It's a Woman's World
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Marianne Faithfull: Easy Come Easy Go Naïve
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Marianne Faithfull: Easy Come Easy Go
Marianne Faithfulls 22. Album wird mit dem Slogan „10 Songs for Music Lovers“ beworben - dementsprechend edel, beinah gediegen kommt „Easy Come Easy Go“ daher. Die Songauswahl (wie schon auf „Before the Poison“ befinden sich ausschließlich Coverversionen auf der Platte) ist exquisit, die Gastmusiker- und -sängerInnen ebenso: wenn Marianne Faithfull einlädt, läßt sich niemand lange bitten, die Liste umfaßt Nick Cave, Chan Marshall alias Cat Power, Sean Lennon, Rufus Wainwright, Antony, Jarvis Cocker und last but not least Mariannes alten Freund Keith Richards. Produziert wurde „Easy Come Easy Go“ von Hal Willner, der bereits für frühere Alben Faithfulls wie „Strange Weather“ verantwortlich zeichnete. Faithfull, die mit unvergleichlichem Fatalismus unlängst in einem Interview zu Protokoll gab, sie wisse durchaus, dass viele Menschen sie gern als „Leiche in einer Bahnhofstoilette, mit der Spritze im Arm“ sähen, beweist mit „Easy Come Easy Go“ erneut ihren Ausnahmestatus im Popgeschäft: ganz Diva, aber unprätentiös, nonchalant und lässig, veredelt sie Songs von Merle Haggard („Sing Me Back Home“), Dolly Parton („Down From Dover“) und Brian Eno („How Many Worlds“) mit ihrem rauchigen Timbre, brüchig und spröde, dabei elegant und voller Lebenslust. Getragene Balladen dominieren auf „Easy Come Easy Go“, aber Marianne Faithfull kann auch rocken: ihre Versionen von „Salvation“, im Original vom Black Rebel Motorcycle Club oder „Crane Wife 3“ (The Decemberists) zeigen eine Künstlerin, für die eine Kategorie wie „Alter“ nicht existiert.
Man sollte unbedingt zur Deluxe-Version von „Easy Come Easy Go“ greifen: auf der beigelegten Bonus-CD befinden sich acht zusätzliche Songs.
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To be Free: The Nina Simone Story Box-Set, 3 CDs + DVD SonyBMG
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To be Free: The Nina Simone Story
„My Baby Just Cares For Me“ - mit diesem Lied, eingesetzt in einem Werbespot für Chanel, wurde Nina Simone 1987 weltberühmt. Doch wie ungerecht, richtiggehend verwerflich wäre es, die 2003 kurz nach ihrem 70. Geburtstag verstorbene amerikanische Jazz- und Bluessängerin auf diesen einen Hit zu reduzieren: bereits 1957 veröffentlichte die als Tochter einer Predigerin und eines Handwerkers geborene Eunice Kathleen Waymon, die sich nach ihrer Lieblingsschauspielerin Simone Signoret benannte, ihr erstes Album. Sozialkritische Songs, die sich explizit mit der Lage der Schwarzen in Amerika auseinandersetzten wie „Mississippi Goddam“ und „To Be Young, Gifted and Black“ machten sie in den sechziger Jahren zur Ikone der Schwarzenbewegung, zu einer Königin des Soul. Wie keine andere Künstlerin zuvor vereinte sie Gospel, Blues, Jazz und Soul und verhalf mit ihren Interpretationen von Traditionals den Schwarzen in den USA und auf der ganzen Welt zu neuem Selbstbewußtsein. Nun ist bei SonyBMG ein sorgfältig zusammengestelltes Box-Set erschienen, das auf drei CDs und einer DVD mit TV-Auftritten und Interviews das Schaffen dieser großartigen Sängerin dokumentiert: über 50 Songs, darunter viele Live-Aufnahmen, zum Beispiel das zuvor unveröffentlichte „Zungo“, Jazz-Klassiker wie „Mr. Bojangles“, Kompositionen von Bob Dylan („Just Like A Woman“) und George Harrison („My Sweet Lord“, „Here Comes the Sun“). Und ja, „My Baby Just Cares For Me“ ist auch dabei.
