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15. Dezember 2008
Ronald Klein
für satt.org

 


Interview mit dem Marzahner Rapper Joe Rilla

Ronald Klein: Als ich „Auferstanden aus Ruinen“ das erste Mal hörte, fiel sofort auf, dass dieses Album keine HipHop-Selbstreferenz aufweist, sondern Geschichten erzählt und Fragen aufwirft. Ein wiederkehrendes Motiv stellt die Ost-Identität dar, die durchaus in verschiedenen Facetten beleuchtet wird. Wie würdest du denn Ost-Identität beschreiben?

Joe Rilla: Erst einmal handelt es sich um ein Gefühl. Ich habe einen Großteil meiner Kindheit und Jugend in der DDR verbracht. Ich wuchs mit Werten wie Aufrichtigkeit und Freundschaft auf, die heute weniger präsent sind. Wir leben jetzt in einer Zeit, in der die Werte allgemein scheinbar den Bach runter gehen. Und dann fängt man an zu analysieren, warum das so ist. Warum denk’ ich so anders als ein großer Teil der Gesellschaft? Das habe ich versucht, mit „Auferstanden aus Ruinen“ zu beleuchten.

Viele Jahre nach der Wende existiert noch immer dieses diffuse Gefühl Ost-Identität, stellenweise stark durch die Medien vermittelt. Ich habe über meine Musikalität versucht herauszufinden, wer ich selber bin. Durch „Auferstanden aus Ruinen“ habe ich erst verstanden, warum ich die Musik eigentlich mache. Vorher hab’ ich auch Alben mit Battle-Rap gemacht, aber bei „Auferstanden aus Ruinen“ war das anders: Da habe ich versucht auf den Punkt zu bringen, wer ich eigentlich bin. Dabei spielt mein so genanntes „Vaterland“, sprich die DDR, die mein „Vaterland“ war und auch immer noch ist, eine ganz große Rolle.

R: Über viele Jahre versuchten Künstler, genau diese Herkunft bewusst auszublenden. Man denke an Rammstein, die viele Jahre zu Feeling B schwiegen. Oder auch Bell, Book and Candle, um nur wenige Beispiele zu nennen.

J: Die Medien vermitteln ein enorm negatives Bild vom Osten. Außerdem bestand die Gefahr, in die „Ostalgie“-Welle reinzurutschen. So versucht man krampfhaft, seine Herkunft zu verleugnen. Was ich aber als falsch ansehe. Ganz im Gegenteil, ich kann stolz darauf sein, dass ich der erste bin, der aus den Marzahner Plattenbauten kommt und was reißt. Als Künstler trage ich ja auch Verantwortung und bin mir einer gewissen Vorbildfunktion bewusst. Wenn die Leute realisieren, dass es jemand aus der Platte ganz nach oben schaffen kann, stellt das auch einen Anreiz für sie selbst dar. Ich hab mir auch den Kopf zerbrochen, warum so viel Jahre, ob nun im Rock, Pop oder HipHop, ostdeutsche Künstler Randerscheinungen blieben.

Auf dem Splash, Europas größtem HipHop-Festival, standen zehn Jahre lang keine ostdeutschen Künstler auf der Bühne. Obwohl es in Chemnitz und Leipzig stattfand! Warum ist das so? Es wurde so getan, als wenn die Szene gar nicht präsent wäre. Aber es kommen ja genügend talentierte Musiker aus dem Osten.

R: Das gilt analog für Berlin. HipHop aus der Hauptstadt wurde anfangs mit den – zugegeben – kongenialen Westberlin Maskulin und später mit Sido oder Bushido assoziiert, aber die Szene im Osten spielte in der Wahrnehmung kaum eine Rolle. Dabei gibt es dort mit Pilskills oder dem Funkviertel, um einige zu nennen, hochwertige Acts mit einer großen Fangemeinde.

J: Ja, genau. Ich betone oft in Interviews, dass ich nicht für mich alleine spreche. Wenn ich von dem Osten spreche, meine ich auch Leute wie V-Mann oder Funkviertel. Musiker, die jahrelang schon im Untergrund sind, aber nie die Ost-Herkunft hochgehalten haben. Wenn ich jetzt von der goldenen Platte rede, dann meine ich, dass ich diese Scheibe nicht für mich, sondern für den Osten geholt habe. In den 90ern haben viele die Ostberliner Rapper auf dem Schirm gehabt. Aber von denen hat es keiner geschafft, präsent zu sein. Woran das liegt, ist mir rätselhaft. Ich wollte das bewusst und habe gesagt, ich geh jetzt damit raus: Ich sage jetzt, dass der Osten rollt – Punkt.

