Sampler März 2009
Gleich zwei Label-Jubiläen feiern wir in dieser Sampler-Ausgabe: Shitkatapult aus Berlin können auf hundert Veröffentlichungen in knapp zwölf Jahren zurückblicken, Poker Flat aus Hamburg auf hundert Alben und zehn Jahre Firmenbestehen.
Strike 100
Let there be Knarz, haben sich Marcus Stotz und Marco Haas (= T.Raumschmiere) anno 1997 vielleicht gedacht, als sie ihr Label mit dem distinguierten Namen Shitkatapult gründeten. Die beiden Berliner erweiterten die Bandbreite von Shitkatapult aber schon bald von Knatterelektro (siehe die ersten Veröffentlichungen der Cozmick Suckers) hin zu allem möglichen: Rock, Ambient, Reggae, Indietronics (z.B. Pluramon) – was immer ihnen shitkatapultig vorkam, wurde als „strike“ 1 – x herausgebracht. Seit 2000 ist Sascha Ring alias Apparat mit im Boot, der auch auf Shitkatapult veröffentlicht. Der Jubiläumssampler, selbstverständlich „Strike 100“, vereint die wichtigsten Shitkatapult-Acts wie Das Bierbeben, Warren Suicide, Fenin, Daniel Meteo, Shrubbn!!, Peter Grummich, Anders Ilar und T.Raumschmiere und unbekanntere Künstler wie Schieres oder Dalglish. Einige Tracks wurden extra für „Strike 100“ produziert (z.B. The Orbs „OOPA“ und der Opener von T.Raumschmiere, passenderweise „Lass knattern“ betitelt), andere wie beispielsweise Judith Juillerats „Bo-Peep“ werden erst auf kommenden Alben erscheinen. Shitkatapult haben übrigens die österreichische Singer/Songwriterin Soap & Skin entdeckt und veröffentlichten als erstes Label überhaupt ihren Track „Mr. Gaunt PT 1000“ - auf „Strike 100“ ist sie mit „Brother of Sleep“, einem Song ihres Debütalbums „Lovetune for Vacuum“ vertreten. Die Anschaffung von „Strike 100“ lohnt aus vielerlei Gründen (siehe oben), abschließend sollte man die künstlerisch wertvolle Verpackung erwähnen: die Covergestaltung stammt von Bianca Strauch, die einen herrlich spinnerten Zauberwald mit tanzenden Glüh-Elfen, Eichhörnchen und Fliegenpilzen geschaffen hat.
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All In! 10 Years of Poker Flat
Vor zehn Jahren gründete der Hamburger DJ und Produzent Steve Bug das Label Poker Flat Recordings, nachdem er mit Raw Elements und Dessous erste Erfahrungen im Plattenfirmenbusiness sammeln konnte. Poker Flat sollte außergewöhnlichen Sounds von Minimal Techno bis House eine Heimat bieten und viel Raum für Experimente zulassen. Eine der bis dato wichtigsten PFR-Veröffentlichungen ist Steve Bugs eigene Single „Loverboy“, die nicht zuletzt wegen DJ Kozes Bastard-Remix mit Blumfelds „Tausend Tränen tief“ ein Clubklassiker wurde. Aber Bug bestreitet sein Label nicht allein, Platten von Guido Schneider, Trentemoller, Detroit Grand Pubahs, John Tejada, Hakan Lidbo, Märtini Brös. und vielen anderen mehrten stetig den Ruhm von Poker Flat. Steve Bug fand, dass es nun – nach 23 Longplayern und hundert Singles - an der Zeit ist für ein fettes Jubiläums-Paket und haut mit „All In! 10 Years of Poker Flat“ eine unfaßbar verschwenderisch ausgestattete Compilation raus: luxuriös und limitiert, zwei reguläre und eine Bonus-CD, ein eigens kreiertes Poker-Kartenspiel plus Aufkleberset. Aber auch ohne all den schicken Schnickschnack wäre „All In!“ sein Geld wert: die Zusammenstellung aus exklusiven, klassischen und aktuellen Tracks (insgesamt 30 Stücke) garantiert viele Stunden Kopfnicken, ekstatisches Po-Wackeln und durchgetanzte Schuhsohlen.