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Gemma Ray: The Leader Bronzerat / Soulfood
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Gemma Ray: The Leader
Die Musikpresse tut sich schwer mit „The Leader“, dem Debütalbum der aus Essex/Südengland stammenden Songwriterin Gemma Ray: nicht nur das Cover sei scheußlich, auch die Musik sei zu düster, obwohl sich Gemmas Stimme doch hervorragend für fröhlichen Pop eignen würde. In Bezug auf ihre Stimme werden überdies obskure Vergleiche bemüht, sie klinge wie „Norah Jones on Amy Winehouse's drugs“, wie Aimee Mann, die Nick Cave imitiert oder wie PJ Harvey als zusätzliches Mitglied der Shangri-Las. Alles unnötiger Ballast für ein Album, das zwei oder drei Anläufe braucht, sich dann aber als unverzichtbarer Begleiter für die Wintermonate entpuppt. Gemma Rays Musik ist im positiven Sinn unmodisch: eine zeitlose Melange aus 60's-Folk, Blues, Country, Gospel und Soul, angereichert mit Bläsern, Streichern und Autoharp (gespielt von Folkmusikerin Mary Epworth). Die Grundstimmung ist somnambul und melancholisch, immer ein wenig im Surrealen schwebend und in der Tat: durchaus düster. Die dreizehn Songs auf „The Leader“ sind ein Destillat aus den „Sick Sessions“, mehr als fünfzig Stücken, die Ray während eines langen Klinikaufenthalts komponierte. Fast zwei Jahre kämpfte sie gegen eine mysteriöse Krankheit, bis heute weiß sie nicht, woran sie eigentlich litt. Gemma Rays Grenzerfahrungen zwischen Leben und Tod spiegeln sich in Songs wie „On Your Own“, „Name Your Lord“ und „New Life“ wider, doch es gibt auch leichtere, fröhliche Tracks wie „Rise of the Runt“ oder „H-H-Hannah“, die Gemma Rays große stilistische Bandbreite bezeugen. Unser Tipp: nicht von den oben genannten Vergleichen in die Irre führen lassen, sondern Gemma Ray als eigenständige Künstlerin mit Potenzial entdecken!
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Women of Jazz Putumayo » putumayo.com
* Parallele zu Gemma Ray; auch die britische Songwriterin begann im Krankenhaus zu komponieren, damit erschöpfen sich aber die Gemeinsamkeiten.
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Women of Jazz
Zehn amerikanische Jazz-Sängerinnen in der Nachfolge Nina Simones, Billie Holidays und Etta James' präsentiert der aktuelle Putumayo-Sampler „Women of Jazz“. Die vorgestellten Künstlerinnen pflegen den eher traditionellen Jazz, gewagte Experimente wird man hier nicht finden, wohl aber großartige Stimmen und Talente: die prominenteste „Woman of Jazz“ ist sicherlich Cassandra Wilson, von ihr ist eine 40er-Jahre-inspirierte Swingnummer „Lover Come Back to Me“ zu hören, Nicholas Paytons gestopfte Trompete sorgt bei diesem Song für lebhafte Akzente. Melody Gardot aus New Jersey, die das Album eröffnet, begann während eines langen Krankenhausaufenthalts, eigene Songs zu schreiben: ihre Debüt-EP „Some Lessons – The Hospital Sessions“* verschaffte ihr jede Menge Aufmerksamkeit, die sie mit dem Album „Worriesome Heart“ noch verstärken konnte. Das entspannte „Goodnite“ bietet den idealen Background für Gardots prägnante Stimme. Einige andere Sängerinnen widmen sich lieber Jazz-Standards, wie die junge Texanerin Kate Paradise, die eine augenzwinkernde Version von „Mean to Me“ (Original von 1929) abliefert, oder Hope Waits, die Jackie Wilsons „I'll Be Satisfied“ behutsam aufpoliert. Sehr gelungen ist Madeleine Peyroux' Interpretation von Leonard Cohens Klassiker „Dance Me to the End of Love“: Peyroux gelingt es mit traumwandlerischer Sicherheit und Sensibilität, Cohens melancholisches Liebeslied vom weiblichen Standpunkt aus zu intonieren. Unaufgeregter Sampler, der die Hoffnung nährt, die Zukunft des Jazz könnte weiblich sein... wenn sich die Ladies ein kleines bißchen mehr trauen würden!
