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8. Dezember 2008
 

Jazz and the City

Zugegeben: die Überschrift entstand aus reinem Spaß am Wortspiel. Meine Oma sagte immer, „was nicht paßt, wird passend gemacht“ und in diesem Sinne subsumieren wir hier fröhlich alles mögliche unter „Jazz“, wenn auch dieser Begriff nur auf Album Nummer eins so richtig zutrifft. Aber wer wird denn kleinlich sein: schließlich geht es bei jedem der folgenden Produkte um eine bestimmte Stadt und um Musik... und „Jazz“ klang besser als „Music in the City“... jetzt aber genug der Vorrede, los geht’s:

  Chet Baker with The Bradley Young Trio: Chet in Chicago. The Legacy Vol. 5
Chet Baker with The Bradley Young Trio: Chet in Chicago. The Legacy Vol. 5
enja


Chet Baker with The Bradley Young Trio

In 2008 jährte sich Chet Bakers Todestag zum zwanzigsten Mal: im Mai 1988 fiel der legendäre Jazztrompeter aus dem Fenster eines Amsterdamer Hotels. Bakers Ableben schien auf dieselbe Weise grotesk wie Nicos Sturz vom Fahrrad im selben Jahr: war für beide Künstler doch ein jämmerliches Junkie-Siechtum vorgesehen und kein profaner Unfall mit Todesfolge. Oder nicht? Dass Chet Baker viele Jahrzehnte an der Nadel hing, blieb niemandem verborgen und überdeckte oft die Wertschätzung seines Könnens – in seiner Heimat Amerika galt Baker nach vielen drogenbedingten Gefängnisaufenthalten nicht viel, in Europa hingegen verehrte man sein sensibles, warmes Trompetenspiel. Matthias Winckelmann, Betreiber des deutschen Jazz-Labels enja widmet sich seit vielen Jahren Bakers Vermächtnis, stets in Absprache mit Bakers Witwe Carol, die Winckelmanns Verdienste in höchsten Tönen lobt. In der enja-„Legacy“-Reihe erschien jetzt „Chet in Chicago“, eine erstaunliche Studioaufnahme von 1986, initiiert vom damals noch sehr jungen Jazzpianisten und Baker-Aficionado Bradley Young, der Chet beim ersten Zusammentreffen damit amüsierte, dass er alle Baker-Soli exakt mit“scatten“ konnte. In Chicago ist Chet Baker nur wenige Male aufgetreten, die „windy city“, die „amerikanischste“ aller US-Städte ist ihm immer fremd geblieben. Er freut sich, in Bradley Young einen Freund und Anker in Chicago gefunden zu haben und als Young eine gemeinsame Studiosession vorschlägt, sagt Baker sofort zu. Young bittet den renommierten Bassisten Larry Gray, Schlagzeuger Rusty Jones und den Tenorsaxophonisten Ed Peterson dazu und – laut Linernotes – entstehen an einem Nachmittag „in one take“ eine Reihe traumwandlerisch perfekter Aufnahmen. Chet Baker ist in fantastischer Form, seine Trompete klingt pointiert und klar wie selten, jeder einzelne Ton ist hörbar, voller Kraft und gleichzeitig gefühlvoll. Die Session strahlt große Lässigkeit, aber auch enorme Konzentration aus – Klassiker wie Lane/Harburgs „Old Devil Moon“, das spritzige „It's You Or No One“ und Charlie Parkers „Ornithology“ erstrahlen in neuem Glanz, ohne dass experimentelle Tricks bemüht werden. Auch Bakers „Hymne“, „My Funny Valentine“ fehlt nicht: diesen Song hat er so oft wie keinen anderen gespielt, dass er ihm noch immer naheging, unterstreicht sein melancholischer, ein wenig brüchiger Gesang, der zwischen den zärtlich hingetupften Trompetenklängen ertönt. Mit der lebhaften, wirbeligen Interpretation von Miles Davis' „Solar“ endet die Session, mit der sich Chet Baker nicht neu erfand, aber höchst eindrucksvoll zurückmeldete.


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  Kieran Hebden + Steve Reid: NYC
Kieran Hebden,
Steve Reid:
NYC