R: Plattenbau ist eben nicht nur Plattenbau Marzahn, sondern das kann genauso Karl-Marx-Stadt sein, Du gehst sogar noch einen Schritt weiter, es kann eben auch Offenbach sein oder...

J: Mühlheim. Genau!

R: Wenn man jetzt nur die Single kennt... „Der Osten rollt“. Ich nehme an, du hast da auch mehr im Blick gehabt?

J: Ja. Na, ich bin ganz ehrlich, am Anfang hatte ich nicht mehr im Blick. Ganz am Anfang ging es nur darum, wie ich es auf „Der Osten rollt“ sage: Ich bringe den Osten zurück auf die Karte. Aber kurz nach der Veröffedntlichung merkte ich, dass mir Leute aus Mühlheim geschrieben haben, die auf einmal auch ihre Siedlung da als Platte definiert haben. Die konnten das genau nachvollziehen. Damit hatte ich gar nicht gerechnet, weil ich natürlich so nicht den Überblick besitze, was für Plattenbausiedlungen es in Westdeutschland gibt. Aber dass das Leute in Hamburg, München, Mühlheim, also aus den verschiedensten Plattenbausiedlungen kommend, spüren hat mich überrascht. Das war natürlich positiv für mich, dass ich nicht nur den Osten erreiche.

R: Du warst 15, als die Mauer fiel. Wie hast du denn das erlebt? Und was hat sich nach dem Mauerfall verändert in Marzahn?

J: Na, ich komm’ ja aus einer behüteten Familie. Meine Eltern hatten aber zur Wendezeit auch Stress, dann gab 's auch die Trennung und ähnlich Einschneidendes. Ich wurde aus dem grauen Osten in den goldenen Westen geschubst. Die Konsequenz war eine immense Reizüberflutung. Du kommst rüber, siehst die Leuchtreklame und auf einmal scheint alles möglich. Du siehst, welcher Luxus da konsumiert wird. Du willst diesen Luxus auch. Ich bin auf die schiefe Bahn geraten in der Nachwendezeit, weil ich nicht zurecht kam, weil ich regelrecht überflutet war von Luxus. Ich wollte das auch haben und am besten so wenig wie möglich dafür tun. Im Osten war sogar der berufliche Werdegang geregelt. Das änderte sich mit der Wende radikal: Keiner wusste, was morgen ist. Das war schon ne verrückte, sehr intensive Zeit bis hin zur Inhaftierung.

R: Wann war das?

J: 1998, 99. So in dem Dreh.

R: Wie wichtig war damals Musik?

J: Ich war Anfang der 90er selber noch Musikkonsument und habe gesprüht. Ich bin durch Graffiti immer mehr in die Illegalität gerutscht. Irgendwann hab ich dann irgendwann festgestellt: dass ich Sachen machen will, die legal sind und das Rappen war im Prinzip genau das richtige, weil ich eh im Hip-Hop drin war. Alle meine Freunde haben Hip-Hop gehört. So kam ich dann zum Rappen.

R: Vorhin hast Du Dich als Künstler mit Verantwortung definiert. Deutscher HipHop leidet unter dem Image, frauenfeindlich und gewaltverherrlichend zu sein. Und viele Sozialarbeiter beklagen, dass die Jugendlichen bestimmte, längst überwunden geglaubte Rollen wieder annehmen, beispielsweise die Emanzipation der Mädchen einen deutlichen Rückschritt erlebt.

J: Ich glaube, dass der Deutsche leider von der Mentalität her sehr schnell für solche Sachen zu begeistern ist. Die Medien sind voll mit nackten Frauen, in den Nachrichten dominiert Gewalt. Die von Dir angesprochenen Rollenklischees funktionieren bei Älteren, und ebenso bei den Kids, gar keine Frage. Deswegen ist es mir als Künstler doppelt wichtig, entsprechend andere Werte zu vermitteln. Auch weil ich zweifacher Vater bin, möchte ich der jüngeren Generation etwas mit auf den Weg geben. Aber ohne den berüchtigten Zeigefinger rauszuholen. Man kann eine Richtung zeigen, und muss den Jugendlichen auch sagen, dass es nicht schlimm ist, zu weinen oder Schwäche zu zeigen. Ich merke, dass in Zeiten des Straßen- und Gangsterraps immer mehr Leute davon gefrustet sind, weil sie immer die gleiche Soße hören. Ich habe auch nie frauenfeindliche Texte gemacht. Und wer kann denn immer hart und tough sein? Meine Intention ist es, andere Wege aufzuzeigen. Ich gebe der Gesellschaft wieder Augen. Wir tun so, als würden wir im Luxus leben, aber Fakt ist, dass an der Lichtenberger Brücke bei der Lichtenberger Hilfe e. V. jeden Morgen drei-, vierhundert Leute stehen und essen wollen. Vor dieser Armut darf man doch nicht die Augen verschließen. Jeden Morgen fahren zur Rush-Hour tausende Autos vorbei, aber von denen macht sicher keiner Gedanken...

