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Tonight: Franz Ferdinand Ist es wirklich schon fünf Jahre her, als das schottische Quartett Franz Ferdinand mit seinem Debütalbum die Parameter des Gitarrenrock neu justierte? Hits wie “Take Me Out”, “Michael”, “Darts of Pleasure” oder “Jacqueline” avancierten zu Dancefloor-Dauerbrennern, die das Publikum forderten: man mußte schon auf Draht sein, um bei Franz Ferdinands kühnen Tempo- und Melodiesprüngen nicht aus dem Takt zu geraten. Auf einmal konnte Pop wieder alles sein: smart, tanzbar, stilvoll, augenzwinkernd, genreübergreifend. Der relativ schnell hinterhergeschossene Zweitling “You Could Have It So Much Better” klang zwar noch immer sehr viel besser als so manches Mitbewerber-Album, ließ aber hier und da durchschimmern, dass Franz Ferdinand eben auch nur eine Band mit vier Mitgliedern ist, die auf traditionellen Rockinstrumenten spielt. Die Erwartungen an “Tonight:” könnten nicht höher sein – das Scheitern scheint impliziert, die Musikpresse jedenfalls tut sich schwer: ob das Album wirklich zu empfehlen sei, fragt ein Autor (als ob die Empfehlung per se selbstverständlich wäre), ein anderer vermißt die Hits, an wieder anderer Stelle wird das harsche Urteil gefällt, Franz Ferdinand hätten ein unentschlossenes Werk abgeliefert und man müsse nun geduldig auf Album Nummer vier warten. Also: “Tonight:” ist kein großes Werk, aber eine gute Platte – vom Opener, der ungewohnt düsteren Single “Ulysses” bis zur akustischen Folkballade “Katherine Kiss Me” hört man eine experimentierfreudige Band, die die selbst gesetzten Charakteristika modifiziert: “Ulysses” dröhnt heavy, “Turn it on” und “Bite Hard” sind sixties-orientiert mit verstolperten Beats, in “Twilight Omens” entdecken Alex Kapranos und Co. ihre Liebe zu Abba, “No You Girls”, “Can't Stop Feeling” und “Live Alone” bieten die typischen FF-Merkmale: schneidige Gitarren, Breitwand-Bass, hüpfendes, präzises Schlagzeug, Disco verschmilzt mit Rock. “What She Came For” bricht zum Schluß in wildes Gitarrengetöse aus (remember “Black Betty” von Ram Jam?), Franz Ferdinand zeigen sich einmal mehr als Meister des kontrollierten Exzesses: die Mod-Krawatte wird allenfalls gelockert, aber nie vom Hals gerissen. Die größte Überraschung oder Herausforderung auf “Tonight:”, je nachdem, ist “Lucid Dreams”, das wie ein “üblicher” FF-Song beginnt, um dann in acht Minuten wabernden Progrock mit jeder Menge Hall und Effekten auszufransen. Sagen wir so: die Zugabe bei den kommenden Konzerten wird “Take Me Out” sein, nicht “Ulysses”.
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Antony and the Johnsons: The Crying Light Es ist schon merkwürdig, wenn man mal drüber nachdenkt: Anfang der achtziger Jahre war es vielleicht ein bißchen skurril, aber völlig okay, wenn Popstars die Geschlechtergrenzen aufhoben – Boy George und Culture Club, Marilyn und auch Teeniebands wie Duran Duran trugen Make-Up und fantastische, wenig maskuline Kleidung. Wunderbare Zeiten im Pop: Beautiful People, New Romantics, Nachfahren der ebenfalls exzessiv crossdressing Glamrock-Phase. Ab Mitte der Achtziger zog der Boss-Style in die Popkultur ein, Männer sollten wieder wie Männer aussehen und Frauen wie Frauen. Alles hatte seine “natürliche” Ordnung, Genderfragen spielten keine Rolle, jedenfalls nicht in der Popmusik. Es sollte ganze zwanzig Jahre dauern, bis im Pop wieder Platz war für verwirrende Uneindeutigkeit und Unordnung im Geschlechterhaushalt: als Antony Hegarty 2005 “I Am A Bird Now” veröffentlichte, erkor man den inzwischen 37-jährigen zum Messias der Queer- und Transgender-Community. Und: alle anderen liebten ihn auch. Die Queerness-Phobie der Neunziger scheint überwunden. Alle wollen mit ihm singen, ihre Musik mit Antonys tranzendentalen Vibrato-Falsett schmücken: Marianne Faithfull, Marc Almond, Björk, Current 93, Herbert Grönemeyer, Lou Reed und die Neo-Disco-Band Hercules & Love Affair, alle luden ihn ein und Antony lehnt selten ab – weil es für ihn weder Geschlechter-, noch musikalische Grenzen gibt. Das neue Album von Antony und seiner Band The Johnsons, “The Crying Light”, ist allerdings kein Crossgender-Manifest, sondern ein Manifest für alle, für die Welt, Stadt und Land, die Natur, den Kosmos. Auf dem Cover ist Kazuo Ohno abgebildet, der berühmte japanische Butoh-Tänzer, mittlerweile 102 Jahre alt und wie Antony ein ungreifbares Fabelwesen. Trauer und Hoffnung, Abschied und Neubeginn sind Antonys Themen, schuld am Untergang der Welt ist jahrtausendelanges Patriarchat – Antony wünscht sich eine feministische Revolution, nachzulesen auf seiner Website. “Will there be peace? We need another world, this one's already gone” singt er in “Another World”. Die zehn Songs sind noch minimalistischer arrangiert als auf “I Am A Bird Now”, nur Cello, Piano und Geigen unterstreichen sanft das eigentliche Instrument: Antonys Stimme, die eindringlich ist und doch so zart. “Epilepsy is Dancing” und “Kiss My Name” stechen aus den kammermusikalischen Balladen heraus, klingen fröhlich und leicht – aber Antony ist ohnehin kein depressiver Trauerkloß, sondern jemand, der sich Gedanken macht. Gedanken, für die andere aus lauter Eitelkeit keine Zeit haben.
