Musikbuchsommer 2009, Ausgabe IV
The Kids Are Alright? Waren sie noch nie oder doch? Wir stellen eine Auswahl an aktuellen und älteren Titeln über Jugendkulturen wie Emo, Punk und Skinheads vor; außerdem die brandneue Sonic Youth-Bandbiografie von David Browne …
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Martin Büsser, Jonas Engelmann, Ingo Rüdiger (Hg): Emo. Porträt einer Szene
Ventil Verlag 2009
224 Seiten, 16,90 €
Mit einer Fotostrecke von Jana Nowack
» Ventil
For Further Reading:
Andy Greenwald: Nothing Feels Good.
Punk Rock, Teenagers, and Emo
Viele Autoren des Ventil-Buchs verweisen auf Andy Greenwalds „Nothing Feels Good“ aus dem Jahr 2003 – die bisher einzige umfassende Studie über Emo (Musik und Style) in den USA. Sehr viele O-Töne und kenntnisreiche Artikel über Bands, Label, DIY – lesenswert!
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Emo. Porträt einer Szene
Ein schwieriges Unterfangen: Eine Jugendkultur zu beschreiben, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass ihr kaum jemand angehören will. Keine „Szene“ erfuhr in den letzten Jahren so viel Zulauf wie die sogenannten Emos, kaum eine andere polarisiert aber auch so stark, sogar innerhalb der (mutmaßlich) eigenen Reihen, die sich gegen „Wannabes“ und Mitläufer wehren. Bösartige Anti-Emo-Witze füllen ganze Internetseiten, auf anderen wird halbspaßig zum Emo-Killen aufgerufen. Spott und Häme sind ständige Begleiter der Jugendlichen, die als gefühlsbetont bis depressiv gelten und deshalb als weinerlich verlacht werden. In Deutschland müssen Emos vielleicht nicht wirklich um ihr Leben fürchten, in in anderen Ländern wie Mexiko, Chile und Rußland (siehe Kapitel „Emo International“) fühlen sich brave Bürger und Regierende so sehr provoziert, dass sich Emos massiven Anfeindungen und lebensgefährlichen Prügelattacken ausgesetzt sehen. Kein Wunder, dass auch diejenigen, die durch modische Attribute als Emos erkennbar wären, behaupten, keine Emos zu sein, höchstens mal einer gewesen zu sein, jetzt aber nicht mehr.
Trotz dieser Definitionsprobleme versucht das Ventil-Herausgebertrio Martin Büsser, Jonas Engelmann und Ingo Rüdiger trotzdem, ein Porträt der stetig wachsenden Szene zu zeichnen: der Reader „Emo“ versammelt auf über 200 Seiten Interviews und Essays zum Thema. Es wird deutlich, dass es zwei Schienen gibt, Emo zu verstehen/erklären: die eine beruft sich auf die musikalische Seite, den „Emotional Hardcore“, der seit den achtziger Jahren bekannt wurde, hauptsächlich mit aus Washington, DC stammenden Bands wie Rites of Spring, Fugazi, Dashboard Confessional und Gray Matter (siehe Kristof Künsslers umfangreiche Emo-Discographie am Ende des Buches). Wobei es auch unter den Musikern von Anfang an starke Aversionen gegen den Begriff „Emo“ gab, so wetterte Guy Picciotto von Rites of Spring in einem Interview:
„I’ve never recognized emo‘ as a genre of music. I always thought it was the most retarded term ever. I know there is this generic commonplace that every band that gets labeled with that term hates it. They feel scandalized by it. But honestly, I just thought that all the bands I played in were punk rock bands. The reason I think it’s so stupid is that – what, like the Bad Brains weren’t emotional? What – they were robots or something? It just doesn’t make any sense to me.“
Doch welche Rolle spielt Musik überhaupt für 14-jährige Emos, die sich mit Hello Kitty-Spängchen im Haar und Totenkopf-Buttons an der Jacke vor McDonald´s versammeln? Kennen sie die oben genannten Bands, berufen sie sich auf derlei Historisches oder mögen sie lieber angesagte Acts wie Panic! At the Disco, Jimmy Eat World oder gar Tokio Hotel? Interpretieren in diesem Zusammenhang ältere Musikexperten etwas in die junge Emoszene hinein, das kaum etwas mit der Lebensrealität der Jugendlichen zu tun hat?
Die zweite Erklärungsschiene verfolgt das äußere Erscheinungsbild der Emos (schwarzgefärbte Haare, enge Hosen, Vans und Chucks, aus verschiedenen anderen Styles zusammengesuchte Accessoires/Symbole, Make-up für Jungs und Mädchen, Androgynität) und Charaktereigenschaften wie Depressivität, Gefühlsbetontheit, Weltschmerz, autoaggressive Neigung wie das „Ritzen“, etc.
