Was, Wiederveröffentlichungen von Tocotronic? Das mutet erstmal seltsam an, denn ist diese Band denn nicht noch richtig jung? Jahaha, liebe LeserInnen, das denkt Ihr wohl – genauso wie Ihr glaubt, selbst noch halbwegs jung zu sein! Tocotronics erstes Album „Digital ist besser“ erschien 1995, Kinder, die in diesem Jahr geboren wurden, fangen bald eine Lehre an oder bereiten sich aufs Abi vor, so ist das mit der spiraligen Erinnerung/Zeitrechnung! Im Folgenden soll es weniger um Alter und Verfall gehen, sondern wir wollen ganz schlicht auf die drei auf Tocotronics eigenem Label Rock-O-Tronic erscheinenden Reissues hinweisen:
„Wir kommen, um uns zu beschweren“, drittes Toco-Album aus dem Jahr 1996, auf dem Dirk von Lowtzow, Jan Müller und Arne Zank zu Hochform aufliefen. Subjektivistisch, zornig und voller Verachtung für Kleinkunst und spießige Familienbande gehen Texte und geschrammelte Punk-Gitarrenakkorde eine äußerst vitale Verbindung ein. Zündet auch heute noch, für Revolution und Protest ist es nie zu spät!
„Es ist egal, aber“ (1997) – schon im Titel schwingt Dialektik mit, die in der Folgezeit Tocotronics Musik und Texte bestimmen soll. Die juvenile „Ich“ (bin dagegen/dafür)-Phase ist vorbei, das Gegenüber spielt eine immer wichtigere Rolle. Tocotronic sind musikalisch und inhaltlich reifer geworden, nicht saturierter.
„K.O.O.K.“ (1999): mit dem fünften Album kam der große Erfolg, die Single „Let there be Rock“ (nur echt mit Europes „Final Countdown“-Fanfare) führt auch heute noch zu emotionalen Ausbrüchen bei Jung und Alt. Produziert wurde die Platte von Micha Acher (The Notwist), was zu ambitionierten und selbstverständlich gelungenen Experimenen mit Bläsern und Streichern führte. Die Texte werden schon hier deutlich lyrischer, eine Tendenz, die einige Jahre später beim Album „Pure Vernunft darf niemals siegen“ noch stärker ausgeprägt sein wird.
Tocotronic im eMail-Interview:
Die Re-Releases sehen super aus - ist Euch jetzt besonders feierlich zumute? Schon der Begriff "Wiederveröffentlichung" wirkt ja sehr gewichtig und bedeutungsvoll...
Dirk von Lowtzow: Schön, dass Dir die Aufmachung der CDs gefällt - heutzutage ist das ja ein fast schon anachronistisches Format. Uns ist tatsächlich feierlich zumute, da wir durch die "Wiederveröffentlichungen" unsere alten Alben selber noch einmal neu entdecken, auch wenn diese Konfrontation mit der Vergangenheit teils schmerzlich, teils erheiternd ist. "Gewichtig" und "Bedeutungsvoll" sollte das alles allerdings nicht wirken. Es würde uns schon reichen, wenn unser "Werk" auf diese Art ein wenig vor der Verramschung verschont bliebe.
Wer kam auf die Idee, das Frühwerk neu herauszubringen?
DvL: 2007 hatten wir die Möglichkeit, die Rechte an unseren Alben zurückzuerwerben - was wir auch taten. Somit stand einer Wiederveröffentlichung nichts mehr im Wege. Wir dachten, es sei einfach eine schöne Idee. Die Alben liegen, in popkultureller Zeitrechnung, teilweise schon eine halbe Ewigkeit zurück. Wir fanden es auch reizvoll, einstige und jetzige WeggefährtInnen in den Linernotes zu Wort kommen zu lassen. Für uns ist das wirklich eine schöne Sache, zumal wir unser eigenes Label Rock o Tronic-Records dafür reaktiviert haben und nun wirklich alles komplett in unseren Händen ist.
Tocotronic gibt es jetzt schon sagenhafte fünfzehn Jahre – habt Ihr Euch das jemals vorstellen können? Wie ist das Leben als Band, wenn man schon so lange zusammenspielt?
DvL: Eigentlich gibt es uns zum jetzigen Zeitpunkt schon fast 17 Jahre... die Uhr tickt ja leider weiter. Wie ist das? Schwierige Frage. Es fühlt sich ein bißchen wie eine gut funktionierende Homo-Ehe an. 2005 wurde unser flotter Dreier ja noch durch Rick McPhail erweitert, das hat dem Beziehungsgefüge sicherlich einigen frischen Wind verpasst. Vielleicht sollte man alles nicht zu sehr hinterfragen, man hat Angst, dass dann der ganze Schwindel aufliegen könnte...
Hattet Ihr jemals das Gefühl, dass es an der Zeit wäre, Tocotronic aufzulösen?
DvL: Nein. Natürlich braucht jeder von uns sehr viel Freiraum und muss sich bisweilen vom Mutterschiff abnabeln. Man wird im Alter ja auch immer schrulliger. Man sollte dem eigenen Projekt auch immer mit der nötigen Portion Skepsis und Zweifel begegenen - wir waren sowieso nie die kumpelhaften Typen, die einander, durch die Rockmusik zünftig vereint, abfeierten. Insofern steht "Tocotronic" bestenfalls immer ein wenig "auf der Kippe", aber das ist auch gut so. Sonst wird es uns allzu bequem. Wir suchen immer nach der Erbse unter dem Prinzessinenbett - und meistens werden wir fündig.