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Blevin Blectum: Gular Flutter Aagoo / Cargo
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Blevin Blectum: Gular Flutter
Blevin Blectum? Das klingt ähnlich wie Kevin Blechdom, nicht wahr? Und tatsächlich: Lorraine Kelley alias Blevin Blectum und Kristin Erickson alias Kevin Blechdom bildeten bis 2003 das Elektro-Punk-Avantgarde-Duo Blectum From Blechdoms... Bevor die verwirrende Namenansammlung den Blick bzw. das Gehör auf die Musik verstellt, wenden wir uns dem neuen Album der graduierten Elektronikkünstlerin und nebenbei als Tierarzthelferin arbeitenden Frau Blectum zu. BB nimmt auf „Gular Flutter“ eine Mittlerstellung zwischen Natur/Biologie und Technik ein; dass es in dieser Beziehung viele Reibungspunkte gibt, ist deutlich spürbar. Die Platte beansprucht volle Aufmerksamkeit, es zirpt, flirrt, zwitschert, blubbert bis zur Reizüberflutung, dissonante Geräuschkaskaden bilden Melodiefragmente, die im selben Augenblick dekonstruiert werden, in dem sie entstehen. Irrwitzige Tempiwechsel und zittrige Beats machen Tanzbarkeit (Elektro!) obsolet, durch geisterhafte Stimmen und turmhoch geschichtete Samples entsteht eine rundum irritierende Atmosphäre. Manchmal schickt uns Blevin Blectum auf scheinbar harmlose Kinderspielplätze („Mine“, „Squeezed“, „Flowers Fade Fast“) oder läßt mit orientalischen Vibes trügerische Ruhe einkehren („Cygnet“), Tracks wie das paranoid-hypnotische „Real Live Escargot“ und das unheimliche „Retrice“ sind hingegen direkte Angriffe aufs limbische System – und den Oesophagus: der Albumtitel ist ein Begriff aus der Tiermedizin, der hitzebedingtes Pulsieren der Speiseröhre bei Vögeln bezeichnet. Vom Kraken auf dem Außen- bis zu Blevin Blectums fröhlichem Lächeln im Innencover: faszinierend und verstörend.
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Marianne Dissard: L'Entredeux Le pop musik / groove attack
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Marianne Dissard: L'Entredeux
Die in einem pyrenäischen Dorf geborene und heute in den USA lebende Marianne Dissard unternimmt auf ihrem Album „L'Entredeux“ den interessanten (und erfolgreichen) Versuch, französischen Chanson und Americana-Klänge á la Calexico zu verbinden – doch der Reihe nach: Dissards Familie zog in den achtziger Jahren berufsbedingt von Frankreich nach Amerika. Mit 20 geht Marianne nach Hollywood, beginnt ein Filmstudium, lernt Howe Gelb kennen und wohnt bei ihm zur Untermiete. 1994 dreht Dissard die Dokumentation „Drunken Bees“ über Giant Sand, beschäftigt sich daraufhin eingehend mit der Musikszene Arizonas und befreundet sich mit Joey Burns, Ex-Giant Sand und Gründer von Calexico. Dissard ist auf Calexicos Album „Hot Rail“ als Burns' Duettpartnerin zu hören („The Ballad of Cable Hogue“), ihre Liebe zur Musik ist endgültig geweckt. Sie schreibt Songs für ihren Gatten Naim Amor (Amor Belhom Duo), für Giant Sand und Francoiz Breut, singt und musiziert aber nicht selbst. Erneuter Auftritt Joey Burns', der Dissard überzeugen kann, eigene Stücke aufzunehmen und diese auch selbst zu singen. Ab 2006 arbeiten Burns und Dissard mit der Unterstützung vieler Gastmusiker an „L'Entredeux“, kombinieren Song und Chanson, verschmelzen cineastischen „Wüstensound“ á la Calexico mit französischer Barmusik. Walzer- und Swingelemente setzen Highlights, homogen verbunden von Dissards dunkelmelancholischer Stimme – entstanden sind zwölf feine „Desert Chansons“, die mal spritzig und „typisch französisch“ klingen wie „Les draps sourds“, spielerisch-federnd („Les confettis“) , zurückhaltend und verträumt („Ce visage-lá“) oder das Gefühl von endloser Weite vermitteln wie „Cayenne“.
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Le Pop / Les Filles le pop musik / groove attack
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Le Pop / Les Filles
Madame Dissard und Francoiz Breut sind auch auf „Les Filles“ vertreten, einem sehr charmanten Sampler aus dem Hause le pop musik: sechzehn traditionelle, moderne, poppige, rockige, balladeske, lustige und wehmütige Tracks bieten einen Überblick über die aktuelle Songwriterinnen- und Chansonszenerie Frankreichs. Fredda setzt mit „Barry White“ dem Satinsoul-Gott ein Denkmal, eine Dame mit dem hübschen Namen Maud Lübeck betont die Vorzüge von Regenschirmen („Le parapluie“) und das Duo Poney Express bezaubert mit ihrem Indiepopsong „Paris de loin“ – egal, ob am Stück oder einzeln genossen: „Les Filles“ ist ein leichtfüßiges und elegantes Album, das perfekte Gegenmittel zum schweren Gänsebraten an Heiligabend.
