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20. April 2009
Christina Mohr und
Robert Mießner
für satt.org

Selbst ist der Punk

Weniger Lederjacken, mehr Frauen: Das Hyped To Death-Label bringt mit »Messthetics#100 - 106« und »Messthetics Greatest Hiss (#110)« schnittigen und schrägen D.I.Y.-Sound ins Haus. Ins Hinterhaus, versteht sich.

Wer wollte, könnte es sich easy machen. Hier die Musik von aberdutzend Habenichtsen aus ganz Großbritannien, die zwischen 1977 und 1984 mit billigen Instrumenten, ohne Rücksicht auf stilistische Grenzen und oft ohne finanzielle Rückendeckung die aufregendste Musik gemacht haben, die jemals verschwiegen worden ist. D.I.Y., Do It Yourself hieß: Kratzende Gitarren, rumorender Bass, deliriöse Keyboards, verweigerter Glamour an der Frisuren- und Klamottenfront, sprich Pullover statt Lederjacke. Dort die großen Namen des Punk, die Dinosaurier gar: The Clash mit ihrem Rebel-Chic oder die Sex Pistols mit ihrem genialen Antreiber Malcolm McLaren im Nacken. Ganz so einfach ist es aber nicht. Den Begriff Do It Yourself als Definition für die Punkästhetik hat Caroline Coon, Journalistin für den Melody Maker, provokante Künstlerin und politische Aktivistin, in die Diskussion eingeführt. Kurz, nachdem im Londoner 100 Club McLarens Punk-Festival über die Bühne gegangen oder besser getobt war. Mit dabei die Sex Pistols und The Clash. Wer also nach dem Hören einer oder mehrerer Messthetics-Sampler »Never Mind The Bollocks« zum Trödler schleppt, kann sich zwar einbilden, das Richtige zu tun. Es bliebe aber falsch.

D.I.Y.. so wie er auf den vom amerikanischen Sammler Chuck Warner betriebenen Hyped To Death-Label vertrieben wird, ist die Sorte Punk, Post-Punk und Indie, der nicht berühmt werden konnte oder wollte. Ein Grund wird gewesen sein, dass die wenigsten der hier versammelten Künstler sich Gedanken gemacht haben dürften, wie Punk klingen darf oder wie nicht. Dafür ist ihnen das Kunststück gelungen, die spartanische und expressive Ästhetik von 1977 bis weit in die Achtziger zu tragen. Die letzte hier vorliegende Aufnahme stammt aus dem Orwelljahr 1984. Wer The Fall und die Swell Maps, Sonic Youth oder die experimentellere Seite von Beck liebt, dem oder der wird einiges hier sogar sehr vertraut vorkommen. Davon befreit, Erwartungen erfüllen zu müssen, wurde D.I.Y. so etwas wie urbane Folklore. D.I.Y.-Künstler sangen über beschissene Tage in der City, Selbstmordgedanken und frühe Elternschaft wie von der Begegnung mit Batman im Waschsalon. Der ganz alltägliche Irrsinn also, der um so drückender ist, wenn man ihn nicht mit Konsum ersticken kann. Da half und hilft nur: Selber aufschreiben, selber zum Mikrofon greifen. In Manchester, London und anderen Städten haben die Unversöhnten das vor auch schon dreißig Jahren getan. Es gibt keinen vernünftigen Grund, ihre Musik als von gestern zu bezeichnen. (RM)

Acht CDs (mit Extra-MP3s, detaillierten Linernotes, umfangreichen Coverscans und unzähligen Fotos) sind bis jetzt erschienen. Die nächsten sechs plus »Pathology« von Gods Gift (siehe #106, Manchester Musicians Collective) und »Fire« von Hardware (siehe #103, Midlands) sind in Arbeit.

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Messthetics 100

Messthetics Greatest Hits:
The Sounds of UK D.I.Y. 1977 - 1980
(Messthetics #100)

Der Messthetics Greatest Hits-Sampler beginnt mit dem fröhlich geträllerten Lo-Fi-Punkgassenhauer »We Love Malcolm« der O Levels – ein Schelm, der dabei an Böses über einen gewissen Mr. McLaren denkt, Impresario der Sex Pistols, die im Jahre 1978 ihren Zenit bereits überschritten hatten. Die O Levels, die sich wie Legionen anderer Punkbands während ihrer Schulzeit gründeten, wurden längst nicht so erfolgreich wie Malcolm McLarens Sexpistolen, waren aber Keimzelle für unter anderem The TV Personalities, die immerhin heute noch existieren. Die Zeitschrift The Wire schrieb über Messthetics Greatest Hits: »Some of the greatest music that never was«. Dass es diese Musik sehr wohl gab und ihre Spuren bis heute nachwirken, lässt sich anhand dieses wunderbaren Samplers nachvollziehen. Zu entdecken: staubtrockener Punk-Rock von den Tronics (»Shark Fucks«), delirierende Prä-PiL-Experimente von Dum Dum Dum (Songtitel ditto »Dum Dum Dum«), wichtige Tipps unter Musikern von Danny & the Dressmakers (»Don’t Make Another Bass Guitar Mr. Rickenbacker«), Pub-Rock mit absurden Texten (Mud Hutters, »All About«), den man mit ein wenig Phantasie als Vorläufer von Art Brut ansehen könnte, und viele weitere vergessene Never-Has-Beens. Eine Schatzkiste voll weird music. (CM)