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Counter Culture 08
Der erste Rough Trade-Shop wurde 1976 von Geoff Travis in Londons Portobello Road eröffnet – zwei Jahre später gründete Travis das Label zum Shop und hob damit eines der, wenn nicht das wichtigste und populärste Independentlabel aller Zeiten aus der Taufe. Im Lauf der Jahre eröffneten neben weiteren Londoner Shops Rough Trade-Filialen überall auf der Welt, unter anderem in San Francisco, Tokyo und Paris. Doch nicht nur Rough Trade Records, auch die Shops sahen sich den massiven Umwälzungen im Musikbusiness ausgesetzt und die meisten Filialen mußten schließen – zugunsten des RT-Onlineshops. Die Londoner Geschäfte existieren allerdings noch immer und seit 2003 erscheint die Compilation-Reihe „Counter Culture“, die von den VerkäuferInnen zusammengestellt wird. Die 2008-Ausgabe (44 Tracks auf zwei CDs!) besteht aus Verkaufsschlagern, Lieblingssongs der Angestellten, einigen bewährten Acts und Stars-to-come. Auf CD 1 sind vorwiegend ruhigere Tracks zwischen Folk, Singer/Songwriter und Indiepop versammelt: Bon Iver, Peter Broderick, Fleet Foxes, Department of Eagles und The Low Anthem stehen für das eher introvertierte Folk-Genre; Indie-Experimentalisten wie die shooting stars Crystal Stilts, Telepathe, Sic Alps, Zombie Zombie, Koko von Napoo und die fantastischen Vivian Girls arbeiten mit viel Hall, Fuzz und Feedback: die sechziger, siebziger und achtziger Jahre reichen sich die Hände. CD 2 ist insgesamt druck- und kraftvoller, Neo-Hardcore-Punk von The Shitty Limits trifft auf die ambitionierte Elektronik von Alva Noto, Post-Grunge (Gun Outfit, Times New Viking), dunkler Dub-HipHop (Flying Lotus), expliziter Female-Rap von Yo! Majesty und Postpunk-Legende resp. Dub-Funk-Pionier Mark Stewart erfreuten die RT-Shop Assistants und sorgen für einen abwechslungsreichen Galopp durch vieles, was in 08 hot war und in 09 sicher nicht abkühlen wird.
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Nat King Cole: Re:Generations Capitol/EMI
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Nat King Cole – Re:Generations
Als der Jazzpianist und -sänger Nat King Cole 1965 mit nur 45 Jahren starb, hinterließ er ein schon damals klassisches Erbe fantastischer Songs. Seine Tochter Natalie setzte ihrem Vater bereits 1991 mit „Unforgettable“ ein musikalisches Denkmal: ihre Stimme wurde mit der Originalgesangsspur Nat King Coles zu einem rührenden Duett verbunden. Jetzt, siebzehn Jahre später und anläßlich Nat Kings 90. Geburtstag am 17.3., baten Natalies Schwester Carole und der Produzent Michelangelo L'Acqua Künstler der unterschiedlichsten Stilrichtungen ins Studio gebeten, um die Originale der Jazzlegende zeitgemessen „aufzumöbeln“. Man mag sich natürlich fragen, welchen Sinn ein solches Unterfangen angesichts der quasi unverbesserbaren Cole-Stücke hat, das Ergebnis ist zum Großteil aber sehr erfreulich geraten: L'Acqua und Bebel Gilberto verleihen dem „Brazilian Love Song“ das richtige Quentchen Bossa-Groove, Natalie Cole widmet sich zusammen mit Rapper will.i.am (Black Eyed Peas) dem Klassiker „Straighten Up and Fly“, die HipHop-Band The Roots nähert sich „Walkin' My Baby Back Home“ äußerst behutsam, auch Amp Fiddler und Brazilian Girls verändern die jeweiligen Originale kaum, setzen „modische“ Elemente wie elektronische Beats mit großer Zurückhaltung ein. Die ungewöhnlichste Bearbeitung stammt von TV on the Radio, die Coles „Nature Boy“ in den urbanen Dschungel werfen. Insgesamt: sehr schön, aber vor allem durch des Meisters samtene und lang verstorbene Stimme.