domino
» Hebden and Reid


Kieran Hebden + Steve Reid: NYC

Als „nervigen, prätentiösen Mist“ oder so ähnlich bezeichnete de:Bug „NYC“, neuestes Album der kongenialen Arbeitsgemeinschaft Kieran Hebden und Steve Reid. Das können wir so natürlich nicht stehen lassen, denn die Kombination aus Hebdens Sampling- und Programming-Skills und Schlagzeuger Reids „talking drums“ ist einzigartig: Kieran Hebden (Four Tet) und die Detroiter Jazzlegende Steve Reid machen seit einigen Jahren zusammen Musik, die Alben „The Exchange Sessions 1 & 2“ und „Tongues“ sind eindrucksvolle Dokumente der Verschmelzung von Innovation und Tradition, Beweise dafür, dass Neuzeit-Elektro und Oldschool-Jazz mehr miteinander zu tun haben, als man oberflächlich betrachtet denken könnte. Anstrengend kann das durchaus sein, vielleicht sogar nervig, „Avantgarde“ ist ein Begriff, der häufig fällt: je nach Sichtweise bewundernd oder abschätzig gemeint. Jetzt treiben Hebden/Reid den Avantgarde-Faktor noch ein bißchen weiter: „NYC“ ist ein Konzeptalbum, Vertonung des Lebens im Big Apple; aufgenommen im Avatar Studio in Manhattan, in dem schon so unterschiedliche Künstler wie Chic, Steve Reich, Missy Elliot und The Roots wegweisende Platten produzierten. Die Stimmung auf „NYC“ steigert sich: vom noch relativ verhaltenen Ankommen auf dem „Lyman Place“, wird es auf der Kreuzung „1st & 1st“ und in der „25th Street“ flirrend-funky und urban. „Arrival“, eine fast zehnminütige Session aus fiependen Geräten und hypnotisch-treibenden Drums, läuft in hysterischer Erschöpfung aus. Reids Schlagzeug stabilisiert die taumelnden, schlingernden Loops, wie die New York Subway unterhalb des Verkehrschaos auf den Straßen. „Between B & C“ kehrt bluesige Ruhe ein, „Departure“ führt aus dem Gewirr hinaus, lockt, drängelt, hustlet die Hörer gleichzeitig wieder hinein – ja, das ist nervig und anstrengend und faszinierend: so wie New York City.


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  Osaka Monaurail: Amen, Brother
Osaka Monaurail:
Amen, Brother

Unique Records
» unique-rec.com
» osakamonaurail.com
» myspace

Osaka Monaurail: Amen, Brother

Funk aus Japan? Nicht unbedingt die erste Assoziation, wenn man knackige Bläsersätze und tanzbare Rhythmen liebt. Die neunköpfige Truppe Osaka Monaurail wird das ändern: bereits 1992 gründete Nakata Ryo ein Ensemble, das er nach der längsten Einschienen-Bahnlinie der Welt, dem Osaka Monorail und einem Stück der James Brown Band, „It's the JBs Monorail“ benannte. Funkklassiker von James Brown und anderen waren auch die größte Inspirationsquelle der damals noch aus mindestens dreizehn Musikern bestehenden Kapelle, die ihre ersten Liveauftritte bei Schulbällen absolvierte. Erst im Jahr 2000 veröffentlichten Osaka Monaurail ihr erstes Album: "What It Is... What It Was" hieß es und bestand hauptsächlich aus traditionellem Funk- und Soulmaterial, unter anderem einer Coverversion von Isaac Hayes' „Theme from the Men“. Nach einigen weiteren Platten und dem Umzug der Band nach Tokio wurde Marva Whitney, eine Funk- und Soulsängerin, die lange Zeit mit James Brown gearbeitet hatte, auf die Japaner aufmerksam: Whitney engagierte Osaka Monaurail 2006 als Tour-Backingband und nahm ihr erstes Studioalbum seit 36 Jahren mit der Truppe auf. Obwohl Gründer Nakata während dieser Zeit ausstieg, um sich verstärkt seinem Label SHOUT! Records zu widmen, ging es für Osaka Monaurail jetzt richtig los: Seit 2006 touren sie durch Europa – inklusive Ryo Nakata als Livemusiker – mit stetig wachsender Fangemeinde: das Publikum zeigt sich überall begeistert von der Mixtur aus heißem, amerikanisch geprägten Funk und japanischer Zurückhaltung, die tiefe höfliche Verbeugungen nach jedem Applaus beinhaltet. Das gerade bei Unique erschienene Album „Amen Brother“ versammelt vierzehn Tracks, darunter Klassiker wie „Get Ready“, „Signed, Sealed, Delivered, I'm Yours“ oder „Chocolate Buttermilk“, aber auch funky Interpretationen von Popsongs wie „Hey Jude“. Die Bläser sind kraftvoll und auf den Punkt, die Arrangements stimmig: opulenter Big Band-Sound trifft auf zackig-rauen, temporeichen Funk, der Beine und Hüften sofort in Bewegung versetzt – in Osaka und überall.


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  Hauschka: Ferndorf
Hauschka: Ferndorf
Fat Cat / Rough Trade
» hauschka-net.de
» myspace