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Messthetics 101

Messthetics #101 & #102
D.I.Y. And (Very) Indie Post-Punk From London And The Home Counties
1977 - 1981

Wenn die Verfasserin dieser Zeilen etwas im Leben bedauert, dann den Umstand, zu spät geboren zu sein, um den Punkfrühling im London der späten siebziger Jahre und die Post-Punk-Phase kurz darauf hautnah miterlebt haben zu können. Heute hat das natürlich den Vorteil, mindestens zehn, fünfzehn Jahre jünger als die Protagonisten von ’77 - ’81 zu sein, aber ein Stachel bleibt... Die Messthetics-Sampler #101 und #102 helfen dabei, den kreativen spirit jener Zeit nachzuvollziehen: Fiebriger Funk-Punk der Different I’s (»This Week«, »Drive Your Car to the Middle of Your Brain«), Joy Division-inspirierter Wave von Acid Drops (Songitel »Distance«, sic!), das clowneske »Sing Song« von Tea Set oder Post-Glam von den Astronauts (»We Were Talking«) schaffen ein lebendiges Bild davon, wie dehnbar die Begriffe (Post-)Punk, Wave, Indie verstanden wurden – und dass stilistische Einschränkung schon immer rückschrittlich war. (CM)


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Messthetics 103

Messthetics #103
D.I.Y. And (Very) Indie Post-Punk From The Midlands
1977 - 1981

Die lauteste der ganzen Reihe, sagt das Label. Und eine mit Nachleben. Aus den Prefects, einer Band, deren Sänger Robert Lloyd sich schon mal auf der Bühne rasierte und die Support für The Clash und die Slits waren, wurden die Nightingales, die momentan durch Deutschland touren.* Die Prefects, es gibt Stimmen, die halten sie für die wahren Erfinder des Post-Punk, sind hier mit »Things In General« und »Agony Column«, einer robusten Live-Aufnahme, vertreten. »Aliens In The Sky« der Digital Dinosaurs ist Psychedelic, wie ihn die Sechziger nicht schöner schafften. Fans von Felt kriegen »Newtrition«, einen Track der Vorgängercombo Versatile Newts. Wer sich an die Jazz-Punker Pigbag erinnert, wird über Hardwares »Walking« in Verzückung geraten. Wie hätte ein D.I.Y.-Captain Beefheart klingen können? Versucht es mit »Robot« von 021. Nicht fehlen dürfen natürlich die Swell Maps. Dann ist das die CD mit Batman im Waschsalon (besungen von The Shapes). Und weil die Human Cabbages mit »The Witch« nicht reich und berühmt geworden sind, ist erwiesen, dass Geschmack und Verstand nicht erst gestern aus den Charts verschwunden sind. (RM)


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Messthetics 104

Messthetics #104
D.I.Y. And (Very) Indie Post-Punk From The South Wales And The Z-Block Scene 1977 - 81 (Part 1)

Z-Block, das klingt nach harschem Sozialrealismus. Die harmlosere Auflösung ist aber auch ganz schön: Der Z-Block war der Gebäudeteil, in dem die Schüler des Sixth Form College von Crosskeys, einem walisischen Bergarbeiterdorf, den Unterricht schwänzten und wurde der Namensgeber für das Z-Block-Label. Auf dem erschien 1979 mit »Is The War Over?« die erste Cardiff-Compilation, an der sich die Young Marble Giants beteiligten. Die ausgerechnet John Peel ignorierte, als er die ihm am Rande eines Fußballspiels überreichte Platte ansonsten fast komplett im Radio spielte. Die CD bringt von der Debütsingle des Labels »Lifeguard« von Reptile Ranch. Nicht nur, dass Reptile Ranch irre Keyboards in ihren Sound einbauten, sie hatten sogar eine Geige, das Punk-Instrument per se dabei. Auch auf der CD: What To Wear mit dem wunderbaren Power-Pop »We’re The Martians Now« und dem etwas vertrackteren »The Robbery«. Oder Ralph & The Ponytails. Wenn Aki Kaurismäki den nächsten 007 dreht, sollte ihr »James Bond« der Titelsong werden. Vorher gibt’s »Fish« von den Current Obsessions. Und das ist Jazz. (RM)


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Messthetics 105

Messthetics #105
D.I.Y. And Indie Post-Punk From Scotland
1977 - 1981 (Part 1)

