn des Thin White Duke spielen sich während dieser Zeit allerdings seltsame Dinge ab, zum Beispiel gibt er in einem Interview zu Protokoll, dass Großbritannien ein faschistischer Führer gut tun würde; er posiert in fragwürdiger Haltung im Fond eines schwarzen Mercedes, der angeblich Adolf Hitler gehört hatte und wird schlußendlich dabei fotografiert, wie er versonnen eine Hitler-Büste betrachtet und vor dem Führerbunker in Ost-Berlin den Hitlergruß ausprobiert. Schwierige Momente in David Bowies Karriere, dem man mit entsprechendem Abstand betrachtet sicherlich keine nazistischen Züge zuschreiben kann, der zur damaligen Zeit aber eine ungute Faszination für faschistische Ideologien und „preußische Tugenden“ hegte. Zum Glück besinnt sich Bowie auf die Musik: in seinen Berliner Jahren spielen nicht nur die 7-Zimmer-Altbauwohnung in Schöneberg eine große Rolle, in die für einige Monate auch Iggy Pop einzog oder Clubs wie der Dschungel und Romy Haags Varieteshow; sondern ebenso das berühmte Hansa-Studio in der Köthener Straße, in unmittelbarer Nähe zur Mauer gelegen. Gemeinsam mit seinem langjährigen musikalischen Partner, dem Produzenten Tony Visconti, Toningenieur Eduard Meyer und Michael Rother (Gitarrist der Krautrockband Neu!) entstehen zwei der wichtigsten Alben Bowies: „Low“ und „'Heroes'“. Beeinflußt von deutschen Elektronikbands wie Kraftwerk, Can und Neu! und der exzeptionellen Insellage Berlins gelingt Bowie eine radikale künstlerische Neuerfindung, „Low“ gilt bis heute als eins der sperrigsten, aber auch wegweisendsten Alben der siebziger Jahre. Bowie wirft alle Maskeraden und Inszenierungen á la Ziggy Stardust über Bord und komponiert sein bis heute berühmtestes Lied, „'Heroes'“ (in Anführungszeichen), einen Song über ein durch die Mauer getrenntes Paar. 1979 zieht Bowie weiter, eine Schauspielkarriere lockt (er dreht Filme wie „Schöner Gigolo, Armer Gigolo“). Rüthers letztes Kapitel heißt lapidar „Und dann war Berlin vorbei“ - doch das Buch verdeutlicht, wie wichtig Berlin für Bowie war, dem die Mauerstadt die Faszination für den Faschismus austrieb.
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Everett True: Nirvana. Die wahre Geschichte Übersetzt von Kirsten Borchardt Hannibal 2008 Geb., 752 S., € 29,90 » Hannibal Verlag
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Everett True: Nirvana. Die wahre Geschichte
„A true story by Everett True“, auf Deutsch „Nirvana. Die wahre Geschichte“ - der vorliegende knapp 700 Seiten dicke Wälzer ist weit mehr als nur ein lustiges Wortspiel. Der Musikjournalist und Buchautor Everett True nimmt eine einzigartige Stellung in der Grunge-Szene ein, war Teil davon und schrieb darüber. True kennt alle Protagonisten und Bands, „Nirvana“ ist deshalb auch kein Buch ausschließlich über Nirvana und Kurt Cobain, sondern auch eine Innensicht der Musikszene Seattles. Und Geschichtsschreibung: noch nie zuvor wurde das Grunge-Label Sup Pop so umfassend porträtiert, Bands wie die Melvins, Mudhoney und viele andere spielen in „Nirvana“ eine ebenso wichtige Rolle wie Nirvana selbst. True war immer und überall dabei, nicht als Fliege an der Wand, sondern als integraler Bestandteil einer Szene. True schweift ständig ab, spinnt Fäden in alle möglichen Richtungen, beschreibt Konzerte von Bikini Kill oder den Proberaum von Alice in Chains – doch all das ist wichtig, um das Phänomen Postrock resp. Grunge zu verstehen, ach, um die neunziger Jahre überhaupt zu verstehen. True liefert neben musikalischen Details auch jede Menge Gossip, wie zum Beispiel die detaillierte Ausführung des Kennenlernens von Kurt und Courtney und und und. „Das ist ein Buch über Nirvana“, „Das ist kein Buch über Nirvana“ - True erinnert die Leser und sich selbst immer wieder daran, worum es in seinem Buch geht. Dass er es zwischendurch immer wieder vergißt, macht „Nirvana. Die wahre Geschichte“ zu einem unverzichtbaren Standardwerk über die Rockmusik der neunziger Jahre. True.