Hauschka: Ferndorf

Kontrastprogramm: Mit „Ferndorf“ setzt der Pianist und Komponist Volker Bertelmann alias Hauschka dem winzigen Ort im Siegerland ein Denkmal, in dem er mit sechs Geschwistern in ländlicher Idylle aufwuchs. Dass das Wort Ferndorf einerseits nach Utopie klingt und gleichzeitig provinzielle Realität ist, ist nur ein delikates Detail dieser Platte. Hauschkas Instrument ist das präparierte Klavier, er begibt sich also in die Fußstapfen des großen John Cage, der bereits seit den frühen1940er Jahren sein Klavier mit allerlei Gegenständen wie Nägeln, Korken oder Radiergummis spickte, um ihm immer wieder neue, unvorhersagbare Klangeffekte zu entlocken. Vergleiche mit Cage machen Bertelmann/Hauschka nicht nervös, im Gegenteil: „Blue Bicycle“, „Barfuss Durch Gras“, „Eltern“ oder „Neuschnee“ heißen die Tracks auf „Ferndorf“, strahlen mit klassischen Arrangements und raffiniert gesetzten Details melancholische, kontemplative oder lebhafte Atmosphäre aus. Hauschka bezeichnet sich selbst als „Klangforscher“, er liebt das Experiment und beschränkt sich ungern: so lassen sich auf „Ferndorf“ repetitive Minimal-Elektro-Elemente ebenso ausmachen wie klassische Momente, die durch den Einsatz von Celli, Posaune und Geigen noch unterstrichen werden. Es mag wie ein kitschiger Gemeinplatz klingen: Hauschka erzählt mit seiner Musik Geschichten. Sein präpariertes Klavier raschelt, klingelt, trommelt, kann witzig sein oder traurig. „Nadelwald“ mit dunkel-dräuenden Celloklängen und hochflirrendem Klavierplinkern ist ein musikalisches Märchen, „Schönes Mädchen“ vertont Verlegenheit und Aufgeregtsein einer juvenilen Begegnung und „Weeks of Rain“ klingt, ja, genau so.


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  Mjunik Disco – von 1949 bis heute
Mjunik Disco
von 1949 bis heute

Blumenbar
Geb., 232 S., € 32,-
» mjunik.de


Mjunik Disco – von 1949 bis heute

Dieses Buch war dringend nötig – das fand zum Glück auch das Kulturreferat der Landeshauptstadt München, das die Produktion dieses Titels unterstützte. Alle Welt redet immer nur von Berlin als (pop)kultureller Hochburg, Berlin, Berlin, Berlin, man kann es ja schon nicht mehr hören :-) München hingegen hat einen schlechten Ruf, gilt als provinziell und spießig, vor allem aber liegt es im uncoolen Bayern, als sei damit Münchens Schicksal endgültig besiegelt: „Bussigesellschaft“ heißt es, „Schickimicki-Getue“, „Weißwurst-Metropole“, „Wies'n“, „FC Bayern München“, „Uschi Glas“ - nichts als negative Konnotationen. Das ist zutiefst ungerecht, und jede/r, der/die schon mal einige Tage in Minga verbracht hat, weiß das eigentlich auch, nur zugeben würde das niemand angesichts der Coolness-Übermacht Berlins oder – mit Abstrichen – Hamburgs oder Kölns. Dass München resp. Mjunik über eine enorm lebendige, glamouröse und exzessive Club- und Musikszene verfügt, wollte der ehemalige Ballettänzer Mirko Hecktor nicht als ewiges Geheimnis stehenlassen, sondern machte sich an die Arbeit: in „Mjunik Disco“ kommen alle zu Wort, die die kreative Ader der „Weltstadt mit Herz“ (oha, eine positive Bezeichnung!) kennen und mitgestalten. Clubbetreiber, DJs, Szenelegenden, Produzenten, Schriftsteller, Musiker, „Spatzel“: Moritz von Uslars Interview mit dem legendären Klatschkolumnisten Michael Graeter, Vorbild für „Baby Schimmerlos“ aus der Serie „Kir Royal“ ist höchst amüsant und entlarvend, Roderich Fabians Story über die Müllerstraße atmosphärisch dicht. Blättert man den reich bebilderten Band durch, will man umgehend nach München ziehen: gibt es doch dort so tolle Clubs wie die Rote Sonne, das Atomic Café, Vereinsheim und viele mehr – und früher war es noch spektakulärer, wilder: im „Hot Club“ traten nach dem Krieg die ersten Jazzbands auf, über das Big Apple in der Leopoldstraße sagt Uschi Obermaier: „Wenn ich einen Abend nicht im Big Apple war, dachte ich, ich hätte den Lauf der Welt verpaßt.“ In der Nobeldisco P 1 (benannt nach ihrem Standort in der Prinzregentenstraße 1) vögelten und koksten die Promis auf dem Klo und auf der Tanzfläche (siehe Maxim Billers Text über das P 1), Rockstars wie Mick Jagger und Bryan Ferry bevorzugten „Ediths Why Not“ und das „Tiffany“, in dem Filmemacher Klaus Lemke unter anderem „Idole“ mit Cleo Kretschmer drehte. Patti Smith schreibt in ihrer Geschichte „Munich“ über einen Club namens Yes – den es aber Recherchen zufolge niemals gab. Auch das kann München sein: Ort der Imagination und Fantasie. Damit wir an dieser Stelle nicht einfach das ganze Buch nacherzählen, listen wir noch ein paar Namen und Begriffe auf, die das Interesse wecken dürften: Monaco Franze, Chicks on Speed, DJ Hell, Giorgio Moroder, Donna Summer / „I Feel Love“, FSK, Gomma Records, Schwabing, Weißbier, Harry Klein, und und und. Um dem Vorwurf der vorbehaltlosen Schwärmerei vorzugreifen, schließen wir mit Andreas Neumeisters Worten: „An miesen Tagen ist München auch nur Boney M. und Milli Vanilli, auch nur Frank Farian und Ralph Siegel.“ Aber an den guten... schaut selbst nach!


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