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Blixa Bargeld: Europa kreuzweise. Eine Litanei Residenz Verlag 2009 128 Seiten, € 14,90 » residenzverlag.at
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Blixa Bargeld: Europa kreuzweise. Eine Litanei
Was ist eine Litanei? Der Blick ins Lexikon verrät: eine Litanei (griechisch „Bitte, Flehen“) ist ein gemeinschaftliches Gebet, bei dem ein Vorbeter oder -sänger der Gemeinde Anrufungen Gottes vorträgt, die von den Schäfchen mit gleichbleibenden Worten beantwortet werden. Das kann man im Prinzip endlos wiederholen, bis alle komplett weichgekocht und gebrainwashed sind. Als Blixa Bargeld vom Residenz Verlag um das Verfassen einer „Litanei“ gebeten wurde, mußte sich Herr Emmerich zunächst auch erst einmal informieren, welche Gestalt das von ihm Erwartete haben sollte. Die Idee gefiel ihm gut und BB entschloß sich, die anstehende Europatournee der Einstürzenden Neubauten als Gerüst seiner Litanei zu verwenden. Im Mittelpunkt seiner Beschreibungen stehen aber nicht die Konzerte, sondern: das Essen. Eigentlich ein ähnliches Konzept wie Franz Ferdinand-Sänger Alex Kapranos' Tour-Essen-Tagebuch „Sound Bites“ oder Peter Heins „Geht so“ - zumindest Hein und Bargeld teilen das Schicksal bzw. das Privileg, als Sänger von der Tour-Routine der Band (Soundcheck, Probe vorm Konzert) weitgehend ausgenommen zu sein. Oft reist der Sänger getrennt von der Band an (Bargeld nimmt das Flugzeug, Hein den Fehlfarben-Bus), ist also meist allein unterwegs, hat viel Zeit und kann sich die jeweiligen Auftrittsstädte meist wesentlich genauer anschauen als die Band. Doch (jetzt kommt der große Unterschied) wo sich Peter Hein als raubeiniger Halbproll mit Hang zur „Unterhopfung“ und Leidenschaft für Bielefelder Bockwurst und Bier darstellt, geriert sich Bargeld als Gourmet, Bonvivant und polyglotter Bohemian. Bargeld kennt sich aus – in Museen genauso wie in 5-Sterne-Restaurants. Ob Hering in Göteborg, Safran-Risotto im Bouillabaisse-Sud im Pariser „Hotel Plaza Athénée“ oder Avantgarde-Fantasy-Cooking in Ferran Adriás preisgekröntem Lokal „El Bulli“ bei Barcelona – Bargeld ist entweder überall schon gewesen und wird als Freund begrüßt oder er analysiert schonunglos, ob das ihm vorgesetzte Menü Mist oder Manna ist. Und er hält sich an die Form: litaneiartig fügt er ans Ende jedes Kapitels die Tracklist des jeweiligen EN-Konzerts an, das in jeder Stadt mit „Ich warte“ endet. „Europa kreuzweise“: Für Fans und Bonvivants gleichermaßen geeignet.
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Musikraphics. Visualizing the Rhythm of Music
Über Bücher mit vielen Bildern drin zu schreiben, ist nicht ganz einfach: soll man die Abbildungen aufzählen, beschreiben, interpretieren? Im Fall von „Musikraphics“ ist es ebenso schwierig wie bei einem Kunstband über Gemälde: wenig Text, haufenweise Bilder, aber genau so soll es ja auch sein, wenn es um aktuelle Covergestaltung von CDs geht. Der Grafikverlag viction:ary (im Vertrieb über Gingko Press) hat künstlerisch besonders herausragende Albumcover ausgesucht, die meisten stammen aus den Jahren 2006/07. Die Herausgeber begnügen sich nicht mit reinen Coverabbildungen, sondern widmen sich auch der Booklet- oder CD-Scheibengestaltung, die häufig das äußere Design aufnimmt. Einzelkünstler wie Jonas Voegeli, Rune Mortensen, Tetsuya Nagato (auffallend: skandinavische und japanische Designer geben den Ton bzw. das Bild an) sind ebenso mit ihren Werken versammelt wie größere Agenturen und Künstler-Joint Ventures wie HANDIEDAN oder Hvass&Hannibal. Im Gegensatz zum Coverdesign der frühen nuller Jahre kann man eine internationale Hinwendung zum Figürlichen ausmachen: charakteristisch hierfür ist das an russische Folklore erinnernde, plakativ-bunte Design der finnischen Grafikerin Sanna Annukka für „Under the Iron Sea“, das in 2006 erschienene Album der britischen Band Keane. Viction:ary präsentiert neben Alben auch komplette Werbekampagnen wie z.B. für Mikas Erfolgsplatte „Life in Cartoon Motion“ oder die Flyer- und Posterwerbung für das letzte Album des Schweizer Elektroduos Saalschutz. Wer einen Überblick über aktuelles Produktdesign für Musik bekommen will, sich selbst Anregungen holen oder einfach nur bunte Bilder gucken und ausrufen möchte, „hab ich auch“, sollte hier zugreifen.