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Charles R. Cross: Kurt Cobain intim Übersetzt von Henning Dedekind Hannibal 2008 Geb., 160 S., € 29,90 » Hannibal Verlag
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Charles R. Cross: Kurt Cobain intim
Im April 2009 jährt sich Kurt Cobains Todestag zum fünfzehnten Mal. Angesichts der Fülle an Büchern über Kurt, Courtney, Kurt und Courtney, Nirvana und Grunge überhaupt könnte man denken, es sei bereits alles über den romantisch-tragischen Helden des modernen Rock gesagt. Doch es gibt immer wieder Überraschungen: Charles R. Cross, Redakteur des Musikmagazins „The Rocket“ und unter anderem Autor der umstrittenen Biografie „Der Himmel über Nirvana“ hat seine guten Kontakte zu Courtney Love erneut bemüht und sie um Unterstützung bei seinem neuesten Vorhaben gebeten. Love steuerte zu Cross' vorherigem Buch viele Details aus ihrem und Cobains Privatleben bei, die bei vielen Nirvana-Fans auf wenig Verständnis stießen, doch die Idee hinter „Kurt Cobain intim“ (nicht vom Buchtitel abschrecken lassen!) zielt nicht auf erneutes Waschen schmutziger Wäsche: Cross will anhand Kurt Cobains Sammlerleidenschaft einen neuen Fokus auf sein künstlerisches Schaffen werfen. Cobain war – und das wird oft vergessen – trotz seiner lebenslangen Magenkrankheit und der aus ständigem Schmerz resultierenden Heroinsucht nicht nur ein getriebener Kreativer, sondern vor allem ein Mensch mit sehr speziellem Humor. Dieser Witz zeigt sich bereits auf vom 13-jährigen Kurt selbstgezeichneten Thanksgiving-Karten (auf deren Rückseite er selbstbewußt „A Kurt Cobain Greeting Card“ pinselte), seinen Versuchen als Comiczeichner und vor allem im Anhäufen allerlei bizarrer Gegenstände: religiöse Devotionalien, Popstar-Plastikpuppen, musizierende Plüschaffen, Superhelden-Masken, Band-Shirts, Poster – obwohl Cobain viele Jahre lang keine eigene Wohnung hatte, ist seine in Kartons verpackte Sammlung „of everything“ beinah so umfangreich wie Andy Warhols Time Capsules. Cobain stattete auch Nirvana-Plattencover und -Videos akribisch mit Exponaten seiner Sammlungen aus, im Video zu „Heart-Shaped Box“ sieht man einige der herzförmigen Pappschachteln, die sich Kurt und Courtney gegenseitig schenkten. Courtney Loves Bereitschaft, Charles Cross Einblicke in Kurts Nachlaß zu gewähren, kann ihr nicht hoch genug angerechnet werden: Kurts skurril-komischer Blick auf die Welt und seine Sammelleidenschaft (das Wort „besessen“ kommt im Buch sehr häufig vor) offenbaren einen Musiker und Künstler, dessen attitude so gar nicht zur oft machistisch-groben Grunge-Anhängerschar passt – und von der sich Cobain selbst distanzierte, nicht zuletzt durch sein Faible für Frauenklamotten, gefärbte Haare und lackierte Fingernägel.
