Bedrohung und Verheißung
Jung sein war schon immer ein Problem. Für sich und für andere. Wie Jugend erst zur Jugend wurde, untersucht Jon Savage in seiner Kulturarchäologie »Teenage«, mit der er jetzt auf Lesereise ist.
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Jon Savage (Foto: Caroline Cowell)
Die gefährliche Musik damals hieß nicht Punk, Rap oder Hip Hop, sie hieß Ragtime, Jazz und Swing. Die elterlichen Sorgenfalten waren trotzdem nicht kleiner. Jon Savage hat für Trikont alte Hits zwischen Subversion und Konsum ausgewählt. Am besten in den Pausen nach ein paar Kapiteln zu hören und daran denken,
dass den Nazis Swing als Entartete Musik galt.
MIT: Gottliebs Orchestra / Original Dixieland Jass Band / The Wolverine Orchestra / Ted
Weems & His Orchestra / Duke Ellington & Cotton Club Orchestra / Luis Russell & His Orchestra / Baron Lee & The Blue Rhythm Band / Chick Webb / The Lunceford Orchestra / Cab Calloway & His Orchestra / Walter Davis / Woody Guthrie / Benny Goodmann & His Orchestra / Slim And Slam / Judy Garland / Harry James & His Orchestra / Judy Garland , Ray Bolger, Jack Haley, Buddy Ebsen, Bert Lahr / Glenn Miller & His Orchestra / Hot Club Frankfurt / Orchestra Swing Jo Reinhardt / Bob Crosby & His Orchestra / Mildred Bailey & The Treasury Ensemble / Frank Sinatra / The Mills Brothers / Louis Jordan / T-Bone Walker.
Jon Savage liest:
- 09.03.09 Hannover - Literarischer Salon
- 10.03.09 Flensburg - Kühlhaus
- 11.03.09 Hamburg - Abaton
- 12.03.09 Berlin - Festsaal Kreuzberg
- 13.03.09 Leipzig – Volkshaus
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Das Schöne am Älterwerden sei, dass endlich niemand mehr einen mit »junger Mann« ansprechen würde, hat Elvis Costello mal sinngemäß gesagt. Das Schöne an der Jugend ist, dass sie fürchterlich ist. Fürchterlich aufregend und fürchterlich deprimierend. Das Allerschönste schließlich: Kaum ein Jugendlicher wird seine Situation reflektieren. Man ist einfach so da, kann das Definieren den Abgeklärten überlassen, der Dinge harren, die kommen werden, sich ausprobieren, verlustieren und verlustig gehen. Aber Elvis Costello hat schon recht. In der Anrede »junger Mann« steckt genauso viel Bewunderung und Neid, wie Herablassung und Verdacht mitschwingt. Älteren Lesern sei ein Selbstversuch empfohlen: Einfach mal am Wochenende nach Mitternacht das Dreieck Eberswalder Straße, Schönhauser und Kastanienallee inspizieren, am besten nach einer Fahrt mit der Partytram, und überprüfen, wie diese seltsame Mischung aus Wehmut und Entsetzen aufsteigt, sobald die sich verschwendende Jugend um die Ecke biegt. Alles halb so schlimm. Die Verklärung jugendlichen Überschwangs ist wahrscheinlich genauso alt wie die augenrollende Klage über Verantwortungs- und Zügellosigkeit.