Das alles ergibt noch keine in sich geschlossene Szene, anders als bei Hip Hoppern, Skinheads oder Rockabillys (siehe unten), die sich über musikalische Vorlieben und klar erkennbare und von anderen Szenen abgrenzbare modische Codes definieren (lassen).
Die AutorInnen umkreisen das Emo-Phänomen aus verschiedenen Richtungen und werfen dabei mindestens so viele Fragen auf wie sie beantworten. Richtig greifbar werden die Emos dadurch nicht – das geschieht vielleicht erst dann, wenn längst niemand mehr Hello Kitty-Buttons neben Totenköpfe pinnt.
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Susanne El-Nawab:
Skinheads Gothics Rockabillies. Gewalt, Tod & Rock'n'Roll
Archiv der Jugendkulturen 2007
Geb., 375 S., 28 Euro » jugendkulturen.de
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Skinheads Gothics Rockabillies. Gewalt, Tod & Rock'n'Roll
Drei Jugendkulturen, die garantiert keine Scheu haben, sich als das zu bezeichnen, wonach sie auch aussehen, stellt Dr. phil. Susanne El-Nawab in ihrem Buch mit dem martialischen Untertitel „Gewalt, Tod & Rock'n'Roll“ vor: Skinheads, Gothics, Rockabillies. Wobei es schon ein wenig gewagt erscheint, Goths mit den harten Jungs und Mädels der Skins und Billies innerhalb derselben Buchklappen abzuhandeln – doch allen drei Gruppierungen gemein ist neben eindeutiger musikalischer Vorlieben die obsessive Beschäftigung mit der eigenen äußeren Erscheinung, Formen der Selbstinszenierung, die alle Emos der Welt blass aussehen lassen. El-Nawab beschränkt sich jedoch nicht allein auf Musik und Outfits, obwohl diese akribisch beschrieben und erklärt werden, sondern versucht mittels vieler Interviews, die Beweggründe, Ideen und Weltanschauungen hinter den Tollen/Glatzen/Vogelnestfrisuren aufzuzeigen. „Toleranz“ ist dabei in vielen Interviews ein immer wieder bemühter, häufig zum puren Lippenbekenntnis verkommener Begriff: Gruftie „Stefan“ erklärt, „Also, ich tolerier' das nicht, irgendwie, wenn ich von Türken blöd angemacht werde, bloß weil ich so 'rumlaufe, wie ich 'rumlaufe – in meinem Land. Ich bin soweit tolerant, bis mich irgendjemand provoziert, nur weil ich so 'rumlaufe oder meine meine eigene Meinung habe. Sonst ist mir alles egal.“ Zum Thema Politik fällt ihm noch ein: „Die Rechten lügen, die Linken lügen, die in der Mitte sowieso. Merken wir ja, wir werden ja von morgens bis abends nur verarscht, von daher würde ich sagen, ich bin nicht politisch.“ Die Äußerungen einiger Skins und Rockabillies zum gleichen Thema fallen erwartungsgemäß ähnlich stammtischmäßig aus, von der Auffassung zu tradierten Geschlechterrollen wollen wir gar nicht erst anfangen – das ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis, die man aus El-Nawabs reich bebilderter Untersuchung (fast alle Fotos sind von ihr selbst bei Konzerten, in Wohnungen, auf Festivals gemacht) zieht: je spektakulärer die äußerliche Inszenierung, desto piefiger die Einstellung...
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IG Dreck auf Papier (Hg): Keine Zukunft war gestern. Punk in Deutschland
Archiv der Jugendkulturen 2008
Geb., 365 S., 28 Euro
» jugendkulturen.de
* Punk in der DDR wird bis auf einige Fotos und die persönliche Story „Born in the GDR“ bewusst ausgeklammert: Die Herausgeber erklären ihre Entscheidung damit, dass es genügend gute Literatur zum Thema gäbe, der sie nichts hinzuzufügen hätten.