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testcard # 18: Regress. Beiträge zur Popgeschichte Ventil Verlag 2009 304 Seiten, € 14,50 » testcard.de
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testcard # 18: Regress. Beiträge zur Popgeschichte
In welcher Epoche befinden wir uns eigentlich? In der Postmoderne? Oder in der Post-Postmoderne? Kategorisierungen dieser Art geschehen ja meist rückblickend – womit wir beim Thema der neuen testcard-Ausgabe wären, die den Titel „Regress“ trägt. Auf dem Cover steckt jemand seinen Kopf vogelstraußmäßig in eine Waschmaschine, um weder nach draußen, vorne oder sonst irgendeine Richtung blicken zu müssen. Ist diese (nackte) Person ein Sinnbild für den derzeitigen Zustand der Gesellschaft? Fakt ist, dass in vielen Bereichen – privat, politisch, kulturell, gesamtgesellschaftlich – regressive Tendenzen zu beobachten sind. Die Sehnsucht nach Traditionen, Werten und einer wie auch immer definierten „guten alten Zeit“ drückt sich in gestiegenen Eheschließungszahlen ebenso aus wie im politischen Desinteresse vieler Jugendlicher; die allgegenwärtige, angstschürende Wirtschaftskrise tut ihr Übriges dazu. Bereits vor zwei Jahren erschien Claudia Pinls Buch „Das Biedermeier-Komplott. Wie Neokonservative Deutschland retten wollen“, in dem die Journalistin Parallelen zwischen heutigen Vorzeige-Konservativen wie Frank Schirrmacher und Matthias Matussek und der „bürgerlichen Revolution“ des Biedermeier während der 1850-er Jahre zieht. Die testcard-AutorInnen, darunter Frank Apunkt Schneider, Torsten Nagel, Johannes Ullmaier, Enno Stahl und Ellen Wesemüller untersuchen unter anderem regressive/reaktionäre Tendenzen im Kino (z.B. anhand des RAF-Films von Edel/Eichinger), in Soziologie, Feminismus und Erziehungsdebatten. Viele Artikel beschäftigen sich mit dem Zustand des modernen Pop und fragen, wo denn das einstige Versprechen von Aufbruch und Revolution geblieben sei. Ex-Ton Steine Scherben-Schlagzeuger Wolfgang Seidel beobachtet klare Rückschritte im Pop seit den sechziger Jahren, Klaus Walter seziert sein Feindbild Morrissey, Chris Wilpert führt ein aufschlußreiches Interview mit der österreichischen Elektro-Songwriterin Gustav und Holger Adam beschäftigt sich mit der regressiven Rezeption junger Folksängerinnen, die von Journalisten gerne als ätherische, weltfremde „Folk-Elfen“ oder „-Sirenen“ dargestellt werden. Höchst interessant auch Sascha Seilers Text über Kanonbildung in der Popmusik – welchen Sinn haben derartige Einstufungen von Popmusik und vor allem: wer bestimmt den Kanon? Martin Büsser fragt, warum die sogenannten „Emos“ besonders unter Spott, Ausgrenzung und gewalttätigen Angriffen zu leiden haben – kaum eine andere Jugendbewegung steht so stark unter dem Beschuß Gleichaltriger wie die introvertierten, androgynen Emos: genau darin scheint der Anlaß für den Haß zu liegen, dem sich die Emos ausgesetzt sehen. Sind also ausgerechnet Jugendliche besonders regressiv und fühlen sich von „effeminierten Weicheiern“ wie schwarzgewandeten Emos (nicht aber Gothics!) provoziert? Insgesamt bietet das aktuelle testcard-Heft wie gewohnt jede Menge interessante Fragestellungen und unverzichtbare Diskussionsgrundlagen.
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