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Wozu wird eigentlich über Musik geschrieben? Wer will zum hundertsten Mal lesen, ob Musiker A Song B unter Einfluss von C geschrieben hat, mit wem er oder sie sich vor, nach oder bei der Arbeit vergnügt hat oder auch nicht, welcher Guru irgendwann ins Leben trat oder wieder in die Wüste geschickt wurde? Wirklich wichtig ist, was die Musik mit ihren Hörern macht, wozu sie getrieben (Individualität) oder wovon sie abgehalten werden (Konformität). Lester Bangs (1948 - 1982), amerikanischer Rockkritiker für den Rolling Stone, Creem und Village Voice, ebenso Musiker, ausgiebiger Drogennutzer und Trinker, hat knapp über zehn Jahre so subjektiv über Rock 'n' Roll geschrieben, wie das überhaupt geht. Bangs, Prediger ohne Kanzel, war ein großer Lober. Über seine geliebten Proto-Punks Count Five lesen wir: »Sobald Psychotic Reaction von den Wänden zurückknallte, brannte ich wie ein armer Junge voller Port oder Tokajer vor sinnloser Freude, während ich um den Plattenspieler herumhüpfte und stampfte. Und selbst wenn ich gewollt hätte, ich hätte mich nicht hinsetzen können«. Bangs konnte genauso gut ein fürchterlicher Verreißer sein. Über einen im Vergleich zu den Count Five ungleich Prominenteren meinte er: »Nun ist David Bowie, wie dem treuen Leser dieses Magazins sicherlich bekannt ist, nie mein Held gewesen. Ich fand diese ganze Ziggy-Stardust-Homo-vom-Adelbaran-Geschichte schon immer scheiße, vor allen Dingen, weil sie von einem Typ stammte, der noch nicht mal ein verdammtes Flugzeug besteigen wollte. Meiner Meinung nach hat er die absolut schlechtesten Texte geschrieben, die ich, mit Ausnahme von Bernie Taupin, je von einer Popikone gehört habe«. Die Count Five hier, David Bowie da. Klar, wo Lester Bangs seine Trennlinien zog. Rockstartum war ihm zuwider, er setzte lieber auf geniale Unzulänglichkeit. Obwohl Bangs gelegentlich selber einen leicht kosmischen Stil pflegte, hielt er eher wenig von Esoterik und Hippietum. Wichtiger war Verstärkerdröhnen und überhaupt der ganze große ekstatische Krach: »Nun, ich habe nie aufgehört, Lärm zu mögen. Von Little Richard, Cecil Taylor und John Cage bis zu den Stooges«. Genauso liebte er Van Morrison. Und sein Artikel über »Astral Weeks« zeigt vielleicht am besten, was einen Bangs-Text ausmacht. Er wollte die Musik nicht bitterernst nehmen, aber es gab Alben, da musste er es einfach. Bangs also schreibt ziemlich ausführlich, was ihm Morrisons Platte in einer persönlich harten und unglücklichen Zeit bedeutet hat, erinnert sich an drei Fernsehübertragungen des Iren, die er gesehen hat, bis er philosophisch wird. Aber es ist doch nur Rock 'n' Roll, möchte man ihm zurufen. Nein, das ist es gerade nicht. Man muss nicht bis ins kleinste Detail wissen, durch was Bangs damals gegangen ist, um anzuerkennen: So schreibt kein Tagwerker, so schreibt ein Schriftsteller: »Vielleicht ist der stumpfste Knirps klüger als jemand, der erlaubt, dass seine Sensibilität ihn dazu bringt, alles zu zerstören, was er berührt – aber den Hut von Madame George [Song auf Astral Weeks über eine Drag Queen] zu lüften, nur um zu erkennen, dass diese Person existiert, seine Wange zu berühren und dann vermutlich zu erlöschen, weil die Feststellung, dass man die Welt mit ihm teilen muss, so ultimativ unerträglich ist, ist nur der erste Schritt. Die Feststellung, dass das Leben so gering ist und so verherrlicht und so unerträglich und so heiß ersehnt. Bitte komm zurück und lass mich allein. Aber wenn wir alle zusammen allein sind, können wir solange wir wollen über die Universalität dieses Abgrunds reden«. Danach die unglaubliche Beschreibung der Privatsphäre als »letzten Besitz der Besitzlosen«. Dass das 1979 geschrieben wurde, sei schlicht erwähnt und braucht keinen Zusatz. Man sollte gar nicht erst versuchen, Lester Bangs zu imitieren. Nicht seinen Stil und schon gar nicht sein Leben, das ein kurzes und ungesundes war. Einen Roman vorzulegen, wie es ihm zum Schluss vorschwebte, ist ihm nicht mehr vergönnt gewesen. Lesen dafür sollte man seine Texte über die Stooges, The Clash, Kraftwerk, PIL und weiße Punks, die nichts mit Soul anfangen können. Nicht zu vergessen »Wo warst du, als Elvis starb?«, seinen großartigen Nachruf auf den King aus Tupelo, Mississippi. Man wird die Musik danach mit anderen Ohren hören und der Welt auf andere Art und Weise gegenübertreten. Mutiger, weil wissender. Übrigens, eins von Bangs Lieblingsalben war Charles Mingus' Jahrhundertwerk »The Black Saint And The Sinner Lady«. Wer jetzt süffisant bemerkt, dass das kein Wunder sei, würden doch die Linernotes von Mingus' Psychologen Edmund Pollock stammen, kann sich schon mal vorsorglich überlegen, welche Wange er zuerst hinhalten möchte.
Lester Bangs: Psychotische Reaktionen und heiße Luft. |
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