R: Weil man selbst Angst hat, dass man...

J: Genau, die Angst vor dem Abstieg. Die wollen es nicht sehen, weil sie wissen, dass es sie auch ganz schnell treffen kann. Ich finde es wichtig, den Kids die gesellschaftlichen Mechanismen zu erklären. Für mich sind Public Enemy Dichter der Ghettos, die den Ist-Zustand beschreiben. Und um nichts anderes geht es mir.

R: HipHop reflektierte in seinen Ursprüngen soziale Realität. Letztlich wurde aber auch diese Musikrichtung in das Pop-Business integriert.

J: Ich kann mich hinsichtlich der Klischeebildung nicht ausschließen und habe das als Musiker auch durch. Es gab eine Zeit, da trug ich ausschließlich weite Klamotten, aber merkte irgendwann, dass ich einfach nur die Trends aus Amerika kopiere. Irgendwann wollte ich aber keine Kopie mehr sein und habe mich auch mehr auf meine Sprache und meine Herkunft konzentriert. Bei „Auferstanden aus Ruinen“ geht es nicht nur um mich, sondern ich möchte, dass die Leute, deren Geschichten ich erzähle, endlich Gehör bekommen. Ich vergleiche es gerne mit einer Art Journalismus. Ich berichte über meine Gegend und gleichzeitig merken die Leute, dass sie mit ihren Problemen nicht alleine sind. Das ist für mich wichtig.

HipHop mit schicken Autos und Goldkettchen war nie mein Ding. Ich hab das eher in Tracks wie „Boah is' der cool“ ironisiert. In Deutschland wird niemand ein Superstar wie 50 Cent. Alle träumen von der Über-Rap-Karriere, aber ich kenn keinen Rapper in Deutschland, der so drauf ist. Ich selber hab mir ein Haus gekauft und darauf bin ich stolz und das hat auch nichts mit Gangster zu tun, sondern mit Zielstrebigkeit und Ehrgeiz. Ich möchte aber auch nicht verleugnen, dass ich mit den Analphabeten zum Beispiel auch Battle-Rap machte. Da stellte ich mich größer dar, als ich tatsächlich war und habe viel geschauspielert. HipHop ist natürlich auch Entertainment, aber das ist für mich vorbei. Ich erzähl lieber authentische Geschichten, aus denen die Leute was rausziehen können

R: Viele Samples auf „Auferstanden aus Ruinen“ stammen aus den 80ern. Ist das die Musik, mit der Du aufgewachsen bist?

J: Das ist richtig, aber das war gar nicht die primäre Intention, denn dann hätte ich auch City oder Holger Biege sampeln können. Aber ich wollte den Bogen nicht überspannen. Denn die stehen für eine andere Generation, von der ich annahm, dass ich sie gar nicht erreichen würde. Jedoch kommen oft auch Ältere auf mich zu und fragen nach einem Autogramm. Anfangs dachte ich, dass die es für den Sohn oder die Tochter wollen. Aber sie wiegelten dann ab und meinten: „Ich höre zu Hause Ihre Musik“. Ich merkte dann, dass ich ganze Familien erreiche.

R: Der Liedermacher Holger Biege gilt nicht unbedingt als Einfluss-Prototyp bei Rappern. Was legst Du zu Hause so auf?

J: Eigentlich alles quer durch den Gemüsegarten. Ich liebe Musik und daher höre ich mir alles an, und bleibe nicht auf HipHop beschränkt. Wer Holger Biege hört merkt auch, dass Xavier Naidoo nichts Neues macht. Ich höre mir auch gern die neue Udo Lindenberg-Platte an, das ist ein ganz großes Album. „Stark wie zwei“ ist ein Track, bei dem Ich Gänsehaut bekommen, wo ich Tränen in den Augen hab.