Franz Ferdinand, Glasvegas, Primal Scream, Teenage Fanclub, Travis, Fairground Attraction, Simple Minds, Wet Wet Wet, Oi Polloi – die Liste erfolgreicher Bands aus Schottland lässt sich schier endlos weiterführen. Nicht zu vergessen Edwyn Collins' Band Orange Juice, deren Platten auf dem legendären Postcard-Label Anfang der Achtziger für den »Sound Of Young Scotland« standen. Zentren des schottischen Pop sind – wenig überraschend – Glasgow und Edinburgh, auch die meisten Bands auf Messthetics #105 stammen aus diesen beiden Städten: The Fire Engines zum Beispiel (Edinburgh), The Exile (Glasgow), Visitors (E), Jazzateers (G), die Girlpunkband The Ettes (E) und viele mehr. Wenn auch bis heute gern die »Feindschaft« zwischen England und Schottland beschworen wird, in kreativer Hinsicht brauchten schottische Bands den Vergleich mit englischen oder Londoner Gruppen nie zu scheuen (siehe oben) – und manche reagierten mit entwaffnender Chuzpe auf die englische Übermacht wie z.B. die Vertical Smiles, die ihre Single von 1979 einfach »The New Clash Single« nannten... (CM)


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Messthetics 106

Messthetics #106
The Manchester Musicians Collective
1977 – 1982

Das Manchester Musicians Collective (MMC) war anders, ganz anders. Musiker, die von E-Musik wie Jazz kamen, mit Froschmasken auftraten und sich den Stürmern und Drängern aus der Nachbarschaft öffneten: The Fall spielten ihren ersten Gig auf einem MMC-Abend, A Certain Ratio, Fast Cars, The Not Sensible, The Elite / Slight Seconds, Spherical Objects, Passage, Warsaw / Joy Division, Frantic Elevators, sie alle waren Mitglieder des Kollektivs, das mit The Band On The Wall sogar eine richtige Bühne und jede Menge Künstlerinnen an Bord hatte. Unmöglich, so etwas wie den MMC-Sound zu definieren: Die Musik auf der CD ist so exzentrisch wie melodiös. »16 Hours / Time Delay« von Dick Witts Passage, Tony Friel, vormals The Fall, übernahm den Bass, ist 7 Minuten lang. Je nach Stimmungslage lässt sich der Track als klaustrophobisch oder sphärisch beschreiben. Friel konnte auch anders: »Someone Like You« von Contact, an den Drums Karl Burns, ebenfalls The Fall, ist bester Pop. Wer wissen will, was Andy Diagram, der bei David Thomas’ 2 Pale Boys eine entfesselte Trompete spielt, in seiner Jugend gemacht hat, höre sich die Diagram Brothers und Dislocation Dance an. Raue und rhythmische Schönheit aus einer Zeit jenseits von Mode und Moneten. (RM)


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Messthetics 110

Messthetics Greatest HISS (#110)
An Introduction To The D.I.Y. Cassette Scene
1979 – 84

Die Achtziger waren nicht nur das Jahrzehnt, an das sich, wer dabei war, nicht mehr erinnern kann. Sie waren das Jahrzehnt der Kassette, des ultimativen D.I.Y.-Mediums. Das Sounds-Magazin ging sogar so weit, dem Journalisten und Autor Mick Sinclair mit Cassette Pets eine monatliche Kassettenkolumne einzuräumen. Sinclair hat auch die Linernotes zu Messthetics #110 geschrieben. Einer, der selber dabei war, spricht von Reisen zu den Grenzbereichen von Noise und Popsongs, die in einer besseren Welt von Millionen gepfiffen worden wären. Beides wird auf der CD großgeschrieben. Colin Potters »Power« ist, verglichen mit dem, was er als Klangalchimist bei Current 93 und Nurse With Wound tun sollte, fast noch Industrial Pop. Richtiger Pop kommt wieder von den Digital Dinosaurs mit »Baby Snakes«. Funhouse inspizieren »Teenage Bedrooms«. Bei Cultural Amnesias »Repetition For This World« oder Aconites »The Truth About Cable« fällt der Pop dann aber sehr geräuschvoll unter den Tisch: »The Technology Of Control Is The Truth About Cable TV«. Spätestens da fragt sich dringendst, ob die Glotze nicht lieber gegen ein Tapedeck eingetauscht und Nachforschungen in alten Schuhkartons angestellt werden sollten. (RM)

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* Könnte man dereinst die Achtziger aus der Distanz rational betrachten, würden andere, bekanntere Bands als Scharlatane dastehen, während die Großartigkeit der Nightingales verbrieft sei. Meinte John Peel (1939 - 2004). Auf Peel war Verlass. Und wir schreiben 2009. Die Nightingales haben mit »Insult To Injury« ein Album veröffentlicht, das beweist, dass Captain Beefheart Punk war und ist. Man könnte auch schlichter sagen, es ist exzellent. Noch schöner: Im August spielen sie auf dem Klangbad-Festival Scheer. Es kommt noch besser: Vorher touren sie durch Deutschland. Ihre Gäste sind handverlesen und die helle Freude garantiert. (RM)

Nightingales live 2009:

  • 20. April: Wild at Heart, Berlin
  • 21. April: Hafenklang, Hamburg (+ Cpt. Howdy),
  • 22. April: Blue Shell, Köln (+ Another Nice Mess/DJ Marcelle)
  • 23. April: Club Douala, Ravensburg
  • 24. April: 59:1 Club, München
  • 25. April: Cat Café, Ulm
» myspace.com/nightingalesmusic
» myspace.com/revtedchippington
» myspace.com/violetviolet1