Spirale(n) der Erinnerung:
1959, Goldenes Jahr des Jazz
1959 gilt als eines der bedeutendsten Jahre für den US-amerikanischen Jazz – wenn auch in diesem Jahr mit Billie Holiday und Lester Young zwei wichtige ProtagonistInnen verstarben. 1959 erschienen einige bis heute wegweisende Jazzalben, darunter Dave Brubecks “Time Out”, John Coltranes “Giant Steps” und Ornette Colemans “The Shape of Jazz to Come”. Columbia/SonyBMG veröffentlicht in der “Legacy Edition” zum 50. Jubiläum peu á peu diese Meilensteine wieder, Anfang dieses Jahres erschien bereits Miles Davis' “Kind of Blue” - Davis war 1959 besonders produktiv, im selben Jahr nahm er seine dritte Zusammenarbeit mit dem Arrangeur und Dirigenten Gil Evans, “Sketches of Spain” auf. Ende der fünfziger Jahre war es in Mode gekommen, Jazz mit Elementen aus anderen Stilrichtungen beziehungsweise mit der Musik anderer Länder zu vermischen: Dizzy Gillespie beispielsweise experimentierte mit Latinrhythmen. “The man with the horn” Davis entschied sich für spanische Folklore, der er sich nicht anbiedernd-affirmativ nähert, sondern durchaus spannungsreich, wie man besonders im berühmten Track “Saeta” hören kann. Als Meisterstück des Albums wird häufig das zwölfminütige “Solea” genannt, in dem das 21-köpfige Orchester neben Davis selbst zur Hochform aufläuft – Evans läßt die Musiker immer wieder Flamenco-Elemente einsetzen, ohne dass der eigentliche Jazzcharakter zu kurz kommt. Herz- und Kernstück des Albums ist aber “Concierto de Aranjuez”, Davis' sowohl gefühlvolle wie energetische Interpretation vom klassischen Werk des spanischen Komponisten Joaquin Rodriguez. CD 1 der “Legacy Edition” beinhaltet das komplette Originalalbum, auf CD 2 ist neben Aufnahmen von Proben und einigen Alternate Takes vom “Concierto de Aranjuez” die einzige gemeinsame Liveaufnahme von Evans und Davis zu hören: im Mai 1961 fand dieses denkwürdige Ereignis in New Yorks Carnegie Hall statt. Komponist Gunter Schuller, mit Davis gut befreundet, kommentiert die Aufnahme unterhaltsam und anekdotenreich.
Auch für den Bassisten Charles Mingus war 1959 ein besonders erfolgreiches Jahr: der Anhang zu Mingus' lesenswerter Autobiographie “Beneath the Underdog” (auf Deutsch erschienen in der Edition Nautilus) verzeichnet lapidar “Eines der produktivsten Jahre: diverse Aufnahmen und Alben; einhergehend mit sehr ungesunder Lebensweise: Alkohol, Tabletten, Übergewicht. Langes Engagement im Showplace in Greenwich Village.” Eines dieser “diversen Alben”, das im Zeichen ungesunder Lebensweise entstand, ist “Mingus Ah Um”, das Fans und Kritiker gleichermaßen überraschte. Mingus' Kompositionen klangen zentriert und auf-den-Punkt, Stücke wie “Goodbye Pork Pie Hat”, “Boogie Stop Shuffle” oder “Better Git It in Yo' Soul” (auch bekannt als “Better GET it...” oder “Better Git HIT in...”) gehören zweifelsohne zu seinen besten und auch zugänglichsten Aufnahmen – und zum ersten Mal konnte man zu Mingus' Musik tanzen, ein lebhafter Swing, untermalt von Mingus' herzhaften, seine Mitmusiker anfeuernden Zwischenrufen, durchzieht das gesamte Album. Mit “Goodbye Pork Pie Hat” betrauert Mingus den Tod Lester Youngs, der “pork pie hat” war Youngs' bevorzugte Kopfbedeckung während seiner letzten Lebensjahre. Auf CD 1 der Sony-Legacy Edition befinden sich neben dem Originalalbum “Ah Um” drei Bonustracks (“Pedal Point Blues”, “GG Train”, “Girl of My Dreams”) und eine Alternativ-Aufnahme von “Bird Calls”, CD enthält weitere Alternate Tracks, den Bonustitel “Strollin' (Nostalgia in Times Square)” und das Nachfolgealbum “Mingus Dynasty”, ebenfalls aus dem goldenen Jahr 1959.