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19. Mai 2009
Martin Jankowski
für satt.org

  Xóchil: Perlenkind
Xóchil: Perlenkind
Content Records / Edel Classics
» xochillen.de


Perlenkind

Das Album der Berliner Bühnenpoetin Xóchil ist ein pop-poetischer Sommertraum

Diese Stimme, denkt man gleich beim ersten Track „Vespaboy“. Diese warme Stimme, die so sanft und sehnsüchtig an eine glückliche Sommerliebe zurückdenkt, dass einem ganz heiß ums Herz wird. Dazu die sanft jazzige Musik von Michael Hagel, dem Produzenten dieses Albums, und die leichte, aber eindringliche E-Gitarre Dirk Häfners. „Perlenkind“ ist ein Album zum Träumen schön, sweet soft and lazy wie eine Hochsommerbrise. Irgendwann mischt sich das schwebende Flügelhorn von Nils Wülker hinzu oder die perlende Harfe des Schweizer Melodienzauberers Andreas Vollenweider. Und dann diese Stimme von Xóchil. Da ist nichts gebrochen, ein weiter freundlicher Raum tut sich auf und füllt sich mit frei fließenden Texten über die wirklich wichtigen Dinge dieser Welt. Diese Verse perlen ins Unterbewusstsein wie ein Sommerregen.

In den Stücken singt alles, fließt und weitet sich, und doch singt niemand. Xóchil, die Frau mit der wunderbaren Stimme, ist eine Poetin, bekannt geworden auf den Slam Poetry Bühnen dieses Landes. Nach Hunderten von Auftritten, etlichen Siegen, Preisen und Bühnenprojekten ist sie heute die wichtigste weibliche Protagonistin der deutschen Spoken Word Szene, daher ihre ungeheure Souveränität. Umso erstaunlicher, dass auf ihrem Album nichts laut und routiniert anmutet, im Gegenteil: Alles klingt frisch und berührend, selbst Stücke wie „Flamingo und Gnu“ oder der erwähnte „Vespaboy“, dem Kenner von Xóchils Poesie längst vertraut, klingen in der neuen Fassung überraschend zart und eigenwillig. Neben der Stimme ist es vor allem Xóchils Sprache, die auch ohne Gesang stets so rhythmisch und melodiös dahin fließt, dass sie sich auf geradezu natürliche Weise in die Musik einwebt und man überzeugt ist, hier zwölf Songs zu hören, wo doch „nur“ gesprochen wird. Dieses Album ist von einer Vollblutpoetin gemacht, einer Virtuosin von Stimme und Sprache, wie sie derzeit auf deutschen Bühnen kaum zu finden ist. Und ihre Musiker haben das Potenzial dieser Kunst erkannt und zu etwas Neuem umgesetzt. Auch Chef-Frickler Pit Baumgartner von De-Phazz hat das erkannt und diese Produktion mit perfekten Remixen bereichert. „Perlenkind“ bleibt immer lässig, direkt und leicht, von literarischem Ernst keine Spur, hier treffen sich Pop und Poesie auf höchstem Niveau.

Xóchil (sprich: ßotschill), die zierliche junge Frau, deren Vorname mexikanisch-indianischen Ursprungs ist und Maisblüte bedeutet, heißt tatsächlich so und wurde 1975 in Mannheim geboren. Heute lebt sie als freie Autorin in Berlin und arbeitet nebenher an ihrem Studienabschluss in einem soliden geisteswissenschaftlichen Fach. Gleichzeitig hat sie seit 2000 mehr als 500 Lesungen und Poetry Slams in zahlreichen europäischen Städten absolviert. Sie trat in Funk und Fernsehen im Rahmen von Literatur-, Kultur-, Musik- und Open Air Festivals und Buchmessen auf, performte auf der ZDF-Lyriknacht oder dem Poetry Slam des WDR, der Deutschlandfunk brachte im letzten Jahr ein Hörspiel von ihr. Einige ihrer Texte wurden auch schon von anderen Künstlern verfilmt oder vertont. Höchste Zeit, dass diese außergewöhnliche Künstlerin außerhalb der Subkultur des deutschen Poetry Slams entdeckt wird. Denn während sich diese offenen Dichterwettbewerbe nach amerikanischem Vorbild allmählich flächendeckend über die Kneipen und Clubs deutscher Provinzstädte ausbreiten und immer mehr zum Volkscasting für Low-budget-Comedy-Bühnen mutieren, macht sich Xóchil auf den Weg ins Freie, dorthin, wo Regeln, Zeitlimits und Genregrenzen keine Rolle mehr spielen.

Das ist eine gute Nachricht für die deutsche Popkultur, denn Xóchil könnte man mit ihrem Album durchaus als eine deutsche Antwort auf die britische Poppoetin Anne Clark, der Post-Punk-Heldin der Achtzigerjahre-Melancholie, bezeichnen, wenn – ja, wenn ihre Verse nicht von ganz anderer poetischen Bandbreite und die Musik ganz aus dem hier und jetzt des 21. Jahrhunderts kommen würden. Welcher deutsche Künstler könnte etwa aus einem Gedicht des von den Nazis hingerichteten Theologen Dietrich Bonhoeffer ein lässiges Popstück („Gute Mächte“) machen, ohne dass es steif oder belehrend, sondern im Gegenteil authentisch und zärtlich klingt? Xóchil kann es. „Ich möchte eine Perle sein, kein Mensch“, dichtet sie im Titelstück am Ende ihres Albums. Ihre CD, das steht fest, ist eine! Prädikat für Freunde verträumter Poesie: Unbedingt anhören.