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Glowing Elephant: Radioactive Creampieces 2008 war das Jahr, in dem Atomic aus Bayern ihr drittes und bisher bestes Album veröffentlichten, das Freunden klassischen britischen Gitarrenpops viel Freude bereitet. Die Marschel-Brüder und ihre Mitmusiker können sich freuen, denn „Coming up from the streets“ ist mittlerweile auch im Vereinigten Königreich erhältlich. Durch das britische Indie-Label „Hedgehog Records“. Ein Erfolg, gegen den Glowing Elephant aus Köln sicher nichts einzuwenden hätten. Schließlich huldigt ihr Debütalbum mit melodieverliebten Tracks wie „Kisses and Greetings“ oder „Smiling is the language“ den Sixties mit seinen Strawberry Fields, Needles and Pins oder den Pictures of Matchstick Men. Die „Initiative Musik“, eine Fördereinrichtung der Bundesregierung für die deutsche Musikindustrie, unterstützt das Quartett, das mit einem Durchschnittsalter von 22 Jahren noch recht jung ist. Lustige Namen für die internationalen Bühnen haben die Musiker auch: Fin Sterny (Gesang, Gitarre), Ronbo (Bass, Gesang), Jymme Luzz (Leadgitarre) und Mitch Holliver (Drums) liefern die Sahnestücke ihres Debüts gleich als Opener. „Bassman`s Gallery“ und „Groovy Groovy“ sind hitverdächtige Ohrwürmer für Musikfans, die gerne mal die „Sgt. Pepper`s“ auf den Plattenteller legen und Sixties-Melodien mit entspannten Bassläufen mögen. Musikalisch wird das auch Beatles-Fans im UK gefallen. Nur: Das Album und der titelgebende Track heißen „Radioactive Creampieces“. Ob das Mutterland dieser Musik mit Wortneuschöpfungen made in Germany etwas anfangen kann?
(Thomas Backs)
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DAT Politics: Mad Kit Möglicherweise ist es eine völlig subjektive und haltlose Einschätzung, aber: ist das Genre „Electroclash“ nicht irgendwie durch? Ist es heute, anno 2009, noch immer so wahnsinnig originell, hektische Beats und gesampelte Soundfetzen mit punkigem Impetus maschinell zu schreddern – hyperaktiv, laut und voll auf die Zwölf?
Als sich DAT Politics 1998 in Lille gründeten und ab den frühen Nullerjahren Platten bei Chicks on Speed Records veröffentlichten, war die Mixtur aus Elektro, Synthie-Pop, Punk und Hardrock noch unverbraucht und witzig: ADHS-Bastard-Pop für Computernerds und partywütige Studenten, was nicht paßte, wurde passend gemacht! Heute scheint die Variationsbandbreite ziemlich begrenzt, hat man das System Electroclash einmal kapiert, kann die -zigste Veröffentlichung nicht mehr wirklich überraschen. Man muß DAT Politics allerdings zugute halten, dass sie auch auf ihrem vierten Album „Mad Kit“ mit hemmungslos guter Laune und nicht versiegender Spielfreude zugange sind: es fiept und bleept, als gäbe es kein Morgen (und vor allem kein Gestern!). Tracks wie „M.A.D.K.I.T.“, „Step Back“ und „Bloc Newton“ vermögen – laut aufgedreht - auch heutzutage noch, die Nachbarn von ihren Sofas zu rocken. Hier und da gelingen DAT Politics hinreißende, cheesy Euro-Disco-Perlen im Eighties-Sound wie „Bad Dream Machine“: mit französischen Akzent gezirpte Zeilen wie „I realize I was stuck in a giant bad dream machine“ machen viel Spaß und entspannen die überreizten Nerven. Das Presseinfo preist „Mad Kit“ als „Soundtrack zu einem wilden Computerspiel“ an – ja, das paßt: aber zu einer frühen Version von PacMan als zu Grand Theft Auto.
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