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Keine Zukunft war gestern. Punk in Deutschland
Abteilung „von der Szene für die Szene“: Das Herausgeberteam „Interessengemeinschaft Dreck auf Papier“ hat diesen knüppeldicken, opulent bebilderten Band zusammengestellt, der nichts weniger als die Entwicklung von Punk in Deutschland dokumentiert. Da sowohl HerausgeberInnen und die interviewten und vorgestellten Personen Szenegänger, FanzinemacherInnen und selbstverständlich Punkfans sind, sollte man von „Keine Zukunft war gestern“ keine kritisch-theoretisch-historische Untersuchung erwarten, sondern sich einfach volle Möhre auf die vielen Fanzine-, Platten- und Cassettencover, Songtexte und Interviewschnipsel stürzen, gucken, ob man auf den -zig Fotos jemanden „von früher“ erkennt und sich über rührend-bescheuerte Punk-Künstlernamen wie Rudi Krawall oder Tommi Molotow amüsieren. Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Teil A skizziert chronologisch das Aufkommen von Punk in der BRD*, die Bedeutung von BRAVO-Artikeln wird dabei nicht verschwiegen, ebenso die obskure Berichterstattung in der Bunten und anderer Yellow Press-Organe, die schneller und empörter waren als z.B. Sounds... Dazu Erlebnisberichte von den ersten Punkkonzerten in Deutschland, z.B. The Clash in Hamburg, als die Band während ihres Auftritts verhaftet wurde. Ferner detailgespickte Abhandlungen zu Funpunk, Hardcore, Kommerzialisierung des Punkrock, Jugendzentrumszenen; Schwerpunkt liegt auf deutschen Punkbands wie Slime, EA 80, Daily Terror, den Mimmies, WIZO, den Ärzten und den Toten Hosen, die, man glaubt es kaum, ja seinerzeit mal als Punkbands angefangen hatten. Teil B beinhaltet hauptsächlich persönliche Geschichten, wer wurde wann wie und warum zum Punk, etc. Die Hannoveraner Chaostage werden ausgiebig gewürdigt, die unschöne Entwicklung vieler Oi-Skins zu strammen Nazis leider nur ganz kurz. In Teil C werden ehemalige und noch aktive Punks interviewt. Wirkt wie ein liebevoll zusammengestelltes Fotoalbum und führt, wenn auch zu wenigen wirklich neuen Erkenntnissen, doch zu jeder Menge „ach guck mal, so war das damals“-Momenten.
Schöne Zitate: „NDW machte ich dann irgendwie am Eintrittspreis für Konzerte fest. Über 5 DM war NDW.“ (Jochen Bix)
„Mir hat der frühe amerikanische Punkrock um Black Flag und Dead Kennedys eigentlich sehr gut gefallen, nur nicht, dass die Typen aussahen wie Harry. Kein Irokesen-Bewusstsein. Wollten behaupten, dass das Aussehen keinen Einfluss auf den Geist hat – wo doch jede Bewegung weiß, dass gerade das Aussehen auch viel in die Psyche wirkt (....)“ (Mike Spike Froidl aka Don Chaos)
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David Browne:
Goodbye 20th Century.
Die Geschichte von Sonic Youth
KiWi 2009
468 S., € 14,95
Übersetzt von Ralf Niemczyk
» KiWi
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Goodbye 20th Century. Die Geschichte von Sonic Youth
A different kind of youth: Eine minutiöse und detailgenaue Geschichte von Sonic Youth hat der Rolling Stone-Redakteur David Browne zusammengetragen. Seit er die Band 1988 zum ersten Mal interviewte, ließ ihn die Idee, ein Buch über SY zu schreiben, nicht mehr los. Ab 2002 begann er, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, das Ergebnis, knappe 500 Seiten prallvoller Information, liegt nun auch auf Deutsch vor. Browne hat mit hunderten von Leuten gesprochen, außer mit den Bandmitgliedern selbst auch mit den Familien, Weggenossen, Labelchefs, MusikerInnen von Lydia Lunch bis Michael Gira, Freunden, Clubbetreibern und und und. Die Detail- und Namensfülle behindert den Lesefluss nicht, Browne gelingt es, das Besondere an Sonic Youth herauszustellen: die Keimzelle Thurston Moore/Kim Gordon, die im No Wave-geprägten Spätsiebziger- und Frühachtziger-New York versuchten, ihren eigenen künstlerischen Weg zu finden, in dem Musik, Bildende Kunst, Film, Literatur, Mode eine Einheit bilden – mit allen Wirr- und Hindernissen, immer auf der Suche nach dem passenden Schlagzeuger (das war anfangs tatsächlich eins der größten Probleme – bis Steve Shelley auftauchte). Sonic Youth berichten von den ersten, oft frustrierenden Auftritten und Tourneen, dem aufgeschlosseneren europäischen Publikum und dem Unverständnis so manchen Studioinhabers für ihre extravagante Art, Gitarren zu stimmen. Und vom langersehnten und doch überraschenden Erfolg mit „Daydream Nation“, dem Album mit dem Gerhard Richter-Cover, das der Band bis heute kultische Verehrung einbringt. Dass Sonic Youth eine der, wenn nicht die wichtigste und einflussreichste „Alternative“-Band(s) der letzten Jahrzehnte sind, muss an dieser Stelle nicht extra erwähnt werden. Die Lektüre von „Goodbye 20th Century“ lohnt für Verfechter und Zweifler dieser These.
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