Tocotronic scheinen (subjektive Meinung) "mühelos" älter/erwachsen zu werden und Ihr klingt ja heute auch anders als 1995. Werfen Euch das Fans vor, die Euch für "Digital ist besser" geliebt haben?
DvL: Vielen Dank, das ist ein tolles Kompliment. Klar, das ist auch manchmal frustrierend, wenn "Fans" uns vorwerfen, nicht mehr so wie vor fünfzehn Jahren zu klingen. Aber wie sagt der alte Fürst in Viscontis "Leopard": "Dinge müssen sich verändern, damit alles so bleibt wie es ist." Das ist leider die einzige Antwort, die man auf solche, manchmal ehrlich gesagt auch ein wenig heulsusige Vorwürfe parat haben kann.
Eine einzige Frage nach der "Hamburger Schule": hinderliches oder sinnvolles Etikett?
DvL: Blödes Etikett, weil immer falsch verstanden. Wir haben leider mit unserem Lied* zu diesem Mißverständnis beigetragen. Aber so ist es nun mal: Rückblickend ist wahrlich nicht alles Gold, was glänzt im eigenen Schaffen. Doof nur, das man es meist erst später bemerkt.
* „Wir sind neu in der Hamburger Schule“, auf dem Album „Nach der verlorenen Zeit“ (1996)
|
Ich erinnere mich an ein Open-Air-Konzert in Marburg ca. 1996, als Ihr noch relativ unbekannt wart, und die Menge Euch "trotzdem" sehr gefeiert hat - im Publikum fiel der Satz "das sind die Take That der Hamburger Schule". Erinnert Ihr Euch an ähnliche Sprüche, weil es neben der Musik doch auch immer eine Rolle spielte, dass Ihr "Mädchentypen" wart/seid?
DvL: Mir persönlich war dieser Vorwurf immer zu sexistisch, so nach dem Motto: "Mädchen" (an sich schon ein schreckliches Wort, das in der furchtbaren Welt von "Neon" und "Jetzt.de" seine Triumphe feiert) würden bei der Wahl ihrer Lieblingsmusik von Äußerlichkeiten geleitet (wahrlich nicht das schlechteste Kriterium), während "Jungs" stets zum Kern der Sache vordrängen, vereint in ihrem Streben nach Innerlichkeit. Uns war das immer zu spießig. In Wahrheit waren wir immer selber eine Girlband: The Tocorettes.
Gerade am Anfang haben sich Eure sloganhaften, T-Shirt-tauglichen Songtitel festgesetzt - und ein bisschen ist das ja auch heute so (Kapitulation, Sag alles ab). Sucht Ihr nach solchen griffigen Slogans oder kommen die ganz automatisch?
DvL: Das kommt automatisch. Alles andere wäre auch schrecklich, wenn man, wie in einer Agentur, über den passenden Slogans brüten würde. Wir mögens halt gern plakativ und demagogisch, immer in der Hoffnung, dass man sich dadurch auch ein wenig selbst sabotiert.
Neben Tocotronic seid Ihr alle noch in anderen Projekten/Bands aktiv (Bierbeben, Phantom Ghost, Dirty Dishes, DJ Shirley...) - wie findet man wieder zur Band Tocotronic zurück? Müßt Ihr Euch dann wieder aneinander gewöhnen?
DvL: Eigentlich nicht, denn wir sind nie sehr lange voneinander getrennt. Aber natürlich brauchen wir bei jedem neuen Album eine kleine Eingewöhnungsphase. Wir babbeln dann sehr viel anstatt zu musizieren - schließlich machen wir ja Diskursrock. Böse Zungen behaupten, man höre das leider auch. Stimmt aber nicht.
Gab es jemals einen Plan B, also was wäre aus Euch geworden, wenn Tocotronic nur einen schönen Sommer lang getanzt hätten? Lehrer, Maler, Fischer, Fußballprofis...?
DvL: Arne: Chef der "Pixar"-Studios
Jan: Bundespräsident
Dirk: Besitzer einer Herrenboutique in Baden-Baden
Rick: Golfprofi
Welche Songs der früheren Platten (oder gerade der Re-Releases) würdet Ihr nicht mehr live spielen, auch wenn das Publikum danach fordert? (Die Goldenen Zitronen spielen z.B. "Für immer Punk" nicht mehr)
DvL: Da gibt es einige, das kannst Du uns glauben. Speziell die Lieder auf den frühen Alben sind teilweise doch sehr zeitbezogen und eignen sich nicht so gut zur späteren Aufführung. Wir haben grundsätzlich auch ein bißchen Probleme mit dieser Nostalgie bei Rockkonzerten. Aber klar, bei Neil Young will man auch "Like a Hurricane" hören. Grundsätzlich kann man sagen, wir spielen diejenigen alten Stücke sehr gern, bei denen zusätzlich zur Text- und Melodieebene noch eine bestimmte Soundvorstellung, die auch zu viert funktioniert, mitschwingt. Bei manchen alten Liedern funktioniert dieser Übersetzungsvorgang nicht so gut. Und, wie schon erwähnt, manche Lieder gefallen uns auch einfach nicht mehr. Würde man diese aufgrund einer Publikumserwartung dennoch spielen, würde das in totalem Alkoholismus oder der bedingungslosen Drogensucht enden. Die Gefahr besteht ja grundsätzlich im Showgeschäft.
tocotronic.de
myspace
Rock-O-Tronic