Jon Savage, Cambridgestudent und Autor der Punkstudie »England’s Dreaming«, Jahrgang 1953, ein Erwachsener also, aber längst kein Abgeklärter, ist auf kulturhistorische Spurensuche gegangen. Er hat sich gefragt, wo das Kulturphänomen Teenager beginnt und welche Vorformen es hatte. Den Teenager, wie wir ihn kennen, lässt Savage 1944 in den USA mit dem Erscheinen der Zeitschrift »Seventeen« auftauchen. »Seventeen« war als Mädchenmagazin konzipiert worden, wie Savage überhaupt sehr oft die Rolle junger Frauen in der sich formierenden Jugend schreibt. Als Zeitraum seiner Untersuchung hat er die Jahre 1875 bis 1945 gewählt, sechs Jahrzehnte, in denen Jugend so gründlich gefeiert, umworben und missbraucht wurde, dass Ivo Andri? im faschistisch okkupierten Belgrad der vierziger Jahre schreiben sollte: »Auch sie hatte das Gefühl, die ersten Feuer einer neuen Zivilisation anzuzünden und die Flammen einer anderen, die ausbrannte, zu löschen. Das Besondere, dass man von ihr sagen kann, ist, dass es seit langem keine Generation mehr gegeben hatte, die mehr und kühner phantasiert und vom Leben, von Genuss und der Freiheit geredet hatte und die dabei weniger vom Leben erhalten sollte, mehr Schiffbruch erlitt, versklavt wurde und zugrunde ging«.*
* aus: Die Brücke über die Drina, 1945. Andrić schreibt über die bosnische Jugend vor dem Ersten Weltkrieg. Die Charakteristik lässt sich universell verwenden.
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Savage beginnt also mit den himmelsstürmenden Träumen der russischen Emigrantentochter Marie Bashkirtseff, die kurz nach Weihnachten 1875 ihr Tagebuch beginnt, in dem sie ausdrücklich »Rache« als ein Motiv ihrer Jugend vermerken wird und konterkariert ihre Geschichte mit der Jesse Pomeroys, eines jugendlichen Mörders aus beschädigtem Elternhaus, der dem jungen Amerika zeigen sollte, dass sein Glücksversprechen eine düstere Kehrseite hatte. Savage untersucht, wo unser Begriff »Hooligan« herkommt, welche Rolle Drogen in einer beschleunigten Moderne spielen, stellt die ketzerische Frage, inwieweit Jugendkriminalität die Hackordnung der Gesellschaft schlicht übernimmt, zugespitzt weniger Abweichung als Regel ist. Er widmet sich der zuerst amerikanischen Traumökonomie, die mittlerweile überall ist, untersucht, wie das Stigma Außenseiter als Auszeichnung übernommen, in Rebellion umgemünzt wird. Er erzählt von Wandervögeln und Neuheiden. Wie jugendlicher Sturm und Drang politisch kanalisiert werden kann, zeigen seine Kapitel über die Hitlerjugend auf bedrückende Art und Weise. Dass es auch anders ging, davon berichtet er am Beispiel der Weißen Rose und der Widerstandsgruppe um Helmut Hübener. Jugend kann also sehr wohl Objekt wie Subjekt der Politik sein.
Dann unternimmt Savage sachdienliche Ausflüge in Kultur- und Ideengeschichte. Arthur Rimbaud, Dichter, Kommunarde und Waffenhändler, tritt ebenso auf wie Goethes Werther und Oscar Wildes Dorian Gray. Der Oscar Wilde, dem Dekadenz und Sozialismus gleichermaßen wichtig waren. Savage schreibt über den Jugend- und Vitalitätskult der italienischen Futuristen. Dass sie sich mehrheitlich bei Mussolini wiederfinden sollten, verschweigt er ebenso wenig wie die Tatsache, dass die Nazis den Begriff »Entartung« nicht erst erfinden mussten. Savages detailliertes, kenntnisreiches und niemals langatmiges Buch über die Jugend ist auch eins über das vergangene Jahrhundert, das so vergangen nicht ist. An all das denkt man natürlich nicht zuerst, wenn man die verlorenen und sich suchenden Kinder der Samstagnacht sieht. Man wünscht ihnen aber eine andere Zeit.
Jon Savage: Teenage.
Die Erfindung der Jugend (1875 - 1945).
Übersetzt von Conny Lösch.
Campus Verlag, 2008
522 Seiten, 29, 90 €
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