R: Deine Musik behandeln zum Teil auch persönliche Erfahrungen, aber ebenso gibst Du denjenigen eine Stimme, die sonst keine haben. Das hat ja eine politische Dimension, wobei das mit den Rechts-Links-Kategorien nichts zu tun hat, sondern eher mit gesellschaftlichen Hierarchien. Das klassische Schema von Oben und Unten. Auch die Ost-West-Debatte besitzt Stellvertreterfunktion.

J: Ja korrekt. Die Musik besitzt eine politische Dimension: Ich mache meine Politik selber. Ich würde mich nie auf eine radikale Seite stellen oder Gewalt propagieren. Aber die Realität zeigt, dass es so etwas gibt, und das darf man nicht ausblenden, sondern muss es auch thematisieren, statt wegzugucken.

R: Du siehst Dich mit Nazi-Vorwürfen konfrontiert. Worauf resultiert das? Glatze und Marzahn?

J: Man braucht immer jemanden, auf den man mit dem Finger zeigen kann. Der Nazi-Vorwurf war etwas, womit ich ehrlich gesagt überhaupt nicht gerechnet habe. Denn ich habe mir nichts dabei gedacht, eine Bomberjacke zu tragen. Das resultiert aus der Graffiti-Zeit. Wir Sprayer haben uns verkleidet, um nicht von der Polizei erkannt zu werden. Irgendwann haben wir uns so angezogen, wie sich die Leute damals in Marzahn gekleidet haben, wie ganz normale Straßenbanger. Viele Leute in Marzahn trugen Bomberjacken, ohne damit eine rechte Gesinnung zu repräsentieren. Es war praktisch: Die konntest du im Winter wie auch im Sommer tragen. Bomberjacke, Glatze und ostdeutsche Herkunft gelten als rechtes Stereotyp. Egal, wie oft ich darlegte, dass ich damit nichts zu tun habe – es half nichts. So etwas will keiner hören. Jetzt habe ich einen Song darüber gemacht: „Deutsch-Rap-Hooligan“, in dem ich das ironisiere.

R: Dabei erzählen doch Deine Songs, die Deinen Werdegang reflektieren, immer wieder von Auseinandersetzungen mit Nazis.

J: Das ist es ja eben, was ich meine. Ich musste in den Bordstein beißen, weil ich sogenannte „Negermusik“ gehört habe. Die Leute können es sich einfach nicht vorstellen, dass zur Nachwendezeit rechtsfreier Raum herrschte. Es herrschte Anarchie, die Neonazis hatten das alles in der Hand. Der ABV und die DDR Polizisten hatten nichts mehr zu sagen, die hatten regelmäßig eins vorn Kopf gekriegt. Über einen Zeitraum von zwei, drei Jahren waren diese Zustände präsent und da hatte niemand was zu melden. Sich als Jugendlicher durchzusetzen und nicht auf die Nazi-Seite zu wechseln, bedeutete Courage. HipHop hat mir da auch viel Kraft gegeben.

R: Gerade beim HipHop gehen Rezensenten davon aus, dass der Rapper unreflektiert eine Position einnimmt. Vielleicht hat es etwas mit dem Authentizitäts-Anspruch von HipHop zu tun. Aber es ist schon auffällig, dass man bestimmten Künstlern die Fähigkeit zur Ironie zugesteht und anderen abspricht, überhaupt eine künstlerische, und damit ja auch distanzierte Perspektive einzunehmen.

J: Genau. Ich glaube, und das gilt auch für AggroBerlin, dass, sobald man versucht, irgendeine Kunstrichtung in Frage zu stellen oder zu bewerten, etwas falsch läuft. Man muss ja Rap nicht mögen, aber wenigstens versuchen, auch HipHopper als Künstler zu sehen. Letztlich sollte man auch bei Gedichten zwischen den Zeilen lesen. Und das gilt ebenso für einen Rap-Text. Heute nimmt man jedes Wort für bare Münze und jedes Wort muss so verstanden werden, wie es gesagt wird. Es wird oftmals auch nicht verstanden, dass viele Texte einen Zustand beschreiben und nicht etwas proklamieren. Wenn ich davon rede, dass die Kinder oder Jugendlichen in Marzahn Ice-Spray inhalieren, um den Kick zu bekommen, dann soll ich nach Release meines Albums Schuld daran sein, dass es getan wird. Anstatt an der gesellschaftlichen Situation etwas zu ändern, werden Platten indiziert. Aber das löst überhaupt keine Probleme!

R: Herzlichen Dank für das Gespräch!

J: Sehr, sehr gerne.



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