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Katharina Franck: On the Verge of an Autobiograph
Fluch und Segen der Popularität: obwohl inzwischen mehr als zwanzig Jahre vergangen sind, seit Katharina Franck und ihre damalige Band Rainbirds mit „Blueprint“ einen Riesenhit hatten, wird Franck stets und überall mit diesem Song in Verbindung gebracht – so prägnant war dieses Lied, nicht zuletzt durch ihre unvergleichliche, kraftvolle und klare Stimme. In den Jahren nach „Blueprint“ und dem Ende der Rainbirds versuchte Katharina Franck durch ambitionierte Projekte wie Spoken-Word-Alben und Theaterkompositionen, meist zusammen mit ihrer Freundin Ulrike Haage und FM Einheit von den Einstürzenden Neubauten, das Mainstreampop-Image loszuwerden. Die begeisterte Resonanz auf ihr 2006’er-Album „First Take Second Skin“ zeigte aber, wofür ihre Fans sie am meisten lieben: für anspruchsvollen, trotzdem eingängigen Singer-Songwriter-Pop. Die neue Platte „On the Verge of an Autobiography“ ist ein wenig zwiespältig geraten, wieder ringen mehrere Geister in Katharinas Brust: artifizielle Stücke wie der reztitative Titeltrack, Folk-Blues-Hybriden wie der Opener „San“ und „We Never Blink“ oder das bemüht hardrockige „In My Mouth“ wirken gestelzt, klingen zu gewollt nach Kunstlied. Wie gut Franck als Sängerin, Gitarristin und Komponistin sein kann, unterstreichen Songs wie die mitreißende Indie-Gitarrenperle „Reckless Reckless“, fragile Balladen wie „Things You Must Never Lose“ und „Wind Was Playing With My Hair“ oder die in satten Streicherarrangements schwelgende Nirvana-Coverversion "Something in the Way", die auch als Hommage an die Beatles verstanden werden dar. Fazit: Katharina Franck sollte sich nicht gegen die in ihr schlummernden „Blueprint“-Nachfolger wehren, sondern ihnen freien Lauf lassen!
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Ursula Bogner: Recordings 1968 – 1988 Faitiche
» faitiche.de
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Ursula Bogner: Recordings 1968 – 1988
Zufälle bestimmen der Welten Lauf: im Flugzeug nach Vilnius lernt der Elektro-Produzent und -Musiker Jan Jelinek Sebastian Bogner kennen, Sohn der bis dato völlig unbekannten Ursula Bogner. Beim Plaudern erfährt Jelinek vom ungehobenen musikalischen Schatz, den die bereits 1994 verstorbene Ursula Bogner hinterließ: äußerlich betrachtet ein bürgerliches Leben führend, experimentierte die '46 geborene Bogner, Ehefrau, Mutter und studierte Pharmazeutin, im Keller ihres Einfamilienhauses mit Synthesizern und nahm „incredibly strange music“ auf. Ursula Bogner betätigte sich auch in anderen Bereichen kreativ (Malerei, Linoldruck, siehe Cover), begeisterte sich für die esoterischen Lehren des Sexualforschers Wilhelm Reichs und baute sogar ein Modell des von Reich entworfenen „Orgonakkumulatoren“ nach. Ansonsten standen die Bogners keiner popkulturellen Szene nah, was die auf Jelineks eigens für Bogners Musik gegründetem Label Faitiche veröffentlichten Tracks noch unglaublicher macht: minimalistisches Blubbern, psychedelisches Wabern und elektronische Loops lassen Ursula Bogners Musikexperimente als direkte Vorläuferin späteren Elektros und sogar Techno erscheinen. Nur, dass niemand sie bisher gehört haben konnte. Seltsam, aber so steht es geschrieben: unauffällige Ehefrau fabriziert weitgehend unbemerkt futuristisches, wegweisendes Material, das seinesgleichen sucht. Aber vielleicht stimmt das alles gar nicht und hinter Ursula Bogner verbirgt sich ein deutscher Elektromusiker mit den Initialen JJ? Honi soit qui mal i pense... ob Hoax oder nicht: „Bogners Recordings“ sind allemal eine Entdeckung!
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