Das vergleichslos aufwändig ausgestattete Buch (ausklappbare Seiten, eingelegte Polaroids und Tickets, eine Plastikmaske, etc.) beinhaltet neben seinem klugen biografischen Text und unzähligen Fotos eine CD mit bisher unveröffentlichtem Spoken-Word-Material von Kurt Cobain.
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Strummer, Jones, Simonon, Headon: The Clash
History from the inside: „The Clash“ wurde von den Bandmitgliedern konzipiert und geschrieben – Strummer, Jones, Simonon, Headon steht deshalb folgerichtig auf dem Umschlag, auch wenn im Falle Joe Strummers natürlich auf älteres Schrift- und Bildmaterial zurückgegriffen wurde. Der noch nicht in deutscher Übersetzung erhältliche, knapp 400 Seiten starke Band bietet die chronologische Aufarbeitung der Clash-Story aus Sicht der Musiker – ohne verklärende Nostalgie, aber auch ohne persönliche Eitelkeiten. Hunderte Fotos, viele davon bislang unveröffentlicht, Interviews, Konzertposter, Postkarten, Bilder von Weggefährten und vieles mehr bilden ein Fan-Buch besonderer Klasse, das neben der „Story of The Clash“ gleichzeitig eine Geschichte des Punkrock ist – erzählt von den Protagonisten selbst.
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Desmond Morris, James Mollison: The Disciples Chris Boot Geb., 128 S., £40.00
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Desmond Morris, James Mollison: The Disciples
Was wären Stars ohne ihre Fans? Der britische Fotograf James Mollison besuchte zwischen 2004 – 2007 Konzerte aller möglichen Bands in England und Amerika und lud besonders auffällig gestylte Fans und Lookalikes zu Fotoaufnahmen ein. Das Ergebnis ist faszinierend: Mollison gibt seine Modelle nicht der Lächerlichkeit preis, was angesichts aufgerüschter Madonna-Fans, gruftiger Marilyn Manson-Epigonen und gefährlich dreinblickenden HipHoppern beim 50 Cent-Konzert ein leichtes gewesen wäre. Mollisons Fotos zeigen die enorme Kreativität, die Menschen entwickeln, um die Hingabe zu ihren Stars optisch auszudrücken, aber auch welchen Stolz und Glück das Leben als Fan bereiten kann (besonders gut erkennbar bei Fans von The Gossip, Jennifer Lopez, Youssou n'Dur, aber auch: Rod Stewart).
Photograph © James Mollison / Chris Boot Ltd 2008
Auf den 58 Fototafeln sind jeweils acht bis zehn Fans/“Disciples“ in voller Montur abgebildet – die serielle Darstellung sorgt für Warhol'sche Effekte, die sich bei genauerem Hinsehen auflösen: hinter jedem Gene Simmons- oder Morrissey-Lookalike steckt ein Individuum, das sich Selbstbewußtsein und Identifikation beim Star ausleiht und gleichzeitig persönlich interpretiert. Die Einleitung zu „The Disciples“, das in einer limitierten Auflage von 3000 Stück erscheint, stammt vom britischen Ethnologen und Sozialforscher Desmond Morris.
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Heinz Strunk: Die Zunge Europas Rowohlt 2008 Geb., 320 S., € 19,90 » Rowohlt
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Heinz Strunk: Die Zunge Europas
Nach all den Helden und Anti-Helden fehlt noch der Anti-Held schlechthin: Heinz Strunk übertrifft sich in „Die Zunge Europas“ in Bezug auf Depressivität und Aussichtslosigkeit selbst, gegen die Weltsicht des Protagonisten Markus Erdmann nimmt sich der auch gar nicht soooo schenkelklopf-lustige Vorgänger „Fleisch ist mein Gemüse“ wie reinste Comedy aus. Die Wendung am Schluß (wird natürlich nicht verraten) ist im Strunk'schen Universum wohl tatsächlich positiv zu sehen, für alle anderen klingt Erdmanns Weg ins Glück eher befremdlich ...
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