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African Reggae | India
Zu guter Letzt wollen wir die Aufmerksamkeit auf zwei neue Veröffentlichungen bei Putumayo lenken: in gewohnt liebevoller Ausstattung, mit mehrsprachigen Linernotes und je zehn Songs stehen im Frühling Afrika und Indien auf dem Programm des Weltmusik-Labels. „African Reggae“ stellt zehn MusikerInnen vor, die hierzulande kaum bekannt sein dürften, aber in ihrer Heimat zum Teil große Stars sind. Reggae hat in den vergangenen Jahrzehnten einen beispiellosen Siegeszug rund um den Globus erlebt, Spuren findet man im jamaikanischen Dancehall, im Ska und in modernem HipHop und R'n'B. Auch im Motherland Africa wird im Namen Jahs experimentiert, traditioneller Roots-Reggae wird mit verschiedenen Stilen von Funk bis Zouk kombiniert. Der relaxte Reggae-Rhythmus eignet sich perfekt für zeitgemäße Ergänzungen – wie man auf „African Reggae“ deutlich hören kann. Künstler wie Serges Kassy von der Elfenbeinküste und Kwame Bediako (Ghana) engagieren sich gegen Rassismus, Bands wie die One Love Family und Ba Cissoko (Guinea) kämpfen für eine gerechte Welt, in der alle Menschen die gleichen Chancen haben. Die sonnige Grundstimmung, die im Reggae - besonders in der afrikanischen Urvariante – stets mitschwingt, mag dafür sorgen, dass viele (Europäer) den Texten nicht viel Gewicht beimessen. „African Reggae“ ist ein guter Einstieg, um das zu ändern.
Danny Boyles oscargekrönter Film „Slumdog Millionaire“ lenkt den Blick der Welt auf Indien, diesen absurd riesigen Subkontinent mit über einer Milliarde Einwohnern, mehr als zwanzig Sprachen und neun Religionen. Kaum ein anderes Land fasziniert Europäer so sehr wie Indien, sei es wegen der Hoffnung auf Erleuchtung durch Hinduismus und Gurus, wegen der ethnischen, kulturellen und klimatischen Vielfalt oder wegen der kitschig-schönen Zauberwelt Bollywoods. Erstaunlicherweise ist „India“ die erste Compilation, die Putumayo zeitgenössischer indischer Musik widmet, wahrscheinlich war es eine herkulische Aufgabe, aus dem (pop-)musikalischen Oevre des modernen Indiens eine Auswahl zu treffen. Da Indien nicht nur starken Einfluß auf internationale Künstler ausübt, sondern indische Musiker ebenso begeistert Elemente und Stilrichtungen aus aller Welt aufgreifen, hören sich die zehn Songs auf „India“ für europäische Ohren nicht besonders fremd an: aus religiös inspiriertem Gesang, traditionellen Instrumenten wie Tabla, Flöten und Sitar entstehen in Kombination mit westlich angehauchtem Popsound sanft-verführerische Balladen wie „Shiva Panchakshara Stotram“ von Sängerin Uma Mohan oder Susheela Ramans „Nagumomo“.
Mit dem Kauf beider CDs tut man gute Werke: ein Teil der Erlöse aus „African Reggae“ geht an die Organisation HOPEHIV, die sich um AIDS-Waisen kümmert, mit den „India“-Erträgen wird die India Foundation for the Arts unterstützt.
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